Zum goldenen Kalb

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Eine in Israel gegründete Gruppe von radikalen Tierschützern hat sich in nur wenigen Monaten in eine globale Bewegung verwandelt. Ihr Ziel: Mit schockierenden Aktionen das Leid von Millionen von Nutztieren aufzeigen…

Von Christa Roth, Tel Aviv

Etwa eine Sekunde lang berührt das heiße Eisen seinen Unterarm. Er schreit vor Schmerzen auf, aber nur kurz. Dann steigt ein wenig weißer Rauch auf. Die Tortur ist vorbei. Wo einst blanke, unverletzte Haut war, klafft  eine tiefe Brandwunde in Form einer Nummer – „269“.

Nur dreieinhalb Minuten lang ist das Video. Drei junge Männer sind darin zu sehen. Wie sie nur in Unterwäsche bekleidet und hinter Stacheldraht sitzend darauf warten, dass schwarz vermummte Gestalten kommen, um sie auf Arm, Brust und Schulter zu brandmarken. Am helllichten Tag. Mitten auf dem Rabin-Platz. Im Herzen Tel Avivs. Auch wenn an jenem Oktobertag 2012 nicht mehr als 20 Schaulustige dabei waren – mithilfe von Youtube verbreitete sich die Aktion schnell: Bis heute wurde das Video bereits über 360.000 Mal aufgerufen.

2-6-9. So lautet die Identifikationsnummer eines schneeweißen Kalbs. Vor knapp zwei Jahren wurde es auf einem israelischen Bauernhof nahe Tel Aviv geboren und sofort gemästet. Um nach nur zwölf Monaten geschlachtet zu werden. Doch das Kalb mit der Nummer „269“ lebt. Weil es im Sommer 2013 von Aktivisten befreit wurde. Und weil ein 27-Jähriger es zum Sinnbild einer neuen, radikalen Bewegung erhoben hat.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass Sasha Boojor deutlich schmächtiger ist als auf den zahlreichen Fotos, die von ihm im Internet kursieren. Im verwaschenen Sweatshirt, mit Dreitagebart mimt er den perfekten Aktivisten: selbstlos, uneitel und höflich. Einer, dem es um die inneren Werte geht, der wenig auf Äußerlichkeiten gibt. Aber Boojor weiß, dass es auf den richtigen Auftritt ankommt. Für ihn ist ein Interview nicht weniger wichtig als eine seiner Performances.

„Ich mag wahnsinnig wirken“, sagt Boojor „aber für mich ist das Brandzeichen überhaupt nicht extrem. Zumindest nicht im Vergleich zu dem, was wir anderen Lebewesen antun.“  150 Milliarden Tiere pro Jahr, schätzt er, werden jährlich malträtiert, nur um anschließend zu Steak, Kotelett und Filet verarbeitet und verspeist zu werden. Wenn mehr Leute wüssten, wie Schlachtvieh behandelt wird, glaubt Boojor, würde nicht nur der Fleischverzehr dramatisch abnehmen. „Kühe sind dauerschwanger“, sagt er, „um Milch zu produzieren, aus der dann Käse, Joghurt oder Butter hergestellt wird. Sie sind täglich an Milchpumpen angeschlossen. Bis zu dem Tag, an dem ihnen ein Bolzenschussgerät den Schädel spaltet.“ Boojor hält kurz inne und fügt schließlich hinzu: „Ihre Körper haben jenseits der Verwertungslogik keine Daseinsberechtigung.“

Mehr als 17 Jahre ist es her, dass aus dem „Fleischfresser“ – wie sich Boojor selbst bezeichnet – erst ein Vegetarier und kurz darauf sogar ein Veganer wurde. „Seit ich Bilder vom einem Schlachthof gesehen habe, bin ich traumatisiert“, erklärt Boojor, der sein Geld unter anderem als Türsteher verdient. Für seine Familie, Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, ist der Verzehr tierischer Produkte allerdings immer noch die natürlichste Sache der Welt. „Ihnen fällt es schwer, diese Gewohnheit abzulegen.“ Tatsächlich haben sie nur wenig Verständnis für Boojors radikalen Lebenswandel. Er lächelt verlegen.

Obwohl Vegetarier in Israel längst für ihr Ernährungsbewusstsein anerkannt sind und inzwischen auch Veganer unter verschiedenen Restaurants in Tel Aviv wählen können, versuchen Tierschützer wie Boojor auch noch den – im besten Fall unwissenden – Rest der Gesellschaft zum Umdenken zu bewegen.

Was 2012 als lokale Initiative „269life“ in Israel begann, ist mittlerweile in über 40 Städten in mindestens 20 Ländern angekommen. In den USA, in Deutschland, Frankreich, aber auch Kroatien,  Argentinien, China und in Iran schlossen sich etwa am 21. März 2013 erstmals eine Vielzahl von Menschen zusammen, um gemeinsam gegen den Konsum von Tieren zu demonstrieren. Seitdem gab es weitere internationale Veranstaltungen, wächst die Aktivistengemeinde. Zum globalen Protest gehört, dass sich bereits über tausend Anhänger die dreistellige Nummer tätowieren ließen. Einige wenige sind noch weiter gegangen: Wie Boojor haben sie sich mit einem Brenneisen misshandeln lassen und eine Verbrennung dritten Grades in Kauf genommen.

