„Mir sejnen do un weln sajn“

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Überlebende der Shoa und die Zeitung „Der Najer Moment“ in Regensburg…

Von Jim G. Tobias

Im März 1946, noch kein Jahr nach der Niederschlagung des NS-Regimes, erschien im oberpfälzischen Regensburg ein mit hebräischen Lettern gedrucktes jiddisches Wochenblatt. Bereits Anfang Mai 1945 hatten Überlebende des KZ Buchenwald unter dem bezeichnenden Namen Die Auferstehung der Toten die erste von Juden für Juden herausgegebene Zeitung nach der Shoa vorgelegt. Ein unübersehbares Lebenszeichen! Weitere 150 jiddische und hebräische Bulletins, Zeitschriften und andere Periodika sollten folgen.

Nach zwölf Jahren erbarmungsloser Verfolgung kam es in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland zu einer Renaissance des nahezu vernichteten jüdischen Lebens. Neben ehemaligen Häftlingen aus den Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern stammte die Mehrheit dieser Menschen aus Osteuropa. Die Juden waren vor antisemitischen Übergriffen in ihren Heimatländern in die Sicherheit der US-Besatzungszone geflohen. Im Sommer hielten sich etwa 200.000 dieser als Displaced Persons (DPs) bezeichneten Juden inmitten der Trümmerlandschaft ihrer besiegten Verfolger auf. Für die Entwurzelten und Verschleppten errichteten die Militärbehörden eigene Lager – in Kasernen, Schulen, Siedlungen und Sanatorien. Daneben gründeten sich zahlreiche städtische DP-Gemeinden, deren Mitglieder in beschlagnahmten Wohnungen und Häusern untergebracht waren. Die Regensburger DP-Gemeinde zählte zeitweise über 1.500 Mitglieder.

In Regensburg wird die Staatsgründung Israels gefeiert. Repro: © Archiv Andreas Angerstorfer, Regensburg
In Regensburg wird die Staatsgründung Israels gefeiert. Repro: © Archiv Andreas Angerstorfer, Regensburg

Diese Camps und Communities genannten Einrichtungen waren wie ein Staat im Staate organisiert: Sie verfügten über eine weitgehende Autonomie und eine vielfältige soziale und politische Infrastruktur. Die Gemeinde in Regensburg gründete mit Bar Kochba und Hapoel Regensburg zwei Sportvereine und unterhielt je eine Volks-, Religions- und Berufsschule. Zudem war die Stadt Sitz des Regionalkomitees Oberpfalz-Niederbayern der befreiten Juden in der US-Zone, das auch die jiddische Wochenzeitung Der Najer Moment herausgab.

Ein wichtiger Mitarbeiter der Zeitung war Mendel Man, der schon vor der Shoa als Publizist und Schriftsteller in Warschau tätig war. Er schrieb zahlreiche Artikel und Gedichte. Neben seiner journalistischen Arbeit gründete Mendel Man mit seinem Kollegen Jecheskl Kejtlman sogar einen eigenen Verlag in der oberpfälzischen Stadt, um ihre Bücher zu vertreiben. Obendrein gaben die beiden die jiddische Kulturzeitschrift Welt-Szpigel heraus.

Anhand der Zeitung Der Najer Moment erzählt die Ausstellung „Leben im Wartesaal“, die von Studenten des Osteuropa-Instituts der Universitäten München und Regensburg konzipiert wurde, die vergessene und verdrängte Geschichte des jüdischen Neubeginns im Land der Täter. Begleitend dazu erschien eine „Sonderausgabe“ des jiddischen Blattes in deutscher Übersetzung. Die Broschüre hat Zeitungsformat und bringt mit 23 ausgewählten Artikeln einen Querschnitt aus 49 Ausgaben, die alle auf den Rotationen der Mittelbayerischen Zeitung gedruckt wurden.

