Der Mainzer jüdische Pädagoge und Sprachwissenschaftler Sigmund Feist (1865-1943), ist den regelmäßigen haGalil-Lesern inzwischen kein Unbekannter mehr. Seiner im Jahre 1925 in Leipzig erschienenen „Stammeskunde der Juden. Die jüdischen Stämme der Erde in alter und neuer Zeit – Historisch-anthropologische Skizzen“, entnehmen wir das Kapitel über Juden in China…
Die chinesischen Juden
Es steht nicht genau fest, wann die Juden zuerst nach China gekommen sind. Der jüdische Reisende Soliman aus Andalusien, der im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts eine Reise nach China unternahm, erwähnt, daß er in allen großen Städten Juden fand, die auch hebräisch verstanden. In Kai-fêng-fu, der Hauptstadt der Provinz Honan am Gelben Fluß (Ho-hang-ho) besaßen die Juden eine Synagoge und nahmen ihren Glaubensgenossen gut auf 1). Desgleichen trifft Marco Polo auf seiner Weltreise (1271-1295) Juden in China an und weiß von ihrem Einfluß im Handel zu berichten. Aus Nachrichten des arabischen Schriftstellers Ibn Batuta (etwa 1346) erfahren wir ebenfalls von Juden in China. Sie scheinen noch an verschiedenen anderen Plätzen sich niedergelassen zu haben, wie in Hang-tschan, der Hauptstadt der Provinz Tschi-kiang, Ning-po (an der Jang-tse-Mündung), ja selbst in Nan-king und Pe-king, wo sie sehr wohlhabend gewesen sein sollen. Ihre Blütezeit scheint in den drei Jahrhunderten 1368-1640 n. Chr. gewesen zu sein.
Auch chinesische Quellen erwähnen an verschiedenen Stellen Andersgläubige, die aller Wahrscheinlichkeit nach als Juden anzusehen sind. Unter der Sung-Dynastie (961-1280) wird in Kai-fêng-fu von der Chronik Tung King Ke des Sung Tseau ein Kloster des „Himmelsgeistes“ genannt und diese Notiz dürfte die älteste Erwähnung des später zu nennenden jüdischen Tempels in Kai-fêng-fu sein. Eine fremde „Himmelskapelle“ in Tschang-nan in der Provinz Schansi, die im Jahre 621 n. Chr. errichtet sein soll, wird in einem Werke des Chronisten Wei Schu erwähnt. Ein späterer Erklärer seines Werkes, Min Ku aus der Sung-Dynastie, bemerkt dazu, daß der an dem Tempel amtierende Kultusbeamte „Sapan“ hieße. Vielleicht entspricht dieser nichtchinesische Name dem hebräischen „Sopher“ (Schreiber), dessen Amt auch später große Bedeutung bei den Juden in China hatte. In den Jahren 956 und 958 verleihen die Bezirksbehörden von Kai-fêng-fu den dortigen Juden Ehrenbezeugungen. Hier wurde auch im Jahre 1163 der Bau einer Synagoge begonnen, die 1279 in größerem Maßstab neu aufgebaut wurde, wie die später zu erwähnenden Inschriften in chinesischer Sprache, die im 18. Jahrhundert von französischen Missionaren bekannt gemacht wurden, uns mitteilen.
Die Kunde von den chinesischen Juden hatte sich im Abendland vollkommen verloren, so daß die katholischen Missionare sie im 17. Jahrhundert ganz neu entdecken mußten. Zuerst sah der Jesuitenpater Ricci in Pe-king einen studierten Mann Namens Ngai, einen fremden Reisenden, der sich an ihn als Bekenner des wahren Gottes wandte und sich bei weiterer Nachforschung des Missionars als Jude herausstellte, obwohl ihm dieser Name unbekannt war 2). Drei Jahre darauf ließ Ricci durch chinesische Missionare Bekehrungsversuche in Ngai’s Heimat Kai-fêng-fu anstellen und empfing später noch den Besuch von drei weiteren Juden aus dieser Stadt, die Christen werden wollten 3). Im Jahre 1613 besuchte P. Julius Aleni die Juden von Kai-fêng-fu und in der Folge wurden sie noch verschiedene Male von Jesuitenpatres aufgesucht: 1704 von P. Gozani und 1728 von P. Domenge und P. Gaubil 4). Die beiden letztgenannten verstanden auch genug Hebräisch, um einige Inschriften auf den Wänden des jüdischen Tempels in Kai-fêng-fu zu kopieren. Außerdem brachten sie einen Plan der Synagoge mit, die in ihrem Äußeren ganz einem chinesischen Tempel glich. Die Missionare teilten mit, daß die Chinesen die Juden mit den Mohammedanern verwechseln, weil beide an einen Gott glauben; doch wußten sie, daß die Juden von den Moslim (sic!) abweichende Gebräuche haben. Die Juden nannte man Tau-kin-kiau, d.h. die Religion, die die Sehnen auszieht, oder auch I-se-lo-jel-kiau, d.h. die israelitische Religion (I-se-lo-jel) nach chinesischer Aussprache = Israel.