Doch während außerhalb Israels eine Welle der Solidarität losgebrochen ist, hält sich der Zuspruch im Land selbst in Grenzen. 269life nutzen verstörende Bilder, um auf das vielfältige Leid in der Nutztierhaltung hinzuweisen. Anfang März 2013 fanden Anwohner in den frühen Morgenstunden das Wasser dreier Springbrunnen in Tel Aviv blutrot eingefärbt sowie je einen Kuh-, Schafs- und Ziegenkopf daneben. Ein nebenstehendes Graffito an jedem Schauplatz erklärte: „Die Wände der Schlachthäuser sind nun durchsichtig“. Am 6. Mai dieses Jahres, Israels Unabhängigkeitstag, an dem viele Israelis mit ihren Familien grillen gehen, schlossen sich auch ein paar 269-Aktivisten der Tradition an. Nur, statt Steak und Hühnchen gab es tote Straßenkatzen, Kaninchen und Ratten.

Wer genau für die Aktionen verantwortlich ist, kann die Polizei nicht immer zweifelsfrei feststellen. Glaubt man 269-Gründer Boojor, will auch er aus der Zeitung von der Brunnenaktion erfahren haben. „Wir sind keine fest organisierte Gruppe. Eher ein loser Zusammenschluss. Ich kenne gar nicht alle, die bei uns mitmachen.“ Auch auf die Frage, wie viele Unterstützer 269 hat, hat Boojor keine Antwort. Erst vor kurzem habe er jemanden auf der Straße mit dem gleichen Tattoo – 269 – gesehen. „Wir haben uns zugenickt. Und obwohl wir uns nicht kannten, fühlten wir uns einander verbunden.“

Radikale Tierschützer in Israel

Neben Aufsehenerregenden Performances gehören vor allem illegale Tierbefreiungsaktionen zum  Repertoire der Gruppe, für die sich immer häufiger auch die Polizei interessiert. Boojor wurde bereits mehrmals verhaftet, sein Handy konfisziert und seine Wohnung durchsucht. Seinen Drang, die Welt zu verbessern, bremsen derartige Einschüchterungsversuche kaum. Im Gegenteil. „Angesichts der Mannstärke und der Kosten, die nicht nur meine Verhaftung bedarf, kann ich, denke ich, mit einiger Gewissheit sagen: Wir treffen hier einen Nerv“, schrieb er stolz auf seine Facebook-Seite. Kurz zuvor hatten er und eine Handvoll Mitstreiter Hunderte Hühner aus ihren Ställen getrieben.

Tierrechtsaktivisten gibt es in Israel nicht erst seit 2012. Zwei der wohl bekanntesten Gruppen – „Anonymous for Animal Rights“ und „Shevi – Animal Liberation Israel“ – sind in der Szene seit Jahren für ihre Kampagnen, Vorträge aber auch Befreiungsaktionen bekannt. 269life hingegen sprengen mit jeder neuen Protestaktion den Rahmen. In einem Fernsehinterview drohte eine Aktivistin einem Restaurantbesitzer mit „ernsthaften Konsequenzen“, sollte er weiterhin Tierprodukte beziehen.

Gewaltaktionen gegen Andersdenkende? Boojor windet sich um eine Antwort, will weder zivilen Ungehorsam um jeden Preis gutheißen noch verteufeln, was der Bewegung helfen könnte. Muss er aber auch nicht – denn vieles spricht für sich. Eintätowierte Nummern auf Armen. Der Geruch von verbranntem Fleisch. Nicht zufällig finden sich Parallelen zur dunkelsten Stunde des 20. Jahrhunderts. Auf seiner Facebook-Seite zitiert Boojor Theodor W. Adorno: „Auschwitz fängt da an, wo einer im Schlachthof steht und sagt: ‚Es sind ja nur Tiere.‘“ Und auf der Website von 269life können Sympathisanten T-Shirts erwerben mit der Aufschrift „Der Holocaust hat nie aufgehört“, darunter ein Foto von Boojors gebrandmarkten Arm.

Neu ist der Vorwurf freilich nicht. „Für Tiere sind alle Menschen Nazis – es ist ein nicht enden wollendes Treblinka“,  heißt es in einem Zitat von Isaac Bashevis Singer, das an Charles Pattersons Buch „Eternal Treblinka“ erinnert. Darin vergleicht er den beginnenden Massenmord an den Juden in den 1940ern mit der heutigen Massentierhaltung.

Zeitzeuge Effi Eyal findet die die Gleichsetzung „inakzeptabel“ und „geschmacklos“. Kunst dürfe vieles, aber nicht die Würde Verstorbener antasten. Polizeisprecher Micky Rosenfeld nannte 269life in einem Zeitungsinterview eine „Sekte“, die ziemlich „extrem“ sei. Ben Baron, der Sprecher der Tierschutz-Gruppe „Shevi“ bezeichnet den Aktionismus von 269life als „aggressiv“. Während Ashley Fruno, die für Nahost zuständige Ansprechpartnerin der Tierschutzorganisation „Peta“, die Tätowierung selbst als „Ehrenabzeichen“ ansieht.

Sasha Boojors Wundheilung hat über einen Monat gedauert. Ein halbes Jahr danach fühlte sich seine Haut rau an. Heute, anderthalb Jahre später, ist das Brandmahl nur noch schwer zu erkennen. Dunkle Armhaare überwuchern es und aus der glänzenden „269“ ist eine wulstige Narbe geworden. Boojor streicht sich gedankenverloren über den Arm. Er ist sich bewusst, dass Nazi-Vergleiche an Radikalität kaum zu überbieten sind. „Aber wenn wir nicht schockieren können“, glaubt er „erreichen wir nichts. Die Leute haben ihre Lektion noch nicht gelernt“.