Geschichte im Nebel

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In der Verfilmung der tschechischen Graphic Novel „Alois Nebel“ taucht aus Nebelschwaden die Vertreibung der Sudetendeutschen auf, deren Unterstützung des Nationalsozialismus bleibt hingegen im Verborgenen…

Gaston Kirsche

Die Umsetzung der seit 2003 in mehreren Bänden in Tschechien erschienenen Graphic Novel „Alois Nebel“ in bewegte schwarz-weiß gezeichnete Bilder ist auf so positive Resonanz gestoßen, dass die Verleihung des Europäischen Filmpreises 2012 auf Malta als „Bester Animationsfilm“ fast ein Selbstläufer war. Im selben Jahr erschien die Graphic Novel auch in deutscher Übersetzung. Nun ist die Verfilmung auch in Deutschland angelaufen.

Bereits vor über zehn Jahren veröffentlichten der Autor Jaroslav Rudiš und der Zeichner Jaromír Svedic den ersten Band der populären Bildgeschichte, die auch eine Debatte um die Bewertung der Beneš-Dekrete ausgelöst hat. Der Protagonist Alois Nebel lebt Ende 1989 als alleinstehender, wortkarger, mürrischer Fahrdienstleiter auf dem kleinen Bahnhof von Bílý Potok in Nordböhmen, nahe der Grenze zu Polen. Zusammen mit seinem Kater, sonst scheint er keine Gesellschaft zu brauchen. Das Gebirge Hrubý Jeseník überragt die Orte, auf Deutsch heißt es Altvatergebirge und ist der östlichste Teil der Sudeten.

Ein langsamer Schwenk über das nächtliche Bergpanorama, selbstverständlich ruft ein Uhu, der Mond scheint verschwenderisch und Blätter wehen raschelnd durchs Bild. In einer wunderbaren Vielfalt von Grautönen, Schraffuren und schwarzweißen Mustern taucht plötzlich eine Dampflokomotive aus der Nacht auf, kommt näher auf den perspektivisch zulaufenden Schienen. Nun ist die Technik der tschechoslowakischen Staatsbahn zwar 1989 veraltet gewesen, und Bílý Potok liegt abseits der für den Fernverkehr modernisierten IC-Trassen. Aber die Dampflok verstört Alois Nebel. Nicht nur, weil der Zug nicht im Kursbuch steht, in keinem offiziellen Fahrplan auftaucht, die letzte Dampflok hier 1956 fuhr – ein Holztransport. Sondern weil gleißendes Licht von den Gleisen durch die Fenster in seine Bahnhofswohnung hineinblendet, laute Rufe zu hören sind – und das Geschehen aus dicht waberndem Nebel aufscheint. Während Menschen und Gegenstände mit ligne claire klar konturiert sind, bilden diffuses Licht und Nebelschwaden einen grafisch irritierenden Kontrast. Immer wieder kommen der Nebel, das gleißende Licht, der Zug mit der Dampflokomotive. Sie sind eine Erscheinung von Alois Nebel. Niemand sonst sieht den Zug.

Die Sequenzen werden mit jedem Auftreten länger, Menschen deutlicher sichtbar, klarer erkennbar. Ein Mann brüllt: „Steig ein, du deutsche Sau!“ Bewaffnete Männer treiben Frauen und Männer in Güterwaggons, auf dem Bahnsteig bleiben Karren und Koffer zurück. Ein an der Hand mit einer Lilie tätowierter Mann hält gewaltsam eine junge Frau zurück: „Du fährst nicht mit!“. Und erschießt einen anderen jungen Mann, der mit der Frau in einen Waggon steigen will. Alois Nebel erlebt dies als Kind mit weit aufgerissenen Augen. Er kennt die junge Frau, hallo Dorotka, sie ruft ihm seinen Namen als deutschsprachigen Diminutiv zu. Später sieht er sie im zerrissenen Kleid auf dem Boden liegen, weinend. In ikonisierenden Bildern wird die Frau als Opfer gezeigt. Später verlässt auch sie das Land, mit einem Baby auf dem Arm, einem Koffer in der Hand.

Sie ist das sympathieträchtige Symbol der Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 aus der vom Nationalsozialismus befreiten Tschechoslowakei. Ohne die Vorgeschichte zu erklären, erscheint der Transfer der Sudetendeutschen nach Bayern und Sachsen im Film als gegen Unschuldige gerichteter Willkürakt. Diese Erfindung von Geschichte ist weder zufällig noch in Tschechien einmalig. Ganz offiziell finanzieren deutsche Institutionen seit der Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 eine Reihe von Forschungsprojekten und so genannten zivilgesellschaftlichen Initiativen, welche den Transfer der Sudetendeutschen als Unrecht in den Vordergrund rücken und die vorausgegangene Zerschlagung und Besetzung der tschechoslowakischen Republik von 1938 bis 1945 durch das Deutsche Reich und die es in ihrer erdrückenden Mehrheit unterstützenden Sudetendeutschen zunehmend aus der Wahrnehmung verdrängen.