Seitdem sind die Beziehungen der Europäer zu der jüdischen Kolonie in Kai-fêng-fu immer wieder aufgenommen worden, und von Zeit zu Zeit erschienen in englischen Zeitschriften Berichte über sie. Denn als die Nachricht von der Existenz der chinesischen Juden aufs neue zu ihren europäischen Glaubensgenossen gelangt war, erwachte bald das Interesse für sie bei ihnen. Im Jahre 1760 schrieb Isaac Nieto, Rabbiner in London, einen Brief in hebräischer Sprache an sie, in dem er sie bat, ihren Ursprung, ihre Lage und ihre Wünsche mitzuteilen. Die Juden von Kai-fêng-fu antworteten in hebräischer und chinesischer Sprache; doch ist ihr Schreiben seitdem abhanden gekommen.
Selbst in den Vereinigten Staaten von Nordamerika war das Interesse für die Juden in China wach geworden. Im Jahre 1794 sandte die portugiesische Gemeinde in New York einen Brief in hebräischer Sprache an die jüdische Gemeinde in Kai-fêng-fu, den sie einem Kapitän Howell zur Beförderung übergab. Doch der Brief kam als unzustellbar zurück mit dem Vermerk: Kapitän Howell konnte sie nicht entdecken 5).
Zum dritten Mal wurden von jüdischer Seite im Jahre 1815 ebenfalls von London aus Versuche gemacht, mit den Glaubensgenossen in China in direkte Verbindung zu treten. Man sandte durch einen Händler einen hebräischen Brief an den Rabbiner in Kai-fêng-fu, der auch in dessen Hände kam und von ihm verstanden wurde. Doch reiste der Überbringer, bevor er die Antwort erhalten hatte, aus Furcht vor drohenden Unruhen oder weil er krank wurde, wieder ab, und so blieb auch dieser Schritt erfolglos.
Auch nach Deutschland war die Kunde von Juden in China gedrungen, da zu Anfang des 18. Jahrhunderts ein deutscher Jesuit P. Ignatius Koegler einen hohen Posten in China bekleidete – er war neben seinem Amt als Vorsteher der Missionen auch Präsident des chinesischen mathematischen Amtes und Mandarin 2. Kl. – und sich für die heiligen Bücher der Juden im chinesischen Reich interessierte. Er berichtete über sie in einem erst viel später (1799) auszugsweise und 1805 in einer zweiten vermehrten Ausgabe veröffentlichten Bericht 6). Auf diesen und die schon genannten Werke der Jesuitenpatres gestützt verfaßte C. G. von Murr im Jahre 1806 einen „Versuch einer Geschichte der Juden in China“. Er gibt darin den Brief des Patres Gozani an den Pater Joseph Suarez vom Jahre 1704 ins Französische übersetzt 7) wieder und fügt einige Bemerkungen in derselben Sprache bei. Daran schließen sich die Nachrichten Koeglers von den heiligen Büchern in der Synagoge zu Kai-fêng-fu, vom Verfasser ins Deutsche übersetzt und mit Zusätzen von Sylvestre de Sacy und andern zeitgenössischen Gelehrten versehen, an.
Doch scheint dies Büchlein ohne besonderen Widerhall in Deutschland geblieben zu sein. Wenigstens zeigte sich hier kein besonderes Interesse für die Juden in China. Freilich war es noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für einen Ausländer nicht ratsam, ins Innere Chinas zu reisen, obwohl nach Beendigung des chinesisch-englischen Krieges im Jahre 1842 fünf Häfen dem fremden Handel geöffnet worden waren.
