Der dritte Weg

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Mein Name ist Peter Rosenthal. Ich bin im Dezember 1960 in Rumänien geboren und beginne diese Arbeit über jüdische Identität nach dem Holocaust am ersten Weihnachtstag 2010. Dieses Jahr bin ich fünfzig Jahre alt geworden und die runde Zahl lädt zur Zwischenbilanz ein…

Von Peter Rosenthal

Obwohl ich mich als Jude fühle, feiere ich Weihnachten. Ob das geht? Es geht, ich tue es ja, denn es passt in meine Geschichte und die meiner Familie: eine Geschichte von Assimilation und Verharren in dem trotzigen und erfüllenden Gefühl, dass, obwohl man rein äußerlich scheinbar vieles, was man als „jüdisch“ wahrzunehmen gewohnt ist, abgelegt hatte, sich in seinem inneren Wesen und auf seine eigene Art und Eigenart als Jude begreift – jedenfalls geht es mir so.

Schon in Rumänien, wo ich meine ersten dreizehn Jahre verbrachte, sprach äußerlich nichts dafür, dass ich Jude sei. Man hat es mir mitgeteilt, und nach und nach hat man mich auch über die große Bedeutung dieser „Sache“ ins Bild gesetzt. Einige unserer Freunde feierten Hanukka und den Seder Abend, und auch ich bin hin und wieder dazugeladen worden. Manche der Freunde meiner Eltern und sogar meine Großmutter fasteten zu Yom Kippur. Ich hatte ein oder zwei erfolglose Versuche dahingehend gestartet, aber konnte keinen Sinn im Hungern erkennen.

Weihnachten wurde traditionell nicht gefeiert, und Weihnachtsgeschenke gab es ohnehin nicht, und dann auch noch Fasten, das wäre des Guten zuviel gewesen. In einem kommunistischen Land um 1970 war es unverfänglicher sich des „Jüdischseins“ durch Unterlassung zu vergegenwärtigen als durch „suspekte“ kultische Aktivitäten. Ich glaube, meine Eltern und Großeltern waren dem lieben Gott dafür dankbar, dass sie dem Holocaust als Südbanater durch eine Laune des Schicksals entkommen waren, so dass ihnen nichts ferner lag, als in den Augen der neuen Machthaber nun auch noch auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit aufzufallen. Man hatte schon genug Ärger gehabt: Zwangsarbeit, Enteignung, neuerliche Enteignung … und so weiter; man möchte sagen: das Übliche.

Dadurch, dass ich nach außen hin das Jüdischsein weder verleugnete noch zelebrierte, wurde es für mich etwas Eigenes, Privates, Identitätsnahes, und in der der Zeit der totalitären Diktatur in Rumänien Identitätsstiftendes, ja auf paradoxe Weise sogar etwas Befreiendes.

Das Rumänien meiner Kindheit zwischen 1960 und 1970 war eine Nachkriegsfiktion, eine real existierende Lüge, ein Gefängnis, dessen Wärter Ceausescu, ein Paranoiker, über unser Schicksal schaltete und waltete. In dieser Welt war es überlebenswichtig, sich „anders“ zu fühlen, denn das, was man damals zu erleben hatte, machte selbst für ein Kind keinen Sinn. Dieses Bewusstsein, in Wahrheit „ein Anderer“ als der zu sein, der in der äußeren Wirklichkeit erschien, wurde der Kern meiner Identität. Ich brauchte diesen Kern, der mir gegenüber dem totalitären Regime in Rumänien den nötigen Abstand verschaffte. Es ließ mich den Weggang meiner Eltern und das zweijährige Warten auf ein Ausreisevisum ertragen und gab mir auch die nötige Kraft für meinen ersten Schultag in der Wunderwelt der Bundesrepublik.

Als die Ceausescu-Diktatur samt Ostblock auf dem Müllhaufen der Geschichte landete, arbeitete ich als Assistenzarzt in einem katholischen Krankenhaus in Köln. Ich war der einzige jüdische Mitarbeiter zu dieser Zeit im Hause. Ich fühlte mich auch recht wohl, denn vieles war mir, wenn auch auf fremde Weise, doch vertraut, so auch, als bei einer Messe zu Ehren des in unserer Abteilung verstorbenen Kardinals plötzlich die Belegschaft beim „Vaterunser“ vor meinen Augen niederkniete. Vertraut war mir dabei die Tatsache, dass ich für mein eigenes Verhalten keine „Koordinaten“ zu Verfügung hatte. Ich befand mich etwa in der Mitte der Kapelle und wusste nicht, was zu tun sei: knien oder nicht knien, das schien hier die Frage zu sein. Knien war ausgeschlossen, und als einziger nicht zu knien wäre etwas auffällig gewesen, also musste ich die Aufgabe, die Fragestellung selbst verändern, ein in solcher Lage fast überlebenswichtiger Vorgang. Also hieß es bald für mich: tertium datur? Gibt es einen dritten Weg? Und die Antwort war: datur! – ja es gibt einen dritten Weg! Und schon saß ich bequem auf der Bank.