Titelseite der Erstausgabe „Der Najer Moment“ vom 26. März 1946. Repro: © Archiv Andreas Angerstorfer, Regensburg
Titelseite der Erstausgabe „Der Najer Moment“ vom 26. März 1946. Repro: © Archiv Andreas Angerstorfer, Regensburg

Nach Gründung des Staates Israel im Mai 1948 und der Liberalisierung der Einwanderungsbestimmungen in den klassischen Immigrationsländern wie USA, Kanada oder Australien zum Ende der 1940er Jahre leerten sich die Wartesäle. Auch in Regensburg ging die Zahl der jüdischen DPs deutlich zurück. Die letzte Ausgabe des Najer Moment erschien im November 1947. Am 29. dieses Monats hatte die UN-Vollversammlung in einer mit Spannung erwarteten Sitzung die Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Ein lang ersehnter Traum war zum Greifen Nahe. Nicht nur in Regensburg freuten sich die Juden darauf, bald in Haifa, Tel Aviv oder Jerusalem ein neues Leben zu beginnen.

„Leben im Wartesaal“. Das jüdische Regensburg der Nachkriegszeit: Mendel Man und Der Najer Moment, Städtische Galerie im Leeren Beutel, Regensburg, Bertoldstraße 9, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10–16 Uhr, noch bis 19. Januar 2014. Eintritt frei!

Informationen über das Begleitprogramm finden Sie hier:
http://www.osteuropastudien.uni-muenchen.de/download/programm_leben-im-wartesaal.pdf

Weitere Informationen über die jüdischen DP Gemeinden, Lager und Kibbuzim in der US Zone finden Sie im Internetlexikon:
http://www.after-the-shoah.org

1 Kommentar

  1. Sorry, halb „off topic“, aber dennoch gut zu wissen.

    Zunächst: wen interessiert das noch? Was man vielleicht weiß: Die kamen hierher, die Juden aus dem Osten und aus den KZs, nachdem die Nazis nichts mehr zu melden hatten nach ihrer vollständigen Niederlage, und krakeelt haben werden höchstens die Leute, deren Wohnungen beschlagnahmt wurden, um sie den DPs zuzuweisen, temporär. Das übrige Deutschland interessierte sich nicht, war mit sich selbst beschäftigt, mit der sog. Entnazifizierung, mit den Millionen von Flüchtlingen, mit dem auch ohne die wegen der Zerbombungen generell schon sehr knappen Wohnraum, mit dem Wiederaufbau – solltn sich doch die Alliierten um ihre jüdischen Schutzbefohlenen kümmern. Richtig ins Bewusstsein der nichtjüdischen Deutschen gelangt zu sein scheint das DP-Drama zu keiner Zeit.

    Und nun off topic, aber, wie gesagt nur halb: haGalil berichtete in http://buecher.hagalil.com/2013/05/murmelstein/ über den in Cannes vorgestellten Claude Lanzmann Film „Le Dernier des Injustes”. Beschämend ist, dass die Filmverleiher da das gleiche Desinteresse vermuten wie es sich damals bei den DPs zeigte. Die Zeitschrift „Der Freitag“ berichtet darüber: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/bloss-keine-komischen-gefuehle

    Zitat:

    „Der Umgang mit dem Holocaust ist dann easier, wenn man sich mit zehn Fotofiltern vor eine Gaskammer stellt und #interrailing #KZ drunterschreibt, statt wie Lanzmann das ungelöste Rätsel des 20. Jahrhunderts zu zeigen. Das nämlich hatte er uns in seinen mehrstündigen Epen über die Shoa getan. „Sich zu erinnnern ist gefährlich“, sagt Murmelmann an einer Stelle in dem vierstündigen Film, der einen Sog entwickelt und ein großer Kinomoment ist.

    Das ist ein Skandal, nicht nur ein deutscher, und er erzählt von einem Markt, der ohne den Knall in den ersten 15 Minuten an keinem Film mehr interessiert ist. Er entlarvt ein Empfinden und einen Vertrieb, der nach der Masse von (zu erwartenden) Likes entscheidet, statt nach Dinglichkeit und Anstand.“

    Zum besseren Verständnis, worum es eigentlich geht, bitte den gesamten Der Freitag Artikel lesen.

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