Im Jahre darauf schon erschien eine kleine, von James Finn, dem britischen Konsul in Jerusalem, verfaßte Schrift: The Jews in China. In den Jahren 1850 und 1851 wurden auf Veranlassung der Londoner Gesellschaft für die Verbreitung des Christentums unter den Juden von dem Bischof Smith von Hong-kong und dem Dr. Medhurst aus Schanghai zwei vertrauenswürdige Chinesen, die zum Christentum bekehrt worden waren, nach Kai-fêng-fu geschickt, um Kunde von den chinesischen Juden, die seit längerer Zeit niemand mehr gesehen hatte, zu bringen. Sie berichteten 8), daß es in Kai-fêng-fu nur noch sieben jüdische Sippen (d.h. Großfamilien) gebe, die ungefähr 200 Seelen umfaßten 9). Die Leute lebten größtenteils in sehr dürftigen Verhältnissen und seien nur noch dem Namen nach Juden. Da sie seit 50 Jahren keinen Rabbiner mehr gehabt hätten, sei die Kenntnis der hebräischen Sprache ihnen abhanden gekommen. Sie hielten noch den Sabbat und die Festtage, übten auch die Beschneidung noch, wenigstens waren die älteren Leute beschnitten. Ihre Synagoge sei sehr baufällig und es fehle ihnen an Mitteln, um sie wieder herzustellen. Ja, sie hätten das Material zum Teil verkauft, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihre Gebete verrichteten sie in chinesischer Sprache. Viele seien zum mohammedanischen Glauben oder gar zu einer einheimischen Religion übergetreten und hätten auch chinesische Frauen geheiratet. Die ausgesandten Chinesen brachten acht Manuskripte mit Teilen des Alten Testaments nach Schanghai; außerdem zwei Juden im Alter von 45 und 30 Jahren, Tschau-Wan-Kuei und Tschau-Kin-Tsching, von denen der ältere etwas jüdisch aussah. Hebräische Namen hatten sie nicht mehr und waren im übrigen von Chinesen nicht zu unterscheiden (s. Abbildung 40 auf Tafel XV).
Als im Jahre 1857 die aufständischen Tai-ping, die vom Kiang herkamen, die Stadt Kai-fêng-fu überfielen, wurde auch die jüdische Kolonie zerstreut. Die meisten Juden flüchteten nach anderen Städten bis zur Küste hin. Als wieder Ruhe eingekehrt war, kehrten viele wieder zurück. H. Cordier 10) lernte einen Schneider kennen, der zwar wie ein Chinese gekleidet war und auch einen Zopf trug, aber alle charakteristischen Züge seiner jüdischen Rasse aufwies.
Ein Wiener Kaufmann, J. L. Liebermann, der sich in Peking aufhielt, besuchte im Jahre 1857 als erster und einziger Jude seine Glaubensgenossen in Kai-fêng-fu 11). Er berichtete über seine Wahrnehmungen in einem längeren Brief an seinen Vater in Bielitz. Er sah den in Trümmern liegenden Tempel und wurde in einen Keller geführt, wo unter Granitplatten verwahrt drei schwere Holzkisten mit Thorarollen und Dokumenten standen. Er schätzte die Zahl der Juden in Kai-fêng-fu auf 400 – 500 Seelen, die alle arm waren. Einige beobachteten noch den Sabbat; auch war noch ein Gebetsraum da mit Sprüchen auf Tafeln und Stäben, die 10 Gebote und sonstige Glaubenslehren der jüdischen Religion enthaltend.
Im Februar 1865 war Dr. Martin als erster Protestant auf einer Reise von Peking nach Schanghai über Kai-fêng-fu gekommen 12). Er fand ungefähr noch dieselben Zustände wie die im Jahre 1850 dahin gesandten chinesischen Boten, nur daß die Synagoge vollkommen zerstört war und an ihrer Stelle nur noch ein Gedenkstein stand. Bei den wenigen Juden war mit der Kenntnis des Hebräischen auch die Beobachtung der religiösen Gebräuche nunmehr gänzlich geschwunden. Doch fand er unter ihnen noch die alte Tradition lebendig, daß ihre Väter zur Zeit der Han-Dynastie (202 v. Chr. bis 220 n. Chr.) aus Si-ju (d. h. Persien) nach China gekommen seien, wie bereits P. Gozani im Jahre 1704 erfahren hatte.
Noch in dem Jahre 1891 kam Herr Dennis J. Mills nach Kai-fêng-fu und erfuhr, daß 200 jüdische Familien über die Stadt zerstreut seien. Vom Tempel war nur noch ein Haufen Trümmer vorhanden. An seine Stelle war ein Wassertümpel getreten und nur ein Gedenkstein erinnerte noch an das Gebäude.
Damit war das Schicksal der Juden in Kai-fêng-fu besiegelt, das nun seinem schnellen Ende entgegenging. Doch darüber wollen wir erst später reden und uns zunächst der Erörterung der Frage zuwenden, woher die chinesischen Juden gekommen sind. Als Ursprungsland kommt sowohl Persien als auch Indien in Frage.