Ein Anderer zu sein, das ist nicht nur eine Frage von Ort, Zeit und Person, sondern hin und wieder auch eine Frage der Position und des daraus resultierenden Blickwinkels. Jahre zuvor, an meinem ersten Schultag in Westdeutschland, war ich schon einmal in die „falsche Position“ geraten. Und das kam so:

Der erste Schultag in Köln ließ nicht lange auf sich warten. Von der schwarzen rumänischen Schuluniform mit gestickter Schülernummer war ich zwar befreit, aber die Schulkleidung wurde für mich erst in Köln zu einem richtigen Problem, denn, und ich wusste das schon am ersten Schultag: meine war verkehrt. Es kann wohl nicht nur an den Einzelheiten gelegen haben, obwohl auch diese es in sich hatten, vielmehr muss es die Komposition gewesen sein, die strenge, liebevolle Ordnung, die meine Mutter hergestellt hatte, die es in jedem Fall vermeiden wollte, dass ihr Sohn ungepflegt aussah. Das ist ihr auch zweifellos gelungen: Wollpullover in beige, darunter ein rotes Hemd mit dem Kragen nach außen, taubengraue, auf Falte gebügelte Hose, Haare gescheitelt. Und erstmals lief ich Gefahr, in einer Schule, in der Parkas und abgewetzte Jeans normal waren, gegen den Strom zu schwimmen. Nichts lag mir ferner, aber bei dem Outfit, ließ sich das Auffallen gar nicht vermeiden, und so gelangte ich in nämlicher Verpackung in die vollkommen fremde Welt einer Kölner Schulklasse.

Die Klassenkameraden nahmen keine besondere Notiz von mir, wenn ich auch eine gewisse Befremdung aus ihren Augen herauslas. Gott sei dank musste man am ersten Schultag auch nicht singen. Ich verdrückte mich schnell in die letzte Bank, wo mir die Illusion blieb, ich könnte alles unter Kontrolle behalten. Von da aus konnte ich die Lage auskundschaften ohne zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken: Jeans, lange Haare, Schminke, Nagellack, Zigaretten, laute, manchmal vorlaute, aber alles in allem selbstbewusste Stimmen. Währenddessen bereitete ich mich innerlich auf die erste Unterrichtsstunde in Westdeutschland vor und versuchte so selbstverständlich zu wirken, wie es mir damals nur möglich war. Aber nichts war selbstverständlich, ich schwitzte Blut, nur sah man es nicht. Ich sprach mit einigen Jungs und war erstaunt, dass ich sie verstand, und noch mehr darüber, dass auch sie mich damals trotz meines Radebrechens zu verstehen schienen. Eines wurde mir sofort klar, die Haare mussten länger werden, da war Geduld angesagt. Die Mädchen traute ich mich nicht anzusprechen. Geschminkt und Zigaretten rauchend auf dem Pausenhof wirkten sie auf mich ganz fremd, und ich hatte fast Sehnsucht nach meinen ehemaligen Klassenkameradinnen, die in Arad mit weißen Socken, Haarband und hinter dem Rücken gefalteten Händen die Schulbank drückten.

In Biologie hatten wir eine sehr junge Lehrerin. Sie fuhr Porsche und sah in ihren „Wrangler“ zehn Jahre jünger aus als ich. Kaum hatte meine erste Unterrichtsstunde begonnen, als ich sie sagen hörte: „Ach, wir haben einen neuen Schüler.“ Ich sprang hoch, so wie es bei uns in Rumänien üblich war, und rief in kerzengerader Haltung, Brust nach vorne, Schulter zurück, laut und deutlich: Rosenthal. Als sich die vierundzwanzig Köpfe meiner neuen Klassenkameraden gleichzeitig nach hinten drehten, wusste ich, dass mein Debüt im Fach Biologie nicht wirklich ein Erfolg war.

Mal sitzt man verkehrt, mal ist Aufstehen nicht richtig, so geht es zu in der Emigration.

Bevor ich also in den weißen Arztkittel meines Vaters und Großvaters schlüpfte, gab es die schwarze Schuluniform und die Pionieruniform in Rumänien, die gepflegte Kleiderausstattung meiner Mutter, dann Jeans und lange Haare und später die Turnschuhe, Jeans und Sakko. Die Emigration ist ein Dauerspagat zwischen der Kunst der Assimilation und dem Bewahren von Tradition – dem Wesen nach eine alte jüdische Disziplin mit vielen Vorgängern und Epigonen.

Die Tatsache, dass ich, gleich meinem Vater und Großvater, Medizin studiert hatte, bedeutete für mich lange Zeit insofern ein inneres Versagen, als ich nichts Neues, „Anderes“ zustande gebracht hatte. Und es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass diese Familientradition in mancherlei Hinsicht einem überhöhten Traditionsbewusstsein entsprach, welches durch fortwährende Assimilation und durch die Ausreise gerade nach Deutschland noch zusätzlich angestachelt wurde: Arztsein, das war in der Geschichte meiner Familie die letzte Bastion des Selbstgefühls Jude zu sein.