Für Pavel Strnad, Produzent des Filmes, erzählt Alois Nebel „die Geschichte der Sudetendeutschen“ – so, wie sie deutsche Vertriebenenverbände auch gerne darstellen, aber das hat er nicht gesagt. In tschechischen Kinos ist der Film 2011 erfolgreich gelaufen. Die tschechisch-slowakisch-deutsche Koproduktion erschien in Tschechien bereits 2012 auf DVD mit 80 Minuten Bonusmaterial. Ebenfalls 2011 kam der tschechische Spielfilm „Lidice“ von Petr Nikolaev in die Kinos – eine erschütternde Darstellung des deutschen Kriegsverbrechens von 1942, als die Wehrmacht das Dorf als angebliche Vergeltungsmaßnahme gegen Partisanen niederbrannte und die Bevölkerung massakrierte. „Lidice“ hat bis heute keinen deutschen Verleih. ((http://www.filmlidice.cz/)) Die Erinnerung an das Wehrmachtsverbrechen von Lidice ist in Deutschland verdrängt, als eines unter vielen Verbrechen beider Seiten nivelliert.

„Alois Nebel“ fügt sich handwerklich gut gearbeitet leider in die geschichtsrevisionistische Tendenz ein, das Schicksal der Sudetendeutschen isoliert von ihrer Mitwirkung am Nationalsozialismus zu betrachten. So heißt es auf einer nach dem ersten Spannungsaufbau eingeblendeten Texttafel: „Im Jahr 1938 wird das Land zerschlagen. Das Sudetenland, ein hauptsächlich von Deutschen bewohntes Grenzgebiet, wird vom III. Reich besetzt. Kurz darauf bricht der Krieg aus. Danach werden fast alle Deutschen vertrieben.“ Tja, alles irgendwie so passiert. Kein Wort darüber, dass die Zerschlagung von NS-Deutschland systematisch betrieben wurde, dass Hitler mit Krieg drohte, um sich durchzusetzen. Dass die NS-Propaganda seit April 1938 für die „gequälte, von Völkermord und Vertreibung bedrohte deutsche Minderheit“ trommelte. In enger Abstimmung mit der Sudetendeutschen Partei, SP. Deren Führer Konrad Henlein forderte ebenfalls im April 1938 auf dem Karlsbader Parteitag der SP „die volle Freiheit des Bekenntnisses zur deutschen Weltanschauung“ und bekannte sich – nach Absprache mit der Führung der NSDAP in Berlin – offensiv zum Nationalsozialismus. Einen Monat später stimmten zwischen 80 und 90 Prozent der Sudetendeutschen bei den Kommunalwahlen für die SP, wie Erich Später in der Konkret darlegte. ((Vgl. Erich Später: „Übervolle Herzen“, Konkret 05/2002, sowie Erich Später: „In guten wie in bösen Tagen“, Konkret 06/2002. Sehr informative Texte.))

Schon vor der Besatzung durch die Wehrmacht beteiligte sich ein Großteil der Sudetendeutschen 1938 an antisemitischen Gewalttaten, wie sie zeitgleich im III. Reich stattfanden. Zwei Städte erklärten sie für „judenfrei“. Fast die Hälfte aller Sudetendeutschen, 1,2 Millionen, waren Mitglieder der SP und von deren Massenorganisationen. Die einmarschierende Wehrmacht und SS wurden im Sudetenland begeistert begrüßt, die zweisprachigen Ortsschilder als Symbol vermeintlicher tschechischer Unterdrückung abgerissen, die SP ging in der NSDAP auf. 336 Konzentrations-, Sklavenarbeiter- und Kriegsgefangenenlager wurden im Gebiet des Sudetengaus eingerichtet. Als die 1945 die Rote Armee nahte, ließen sich 300.000 sudetendeutsche Männer für den Volkssturm rekrutieren, und kämpften selbst nach Hitlers Selbstmord noch weiter. Zehntausende KZ-Häftlinge wurden in offenen Viehwaggons aus den Vernichtungslagern im Osten Richtung Westen gefahren. Daniel Goldhagen schildert in „Hitlers willige Vollstrecker“ das Martyrium Hunderter jüdischer Frauen und Mädchen, die auf einem Todesmarsch aus einem KZ nach Westen getrieben in den Dörfern bespuckt und angegriffen wurden.