Die Ansicht, daß die chinesischen Juden aus Persien gekommen seien, scheint am besten begründet. Der Handel hat wohl die ersten Juden auf den Karawanenwegen über Zentralasien nach China geführt. Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht der Bericht des Paters Domenge aus dem Jahre 1723, die Juden in Kai-fêng-fu hätten noch etwas Persisch verstanden und bis 200 Jahre vorher noch in Beziehungen zu ihren Glaubensgenossen in Persien gestanden 13).
Diese Angabe wird durch verschiedene Tatsachen gestützt. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, daß schon in alter Zeit (wie auch heute noch) Juden in Ostturkestan, dem Durchgangsland von Vorderasien nach China, wenigstens vorübergehend ansässig waren 14). So fand der englische Forschungsreisende Sir Aurel Stein in Dundan Uiliq einen persischen Geschäftsbrief, der mit hebräischer Quadratschrift geschrieben ist. Prof. Margoliouth setzt ihn um 708 n. Chr. an. Das Dokument ist ein Beweis dafür, daß sich Juden auf dem nördlichen Karawanenweg nach China begaben. Ebenso ist ihre Anwesenheit auf dem südlichen Karawanenweg bezeugt. Ein Zufall hat vor etwa 15 Jahren ein Dokument an das Tageslicht gebracht, das uns den Beweis dafür aus dem frühen Mittelalter liefert. Aus heute verlassenen Ansiedlungen Ostturkestans brachte der französische Gelehrte Paul Pelliot, dem es glückte, bei der Stadt Tun-Hwang eine vor 1000 Jahren vermauerte Klosterbibliothek zu entdecken, unter vielen anderen Manuskripten auch ein Papierblatt mit hebräischen Schriftzügen altertümlicher Form nach Europa, das eines der ältesten noch erhaltenen Dokumente in hebräischer Sprache darstellt. Es stammt aus dem 8. Jahrhundert n. Chr., wie der Herausgeber, M. Schwab, annimmt 15) und enthält Bruchstücke einer Selicha, die aus Psalmen- und Prophetenstellen zusammengesetzt ist. Es lag zusammengefaltet auf einem Schutthaufen mit anderen Bücherresten. Die Stadt Tun-hwang liegt nun auf dem uralten südlichen Karawanenweg durch Zentralasien nach China. Offenbar hat ein Jude, ein Teilnehmer einer Handelskarawane, das Blatt – auf der Rückkehr aus China (wegen des Schreibmaterials) – am Fundort gelassen. Das Schriftstück erweckt außer durch die Fundumstände und die höchst altertümliche Schrift noch dadurch unser Interesse, daß es auf Papier geschrieben ist, das zu jener Zeit allein in China hergestellt wurde. Somit ist durch diesen Fund der Beweis geliefert, daß schon im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrtausends Juden nach China gelangten.
Auch namhafte Sinologen sind der Ansicht, daß die ersten Juden zur Zeit der Han-Dynastie im 1. Jahrhundert n. Chr. über Persien und Zentralasien nach China gekommen seien. Das würde mit der oben erwähnten jüdischen Tradition und mit dem Nachweis des Verkehrs von Juden auf den alten Karawanenstraßen übereinstimmen.
Der persischen Herkunft stehen aber ausdrücklich Angaben der ersten wie der dritten Inschrift von Kai-fêng-fu entgegen 16). Hier wird gesagt, daß die Juden aus dem Lande Tien-schu (= Indien) mit 70 Familien nach China gekommen seien. Da der Bau der Synagoge von Kai-fêng-fu 1163 begonnen wurde, so könnte diese Einwanderung etwa in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts gewesen sein 17). Für die indische Herkunft wenigstens eines Teiles der chinesischen Juden spricht auch die Tatsache, daß ihre Pentateuchausgabe mit einem in Kotschin gefundenen Kodex übereinstimmt. Auch nannten die nach Schanghai übergesiedelten chinesischen Juden (s. weiter unten) ihre Religion die „indische“. (Die indischen Juden ihrerseits stammen allerdings, wie wir im nächsten Abschnitt hören werden aus Persien). Die Annahme scheint daher nicht unberechtigt, daß eine Auswanderung indischer Juden nach China im Gefolge der arabischen Expansion erfolgt ist, wie überhaupt an vielen Stellen die Araber den Juden den Weg gebahnt haben. Diese neuzugezogenen Juden mögen schon früher dort ansässige Juden vorgefunden und sie sich assimiliert haben, was wir häufig beobachten können.