So wurden als Beigabe zwei gegensätzliche generationsübergreifende Aufträge erteilt: das Eigene zu bewahren und im „Wesen“ doch ein „Anderer“ zu sein. Ein Anderer als ein sich äußerlich assimilierender Jude.

Den Spagat, sich selbst als Jude treu zu bleiben und stets nach jenem Anderssein zu trachten, welches sich zwischen der Welt des Glaubens und jener der Assimilation, also über die Abgründe der jüdischen Geschichte – und zwar nicht erst nach der Schoah – spannt, das hatte ich im Schreiben zu vollziehen versucht.

Als ich Vierzig wurde, nahm ich mir vor zu schreiben, ein Schriftsteller zu werden und damit möglichst große Anerkennung bei meiner ambivalenten jüdischen „Mission“ zu erlangen. Ich wähnte mich bald als Schreibender und somit glaubte ich mich im weitesten Sinne im Zeichen der „Schrift“ wahrgenommen und dadurch geadelt.

Vielleicht habe ich damals so gedacht, ohne mir dessen bewusst zu sein? Aber auch dann, wenn dieser Gedanke heute genau so wenig stimmen sollte wie damals, so gefällt mir doch die damit verbundene Idee, dass sich die heilige Schrift selbst dann vermittelt, wenn man sie aus Mangel an Hebräischkenntnissen, wie in meinen Fall, nicht lesen kann.

Da mir jegliche Form von Okkultismus fremd und nach den Jahren der Diktatur auch noch mehr als suspekt ist, erlaube ich mir trotzdem diese Phantasmagorie – gleichsam als homöopathischen Eingriff in den Prozess meiner mehr oder weniger bequemen bürgerlichen Assimilation. (…)

Es war diese Ambivalenz zwischen Nähe und Ferne, Annäherung und Entfernung, tiefem innerem Bekenntnis und äußerlich radikalem Wandel, dieser Gegensatz zwischen Ost und West, der mich aus meiner Geburtsstadt Arad in Rumänien bis in meine Heimatstadt Köln nach Deutschland begleitet hat. Und diese Art der Ambivalenz ist es, die mich im Verborgenen angetrieben hat zu schreiben. So kam mein „Briefroman“ mit dem Titel „Entlang der Venloer Strasse“ ((Peter Rosenthal: Entlang der Venloer Strasse. Briefroman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003)) zustande. Während dieser Zeit, in der ich mich sowohl der Ambivalenz meiner jüdischen Identität wie der Ambivalenz des Schreibens aussetzte – nämlich gleichzeitig Verfasser und Gegenstand meiner Arbeit zu sein – erkannte ich mein Schreiben als eine Art von „homöopathischen Sprung“ in der Wahrnehmung meiner Identität als rumänischer Flüchtling und Jude in Deutschland, denn das, was in Wirklichkeit keinen oder nur einen falschen Sinn ergab, schien sich auf dem Papier doch wie von selbst zu erklären.

So wurde mein Schreiben ein Ins-Ungewisse-Rühren, ein Rühren an der Vergangenheit. Und so erinnerte ich mich daran, wie ich als Kind bei einer Unterhaltung meiner Mutter mit einer ihrer Freundinnen den Namen Hitler aufschnappte. Ich fragte, wer das sei. Man sagte mir, das sei ein böser Mann gewesen, der sehr viele Juden umgebracht hätte. Ich fragte: was, wer seien Juden? Na wir, hieß es.

Darauf entgegnete ich nach kurzer Zeit: „Wissen Sie, Tante Luci, wenn ich mal groß bin, werde ich ein Buch schreiben, in dem ich zeigen werde, wie böse das ist.“

Luci antwortete: „Das ist gut, aber dann werde ich die erste sein, die das lesen darf“

„Gut, ich verspreche es, Tante Luci“, sagte ich. Und ich habe mein Versprechen auch gehalten. –

– – –

Heute ist Dienstag, 28. Dezember 2010. (…) Es sind Weihnachtsferien; das Jahr geht jetzt mit großen Schritten seinem Ende zu – genauso wie die „zehn Seiten zur jüdischen Identität“. In diesem Jahr hätte, wie in anderen auch, einiges so – oder auch anders verlaufen können, und dies gilt in erster Linie für meine Einstellung zu meinem Jüdischsein, sprich: zu meiner jüdischen Identität. Vieles ist vorgelebt und vorerlitten worden. Einiges – Eigenes wie dieser Text – kommt hinzu.

 

Dieser autobiografische Beitrag ist erschienen in dem Band Roland Kaufhold & Bernd Nitzschke (Hg.) (2012): Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust. Schwerpunktband der Zeitschrift Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung Heft 1/2012, S. 113-117 (12 Euro). Der Text wurde für haGalil vom Herausgeber leicht gekürzt. Wir danken für die freundlich erteilte Nachdruckgenehmigung. Mehr zum Band

Buchvorstellung: Donnerstag, 4. Juli, 19.30 Uhr Köln, EL-DE-Haus, Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln
Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust – Kölner jüdische Autoren im Gespräch