Nach diesen Erfahrungen beschlossen die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz den Transfer der Sudetendeutschen in die deutschen Besatzungszonen. Edvard Beneš, vor und nach der deutschen Besatzung Präsident, erließ die von Deutschen bis heute beklagten Dekrete, nach denen alle Kollaborateure des III. Reiches enteignet und ausgebürgert werden sollten. In einer seiner ersten Reden erklärte er: „Unsere Losung muss es sein, unser Land kulturell, wirtschaftlich und politisch endgültig zu entgermanisieren.“

Alois Nebel ist traumatisiert, weil er als sechsjähriges Kind den Abtransport der Deutschen aus Bílý Potok miterlebt hat. Denn schon sein Vater war auf dem Bahnhof Fahrdienstleiter, versuchte ihn zwar fernzuhalten, aber vergebens. Alois Nebel wird wegen seiner Erscheinungen in die Psychiatrie von Bílý Potok eingeliefert. Die Zustände in der Anstalt sind brutal und unwürdig. Dissidente Jugendliche sind hier eingesperrt, ein geheimnisvoller Fremder, von der Miliz eingeliefert, um ihn zum Sprechen zu bringen. Ärzte und Pfleger versuchen mit Elektroschocks, seinen Willen zu brechen. Die Sequenz in der Anstalt ist wie eine Parabel auf die gesellschaftlichen Verhältnisse angelegt. Der dortige Direktor sitzt öfter zusammen mit einem Polizeioffizier und dem Bahnarbeiter Wachek, der einen regen Schwarzhandel mit im Ort stationierten sowjetischen Armeeoffizieren betreibt, und bespricht informell, was zu tun ist. Wachek will Fahrdienstleiter anstelle von Alois Nebel werden, wozu dessen Einlieferung in die Psychiatrie dient, letztlich hat er damit Erfolg. Wachek schimpft auf die „Lumpen“ in Prag, welche den staatssozialistischen Apparat entmachten. Dabei behält er die Stelle, und Alois Nebel ist mit seiner Arbeit auch seine Wohnung im Bahnhof los, fährt nach Prag auf der Suche nach Arbeit, übernachtet im architektonisch legendären Hauptbahnhof. Lernt Randständige kennen, und Květa, eine wie er einsame Toilettenfrau.

Berechenbar, was dann passiert. So, wie selbstverständlich Tauben durchs Bild fliegen, wenn in die – auch real – beeindruckende hohe Halle des Hauptbahnhofs hinaufgeschaut wird. Trotzdem ist der Film optisch ein Genuss. Nicht nur wegen witziger Bildkompositionen: Da tanzen Květa und Alois am Weihnachtsabend zusammen, nachdem sie ihm eine Schneekugel mit einer Lokomotive geschenkt hat im Toilettenwärterinnenzimmer, und dort schneit es wie in der Kugel. Dazu singt Václav Neckář, in den 80ern ein Star in der DDR und der CSSR, gemeinsam mit der Alternative-Band Umakart das für den Film komponierte romantische Lied Půlnoční über einen älteren Mann, der nach vielen Problemen und langer Zeit zurück aufs Land fährt, um zuhause Weihnachten zu feiern. Im Toilettenwärterinnenzimmer ist kurz auch ein Portrait von Václav Neckář im Hintergrund zu sehen – an der Wand, wo üblicherweise Präsidenten oder Könige aufgehängt werden. Im Fernseher läuft „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, diese flötet gerade: „Die guten ins Töpfchen die schlechten ins Kröpfchen“. Eine kleine Hommage an diesen bekannten tschechischen Weihnachtsmärchenfilm, mit dem die Drehbuchautoren aufgewachsen sind.

Gut anzusehen ist „Alois Nebel“, weil er gekonnt eine gefällige, leichte Melancholie transportiert, die zur Landschaft und zur Jahreszeit Spätherbst passt, eine Stimmung, wie sie in vielen mitteleuropäischen Filmen mitschwingt. Verstärkt noch durch das ganze Bahnhofs- und Zugambiente. Die Ästhetik des Filmes ist gegenüber der Comicvorlage wie weichgezeichnet. Wo die Graphic Novel expressiv und mit kantigen Bildern beeindruckt, die an Linolschnitte erinnern, ist der Film entgratet. Der grafischen Glättung entspricht eine Entgratung der Handlung. Viel Widersprüchliches aus dem Buch kommt im Film nicht in Andeutungen vor.