In ihrer Erscheinung zeigten die chinesischen Juden neben geringen Resten des jüdischen Typus eine auffällige Übereinstimmung mit ihrer mongolischen Umgebung. Sie hatte sich in der Sprache und der Lebensweise, auch in der Kleidung vollkommen an ihre chinesischen Landsleute angeglichen. Sie hatten alle, besonders die Frauen, scharfe Züge wie die Leute in Mittelchina 18) (s. die Zeichnung 40 auf Tafel XV).
Nachdem durch den Vertrag von 1842 die fünf Häfen dem Verkehr geöffnet waren und die Insel Hong-kong den Engländern abgetreten worden war, beteiligten sich bald auch Juden an dem neu eröffneten Handelsverkehr. Sie kamen zunächst aus Bombay, wohin einige zu Anfang des 19. Jahrhunderts aus Bagdad übergesiedelt waren. Auch von diesen in Schanghai und Hong-kong neu angesiedelten Juden wurden Versuche angestellt mit den Juden in Kai-fêng-fu in Beziehung zu treten, doch wurden praktische Ergebnisse nicht erzielt (s. weiter unten). Endlich wurde von New-York aus im Jahre 1900 durch Vermittlung jüdischer Firmen in Schanghai versucht, mit den Glaubensgenossen in Kai-fêng-fu in Berührung zu kommen (Rescue Society for the Jews of Kai-Fum-Foo). Man erfuhr, daß sie wohl den Sabbat und die Festtage beobachteten, ihre Gebete aber in chinesischer Sprache verrichteten und nur noch dem Namen nach Juden seien 19). Auch die Londoner Juden interessierten sich infolge eines Berichts des Herrn M. N. Adler, der auf einer Reise nach China ebenfalls Auskünfte über die im Innern des Landes wohnenden Glaubensgenossen eingezogen und darüber in einem Vortrag in London im Jahre 1900 berichtet hatte, gleichfalls für die versprengten chinesischen Juden 20); aber praktische Ergebnisse scheinen auch diese Anregungen nicht gehabt zu haben. Es ist nicht genau bekannt, was in den letzten Jahren aus der schon an Zahl verringerten und durch Mischheiraten dem jüdischen Glauben und seinen Gebräuchen sehr entfremdeten Gemeinde in Kai-fêng-fu geworden ist. Die letzten zuverlässigen Nachrichten stammen aus dem Anfang unseres Jahrhunderts, wo Schanghaier Juden in Verbindung mit ihr getreten sind. Einen Bericht über diese Bemühungen hat Edward Isaac Ezra gegeben 21). Im Jahre 1901 kam ein Jude aus Kai-fêng-fu Namens Li King-schen mit seinem Sohn Li-Tsung-Mai im Alter von 12 Jahren (s. das Bild auf Tafel XIV) für drei Wochen nach Schanghai. Nach seiner Rückkehr veranlaßte er, daß eine Deputation von 8 Juden aus Kai-fêng-fu im März 1902 nach Schanghai kam (Abb. 42). Sie berichteten, daß die dortigen Juden keine jüdischen Religionsgesetze mehr beobachten, allerdings auch die religiösen Gebräuche ihrer Umgebung nicht angenommen hätten. Der Tempel sei durch eine gewaltige Überschwemmung einige Jahre vor dem Taiping-Aufstand (s.o.) vollkommen zerstört worden. Zwar sei ihnen der Grund und Boden vom Stadtrat zugesprochen worden, doch bestünde er zurzeit nur noch aus einem Tümpel, in dessen Mitte ein einsamer Stein zum Gedächtnis des verschwundenen Baues erhalten sei. Sie selbst seien nicht in der Lage, die Synagoge wieder aufzubauen und seien nach Schanghai gekommen, um Hilfe zu diesem Zweck zu erbitten. Dabei blieb es im Jahre 1902 und ist es bis heute geblieben.
