An Rosch haSchana werden in den Gebeten des Mussaf drei Bereiche erinnert: Malchujot (Gottes Königstum), Sichronot (Gottes Gedenken) und Schofarot (Schofar). An dieser Stelle wollen wir eine Übersetzung aus dem Jahr 1932 aus den Sichronot wiedergeben, die Rabbiner Max Dienemann veröffentlichte…
Max Dienemann wurde in Posen geboren und studierte in Breslau. Auch wenn er sich selbst als deutschen Patrioten verstand, stand er dem Zionismus offen gegenüber. Dienemann wurde 1919 in Offenbach a.M. zum Rabbiner berufen, wo er bis 1938 blieb. Gemeinsam mit Leo Baeck leitete er den Allgemeinen Rabbinerverein Deutschland. 1935 ordinierte er als erste Frau im Judentum überhaupt Regina Jonas zur Rabbinerin. Nach der nationalsozialistischen “Machtergreifung” wurde Dienemann zweimal in Konzentrationslager interniert, konnte jedoch mit seiner Familie nach dem Novemberprogrom 1938 emigrieren. Max Dienemann starb im April 1939 in Tel Aviv.
Die Übersetzung erschien im Oktober 1932 in der von Julius Goldstein herausgegebenen Zeitschrift “Der Morgen”, die ein breites Themenspektrum aus aufgeklärt-orthodoxer Sicht bediente.
Seiner Übersetzung aus den Neujahrsgebeten stellte Dienemann eine kurze Erläuterung voran:
Die kultische Bezeichnung des Festes [Neujahr, Anm.d.Red.] ist „jaum hasikkoraun“, „Tag des Gedenkens“. Höhepunkt der Liturgie ist ein Gebet, das von Abba Areka, dem Begründer des ersten Lehrhauses in Babylon stammt. Er lebte gegen Ende des zweiten und zu Anfang des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Bekannter noch ist er unter dem Namen, den seine Zeitgenossen ihm gaben: Rab, d. h. „der Lehrer“ schlechthin.
Du gedenkst all dessen, was von Ewigkeit geschehen ist, und hast acht auf alle Geschöpfe seit Anbeginn.
Vor dir liegen offen alle Geheimnisse und die Fülle dessen, was seit der Schöpfung uns verborgen ist.
Kein Vergessen gibt es vor dem Thron Deiner Herrlichkeit und nichts Verborgenes vor Deinen Augen.
Du gedenkst jeglicher Tat und nichts Geschaffenes kann sich vor Dir verbergen.
Alles ist offen und bekannt vor Dir, Ewiger unser Gott, der Du schaust und blickest bis an das Ende der Geschlechter. Du läßt kommen die festgesetzte Zeit des Gedenkens, auf daß gemustert werde jeder Geist und jede Seele und gedacht werde der vielen Werke und der endlosen Fülle der Geschöpfe. Von Anfang an hast Du es kundgetan, und von Urbeginn an hast Du das offenbart.
Dieser Tag ist der Beginn Deiner Schöpfung, Erinnerung an den ersten Tag der Welt; so ist’s Gesetz für Israel, so ist’s eingesetzt von dem Gotte Jacobs.
Über die Reiche wird heute bestimmt, welches Krieg haben wird und welches Frieden, in welchem Hunger sein wird und in welchem Überfluß. Und die Geschöpfe werden heute bedacht, daß über sie gerichtet werde zum Leben und zum Sterben. Über wen wird heute nicht bestimmt? Denn des ganzen Geschöpfes Denken kommt vor Dich, des Menschen Tat und sein Dienst, des Menschen Handeln und sein Schreiten, die Gedanken des Menschen und seine Pläne und Triebe, die ihn zum Tun drängten.
Heil dem Menschen, der Dich nicht vergessen hat, Heil dem Menschensohn, der sich an Dir stärkt, denn die Dich suchen, straucheln nimmer, und nie wird zu schänden, wer auf Dich vertraut, denn aller Geschöpfe Gedenken kommt vor Dich und Du durchforschest ihrer aller Tun.