Sicher, ein drei Kilo schwerer Band, der so düster daherkommt, dass er auch nach mehrmaligem Lesen noch nach schwarzer Offsetdruckfarbe riecht, lässt sich nicht komplett in 80 Minuten Animationsfilm unterbringen. Aber nahezu alle Irritationen der Graphic Novel entfallen im Film. Dabei haben das Drehbuch mit Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 die beiden Autoren der Comicbände verfasst. Die Regie hat allerdings Tomáš Luňák übernommen, der bisher vor allem Werbefilme und Musikclips gedreht hat. Von deren Ästhetik der Anpassung ist Alois Nebel leider nicht frei. Aber Tomáš Luňák hatte durch einige Musikclips Erfahrung mit dem Rotoskopieren. Rotoskopie ist eine alte Technik – vor hundert Jahren wurden mit ihr Spielfilmszenen auf eine Mattglasscheibe projiziert und dann Phase für Phase abgezeichnet, durchgepaust. Bei der heutigen, rechnergestützten Technik wird die Arbeit des Nachzeichnens von Computerprogrammen übernommen: Zuerst wurde der Film mit realen Schauspielern gedreht, dann Szene für Szene am Computer nachgezeichnet, rotoskopiert. ((Fotos aus den ursprünglichen Spielfilmszenen und deren rotoskopische Bearbeitung in verschiedenen Stadien wurden sehr anschaulich in der Tageszeitung „Mladá Fronta DNES“ im Artikel Tvůrci Nebela o rotoskopii: Jedna otočka hlavy trvala i patnáct hodin erklärt bzw. sind in deren Internetauftritt I Dnes zu sehen: http://kultura.idnes.cz/jak-se-delal-nebel-nejdriv-se-natacelo-potom-pitvalo-fh5-/filmvideo.aspx?c=A110926_170234_filmvideo_tt)) Dabei wird sowohl mit Vektor- als auch mit Pixel-basierten Programmen gearbeitet. Das Ergebnis ist verblüffend, Gegenstände wirken wie detailliert abgebildet, nur die Gesichtszüge der Menschen, deren Bewegungen wirken durch die Verfremdung nicht so fließend – eine interessante optische Täuschung. Spezialeffekte, die früher nur durch aufwendiges Phasenzeichnen per Hand und Umkopieren an der Optischen Bank erzielt werden konnten, lassen sich beim computerbasierten Rotoskopieren relativ unaufwendig erzeugen. Insgesamt dauerte die Comicverfilmung aber trotzdem knapp zwei Jahre und kostete über drei Millionen Euro.

Aber der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und der Comiczeichner Jaromír 99, hatten eine klare Vorstellung, wie ihre Graphic Novel verfilmt werden sollte. Jaroslav Rudiš erklärte gegenüber Radio Prag: „Ein Spielfilm kam für uns nicht in Frage. Jaromír 99 und ich sind uns einig gewesen, dass wir uns möglichst nah an der Vorlage, also an dem Comic halten würden.“ Beides, die Graphic Novel und die Verfilmung, ist jetzt auf Deutsch zugänglich und vergleichbar. Auch wenn die 2012 auf Deutsch erschienene Graphic Novel vielschichtiger ist, punkiger und der Nationalsozialismus in wenigen, spektakeligen Sequenzen kurz vorkommt: Die Vertreibung der Sudetendeutschen lösen beide aus dem historischen Kontext und leisten keinen Beitrag zur Erinnerung an die vorangegangenen Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht und insbesondere nicht zur Beteiligung der erdrückenden Mehrheit der Sudetendeutschen an der nationalsozialistischen Germanisierungsdiktatur.

Alois Nebel, Animationsfilm, D/CZ/SK 2013. 84 Min. FSK ab 12. Regie: Tomáš Luňák, Autoren: Jaroslav Rudiš und Jaromír 99. Sprachen: Deutsch, Tschechisch mit deutschen Untertiteln.
Jetzt im Kino. Website zum Film (Englisch/tschechisch): http://www.aloisnebel.cz

Jaroslav Rudiš / Jaromír 99: Alois Nebel (Graphic Novel), Verlag Voland & Quist, 360 Seiten, 24,90 Euro. Infos: http://www.aloisnebel.de

[youtube]http://youtu.be/SRxUMe5jbf8[/youtube]

1 Kommentar

  1. Ausgezeichnet. Vielen Dank für diesen herausragenden und kenntnisreichen Artikel von Gaston Kirsche. Auch inhaltlich steht er nicht zurück und rückt einige Dinge ins Licht, die zu wissen absolut notwendig sind, sofern man die damaligen Geschehnisse begreifen will.

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