Wir besitzen eine Beschreibung der Synagoge 22) in Kai-fêng-fu von den Jesuitenpatres Domenge und Gaubil. Nach ihrer Schilderung war der ganze Komplex der dazugehörigen Gebäude 300 bis 400 Fuß lang und 150 Fuß breit und bestand aus 4 hintereinander liegenden Höfen, die ost-westlich gerichtet waren. Im vierten und westlichsten Hof stand die eigentliche Synagoge. Im zweiten Hof waren links und rechts Wohngebäude für die Wächter. Im dritten Hof befanden sich Gedächtniskapellen für die Donatoren des Tempels und Gasträume für Fremde. Der vierte Hof endlich, der in zwei durch Bäume getrennte Teile zerfiel, enthielt zunächst ein großes Weihrauchgefäß und den Raum, in dem den zum Genuß geschächteten Tieren die Sehnen ausgezogen wurden. Im zweiten Teil befanden sich nach chinesischer Sitte angelegte Ahnenhallen für die Heroen des Alten Testaments. Bilder von ihnen wurden nicht aufgestellt; doch war der Name der zu verehrenden Person auf eine Tafel geschrieben, vor der ein Weihrauchfaß stand. Neben den Erzvätern wurden Mose, Aron, Josua, die Propheten usw. verehrt. In diesem vierten Hof wurden zurzeit des Laubhüttenfestes die Sukkoth aufgerichtet. Nun folgte die eigentliche Synagoge im Stil eines chinesischen Tempels. Im Innern befand sich ein Vorlesungspult in der Mitte, dann ein von einer Kuppel überwölbter Raum, in dem der Name des Kaisers in chinesischer Sprache angebracht war. Darüber stand in hebräischen Lettern das Glaubensbekenntnis: Schma Jisrael und Baruch schem 23). Hinter der Synagoge endlich befand sich ein für den Ritus dieser chinesischen Juden charakteristisches kleines Gebäude, das Beth-el, das nur der Rabbiner betreten durfte. Hier standen 13 Thorarollen (12 für die 12 Stammväter und eine für Mose) auf kleinen Tischen hinter seidenen Vorhängen. Auf der Westwand des Gebäudes standen in goldenen hebräischen Lettern die 10 Gebote. Beim Betreten des Tempels legten die chinesischen Juden ihre Schuhbekleidung ab, zogen Sandalen mit Filzsohlen an und bedeckten das Haupt mit einer blauseidenen Mütze. Dagegen kannten sie die Sitte des Gebetmantels (Talith) nicht. Ihre Gebete verrichteten sie mit dem Antlitz nach Westen, also in der Richtung nach Jerusalem.
Von der heute in der Auflösung begriffenen oder schon ganz aufgelösten jüdischen Gemeinde von Kai-fêng-fu waren einige Mitglieder nach Schanghai und nach Hong-kong verzogen und lebten dort unter Beobachtung der jüdischen Speisegesetze und im Besitze eines eigenen Friedhofs, abgesondert von der übrigen chinesischen Bevölkerung, der sie im übrigen bis auf die Namen vollkommen glichen. Von diesen chinesischen Juden, die nach Schanghai übergesiedelt waren, sind nach den letzten Berichten nur noch zwei übrig und diese werden jetzt vielleicht schon unter den Chinesen verschwunden sein 24). Eine neue jüdische Kolonie soll in Tang-tschuang südwestlich von Kai-fêng-fu entstanden sein. Die dortigen Juden sollen sich mit der Seidenweberei beschäftigen und gelten als wohlhabend 25).
Nicht bestätigt hat sich die vor einigen Jahren durch die jüdische Presse gegangene Nachricht, daß sich auch in Korea ein alter Stamm von Juden fände, die sich bis auf die Namen den übrigen Landesbewohnern vollkommen angeglichen hätten. Meine dahin gehenden Erkundigungen bei Koreanern hatten ein negatives Ergebnis.
Dagegen wohnen in Japan nicht wenige Juden, deren Einwanderung aber erst neueren Datums ist. Die jüdischen Kolonien in Japan entstanden zumeist aus russischen Soldaten, die während des russisch-japanischen Krieges als Kriegsgefangene nach Japan gebracht wurden, oder aus Juden, die während des letzten Krieges aus Rußland flüchteten. Andere Juden aus Bagdad, England und den Vereinigten Staaten siedelten sich aus geschäftlichen Gründen hier an. Die jüdische Gemeinde in Nagasaki zählt 200 Seelen und besitzt eine Synagoge und einen eignen jüdischen Friedhof. Die ärmeren Juden ernähren sich als Schneider und Schuhmacher. Manche von ihnen sprechen bereits japanisch, haben Japanerinnen geheiratet und bemühen sich als echte Japaner angesehen zu werden 26).
Größer ist die jüdische Gemeinde in Jokohama, die etwa 300 Personen umfaßt, von denen die ersten schon vor einem halben Jahrhundert eingewandert sind. Daneben sind zahlreiche Flüchtlinge aus Rußland da, die größtenteils nach den Vereinigten Staaten weiterwandern. In der Hauptstraße befindet sich ein jüdisches Speisehaus für diese Durchgangsgäste. Von den älteren Einwanderern leben auch hier manche in Mischehen mit Japanerinnen und wollen von ihrem Judentum wenig mehr wissen 27).
In der jüdischen Presse tauchen von Zeit zu Zeit die alten Märchen auf von den japanischen Juden, die Abkömmlinge der verlorenen zehn Stämme seien 28). Da diese angeblichen Juden kein Hebräisch verstehen, keine Thorarollen haben und Gebetmäntel sowie Gebetriemen zwar besitzen, aber nicht gebrauchen, sondern in einem elfenbeinernen Kästchen (!) verwahren, so scheinen die Verfasser solcher Nachrichten, die zudem das Japanische nicht verstehen, irgend einer beabsichtigten oder unabsichtlichen Mystifikation zum Opfer gefallen zu sein. Es handelt sich wohl um buddhistische Sekten, deren Sittenlehre vielfach an die biblische erinnert.
(Sigmund Feist, Stammeskunde der Juden. Die jüdischen Stämme der Erde in alter und neuer Zeit – Historisch-anthropologische Skizzen, Leipzig 1925, S. 51-62)
Fußnoten:
1) M. Schwab, Itinéraire juif d’Espagne en Chine au 9ième siècle. Revue de Géographie, Bd. 28, S. 443ff., Bd. 29, S. 33ff., 135ff., 280ff. u. 291ff. – Über das Alter der chinesischen Juden s. den Artikel von P. G. von Moellendorf in der Monatsschr. f. Gesch. u. Wissensch. Des Judentums, Bd. 39 (1895), S. 327ff.
2) Doch findet sich in älteren chinesischen Quellen der Name „Tschu-hu“ für die Juden in der Chronik Jüen-schi nach dem Journal of the North China Branch of the Royal Asiatic Society, N. S. Bd. 10. S. 38).
3) Nic. Trigautius, De christiana expeditione apud Sinas suscepta aq Societate Jesu. Aug. Vind. 1615, Lib. I, Cap. 11, S. 118ff.
4) Traité de la Chronologie Sinoise, composé par le Père Gaubil et publiè par M. Silvestre de Sacy. Paris et Strasbourg 1814, p. 264 ff.
5) G. A. Kohut in Semitic Studies in memory of Alexander Kohut, 1897, S. 462 f. Der Text des hebräischen Briefes wird auf S. 429, eine Übersetzung ins Englische auf S. 433 f mitgeteilt.
6) Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Literatur, Nürnberg 1799, S. 240-252 und 1805 bei Hendel in Halle a. S. in lat. Sprache herausgeg. von C. G. von Murr.
7) Nach Lettres édifiantes et curieuses, écrites des Missions étrangères par quelques Missionaires de la Compagnie de Jésus. Band 7, S. 4-40 (Paris 1707).
8) A Narrative of a Mission of Inquiry to the Jewish Synagogue of Kái-fung-fú on behalf of the London Society for promoting Christianity among the Jews. Shanghai 1851, 94 p. Auszug daraus im Chinese Repository, Bd. 20, S. 436 ff. Vgl. ferner North China Herald vom 16. Aug. 1851.
9) Dieser Angabe widerspricht freilich die Mitteilung eines chinesischen-moham(m)edanischen Soldaten aus Kai-fêng-fu aus dem Jahre 1850, der von acht jüdischen Großfamilien (chines. Tung) und etwa 1000 Personen weiß, die in seiner Jugend in seinem Geburtsort wohnten (J. Finn, The Orphan Colony of Jews in China, London 1872, p. 22).
10) Les Juifs en Chine. L ‘Anthropologie, Bd. 1, S. 547 ff.
11) The Jewish Chronicle, 1879, 11. Juli, S. 12.
12) W. A. Martin, Journal of the North China Branch oft he Royal Asiatic Society, N. S. Bd. 3 (Dez. 1866), S. 30 ff.
13) Vgl. A. Neubauer, The Jewish Quarterly Review Bd. 8, S. 123 ff und Ost und West 1903, S. 626, Anm. 1. Ein genaueres Datum gibt H. Cordier, Les Juifs en Chine in L ‘Anthropologie, Bd. 1, S. 549, wo die ältere Angabe sich wiederfindet, daß sie unter der Herrschaft von Ming-ti (58-75 n. Chr.) nach China gekommen seien.
14) Jüdische Kaufleute, die sog. Radaniten – ein unerklärtes Wort – besorgten auch den Handel mit China. So berichtet der Araber Ibn Khordadbeh (ca. 817 n. Chr.); vgl. de Goeze, Bibl. Geogr. Arabica, Bd. VI, S. 114: „Diese Kaufleute sprechen Persisch, Romanisch, Arabisch, Fränkisch, Spanisch und Slavisch. Sie reisen vom Okzident nach dem Orient und vom Orient nach dem Okzident, bald zu Lande, bald zu Wasser. Sie bringen aus dem Orient Seide, Pelzwerk und Schwerter. Sie begeben sich bei dem Lande der Franken auf das Meer und fahren nach Farama (bei den Trümmern von Pelusium); dort laden sie ihre Waren auf Lasttiere und begeben sich zu Lande nach Kolzum (Suez). Sie schiffen sich dann auf dem roten Meere ein und fahren nach dem Sind (Indien und China). Bei der Rückreise nehmen sie Moschus, Aloë, Kampfer, Zimmet und andere Erzeugnisse des Ostens mit und kommen wieder nach Kolzum und dann nach Farama, wo sie sich wieder auf das Meer begeben. Einige segeln nach Konstantinopel, um dort ihre Waren zu verkaufen, andere begeben sich nach dem Lande der Franken.“
15) Le plus ancien manuscrit hébren. Journal asiatique 1913, S. 139 ff. Siehe auch Verf., Jüdische Spuren im mittelalterlichen Asien. Ost und West, Bd. 14 (1914), Sp. 131 ff.
16) B. Laufer, Zur Geschichte der chinesischen Juden. Globus, Band 87, S. 245 ff. Die Inschriften sind öfter übersetzt und abgedruckt, z. B. bei M. N. Adler, Jews in China. The Jewish Quarterly Review, Bd. 13 (1900), S. 18 ff., oder bei Edward Isaac Ezra, Chinese Jews, East of Asia Magazine, Bd. 1 (1902), No. 4, S. 278 ff.
17) Nach Prof. Chavannes (mitgeteilt in Jewish Encyclopedia IV, 33 s. v. China) sollen nach chinesischen Chroniken in den Jahren 960 und 1126 n. Chr. Tributablieferungen von Juden aus Indien an den Hof von China stattgefunden haben in Form von Stoffen aus westlichen Ländern.
18) J. Finn, The orphan Colony of Jews in China, S. 23.
19) G. A. Kohut, Semitic Studies in Memory of Dr. A. Kohut, 1897, S. 426. American Hebrew vom 12. 1. 1900.
20) Jewish Chronicle vom 22. VI. 1900.
21) East of Asia Magazine, Bd. I, No. 4 (1902), S. 278 ff.
22) Auf Chinesisch von den Juden in Kai-fêng-fu Li-pai-tse, d. h. Haus der wöchentlichen Versammlungen genannt. Offenbar war die Synagoge nur am Sabbat reichlicher besucht. Ein anderer Name dafür war Tsing-tschin-tse, d.h. reines und wahres Haus.
23) Über die sonstigen dort befindlichen hebräischen Inschriften s. David S. D. Sassoon, Inscriptions in the Synagogue of Kai-Fum-Foo in Jewish Quarterly Review, N. S. Bd. 11, S. 127 ff.
24) Israel Cohen, The Journal of a Jewish Traveller, 1925, S. 126 f.
25) Nach M. N. Adler, Chinese Jews. The Jewish Quarterly Review, Bd. 13 (1900), S. 18 ff.
26) Nach „The Chicago Israelite“ vom 31. Mai 1919.
27) Israel Cohen, The Journal of a Jewish Traveller, 1925, S. 136 ff.
28) So wieder in der Central-Vereinszeitung von 1925, Nr. 19, S. 336 ff.
Literatur zu Sigmund Feist:
Römer, Ruth, Sigmund Feist und die Gesellschaft für deutsche Philologie in Berlin. In: Muttersprache 103 (1993), 28-40
Römer, Ruth, Sigmund Feist: Deutscher – Germanist – Jude. In: Muttersprache 91 (1981), 249-308.
Anmerkung:
Bis Ende November 2013 existierte noch kein Eintrag zu Sigmund Feist bei der deutschen Wikipedia. Jedoch enthalten folgende Links weiterführende Informationen zu Leben und Wirken des Gelehrten:
http://en.wikipedia.org/wiki/Sigmund_Feist
http://www.esf.uni-osnabrueck.de/biographien-sicherung/f/87-feist-sigmund
http://www.antiquario.de/webcgi?START=A50&MITES=1&AU=Feist+Sigmund&DBN=AQUI&ZG_PORTAL=autor
https://www.hagalil.com/2009/05/27/feist/
http://encyclopedia2.thefreedictionary.com/Sigmund+Feist
http://findingaids.cjh.org/?pID=476362
http://www.crt-ii.org/_awards/_denials/_apdfs/Feist_Sigmund_den.pdf
Chinese Jews from Kaifeng arrive in Israel 2009:
[youtube]http://youtu.be/edhtdoPukk0[/youtube]