Agitation gegen die Urbanen

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Faschisierung lautet der Befund dreier Kulturwissenschaftler über die politische Entwicklung in Ungarn. Weniger aufgrund des schleichenden Totalitarismus auf staatspolitischer Ebene als wegender „autoritären und völkischen Formierung in der Bevölkerung“…

Von Stephan Grigat, Die Presse v. 05.04.2013

Kaum jemand wird die Gefahren in Abrede stellen wollen, die von deutschen Neonazis oder der weitaus erfolgreicheren, von deutsch-völkischen Burschenschaften dominierten FPÖ ausgehen. Doch wollte man heute eine mehrheitsfähige autoritär-völkische Mobilisierung im klassischen Sinn ausmachen, müsste man viel eher auf ein Land wie Ungarn als auf die Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus schauen. Die Magyaren belegen bei vergleichenden Länderstudien zur Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit und klassischem Antisemitismus regelmäßig Spitzenwerte. 62 Prozent der Ungarn glauben, Romaseien „kriminell veranlagt“, und über zwei Drittel halten Homosexualität für unmoralisch. 46 Prozent machen „die Juden“ für die aktuelle Finanzkrise verantwortlich.

Fidesz, die Schwesterpartei der ÖVP, betreibt mit ihrer Zweidrittelmehrheit, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der noch in Opposition befindlichen, offen antisemitischen und rassistischen Jobbik, in einem atemberaubenden Tempo eine autoritäre Umgestaltung der Gesellschaft, die selbst die FPÖ vor Neid erblassen lassen dürfte. Deren Vorsitzender hat 2010 eine Delegation der Jobbik empfangen, die in Umfragen zeitweise bei fast 30 Prozent der Wählerstimmen gelegen ist.

Die Journalisten Andreas Koob und Holger Marcks sowie die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky richten in ihrer Studie zu den aktuellen politischen Veränderungen in Ungarn den Blick nicht nur auf die staatspolitische Sphäre, sondern legen großen Wert auf die Analyse der „autoritären und völkischen Formierung in der Bevölkerung“. Der Wahlsieg von Fidesz und Jobbik von 2010, bei dem die beiden Rechtsparteien zusammen über 80 Prozent der Parlamentsmandate gewonnen haben, sei nicht plötzlich über das Land hereingebrochen, sondern Ergebnis einer bereits seit Anfang der 1990er-Jahre zu konstatierenden Zunahme völkischen Denkens in der Gesellschaft. Während sie auf der staatspolitischen Ebene den Vorwurf des Totalitarismus angesichts der zwar massiv eingeschränkten, aber weiter existierenden demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrensregeln für übertrieben halten, sprechen sie hinsichtlich des gesellschaftlichen Prozesses von einer Faschisierung.

Mit geschichtspolitisch motivierten Opfermythen und einer atemberaubenden Täter-Opfer-Umkehr hinsichtlich der massenhaften Beteiligung von Ungarn am magyarischen Protofaschismus und an der nationalsozialistischen Herrschaft, mit außenpolitischem Revanchismus und Irredentismus, mit antiziganistischer Hetze gegen Roma und Antisemitismus, mit Demokratieabbau und volksgemeinschaftlicher Kalmierung sozialer Konflikte eröffne diese zumindest die „Option auf den Faschismus“.

Kaum Chancen für die Opposition

Das Autorentrio gibt einen kurzen Überblick über die außerparlamentarische Opposition gegen Orbán, die immerhin bis zu 80.000 Menschen auf die Straße zu bringen vermag, auch wenn ihnen in aller Regel bis zu 200.000 regierungsfreundliche Demonstranten gegenüberstehen. Nicht zuletzt aufgrunddes neuen Wahlgesetzes sei es selbst bei einer Vereinigung der derzeit zersplitterten Opposition unrealistisch, dass die Gegner von Fidesz und Jobbik die Parlamentswahlen 2014 für sich entscheiden können. Insofern ist es kein Wunder, dass bereits zahlreiche kritische Intellektuelle das Land verlassen haben.

Im einleitenden Kapitel, das ein strukturierendes Lektorat gut vertragen hätte, zeigt Magdalena Marsovszky, wie sich in der allgegenwärtigen Agitation gegen „die Urbanen“ ein nur mäßig kaschierter Antisemitismus ausdrückt. Im Geschichtsrevisionismus der Orbán-Administration konstatiert die Autorin eine Kombination aus antikommunistischem und antiliberalistischem Antisemitismus. Dieser schlage sich etwa im Budapester „Haus des Terrors“ mit seinen zwei Räumen über die Nazi-Zeit gegenüber 21Räumen über die Zeit des Realsozialismus nieder. Die Ausstellung des von der Regierung massiv geförderten Hauses charakterisiert Marsovszky als eine einzige „Mobilisierung gegen die ,verjudeten Sozialisten‘ und gegen die ,verjudeten Liberalen‘“.

Auch in Fidesz-Publikationen finden sich offen antisemitische Töne. Dennoch: Die treibende Kraft bei der offenen Hetze gegen Juden bleibt die Jobbik. Das Autorentrio wendet sich gegen die in europäischen Medien immer wieder anzutreffende Verharmlosung der Jobbik als „rechtsextrem“ oder gar „rechtspopulistisch“ und charakterisiert sie als Partei, die „jedes Kriterium einer klassisch faschistischen Bewegung erfüllt“. Dabei stellt sich die Frage, ob das nicht eine Verharmlosung bedeutet, denn die Jobbik stellt sich viel weniger in die Tradition des ungarischen Protofaschismus des bis 1944 autoritär regierenden Reichsverwesers Miklós Horthy, auf den sich Vertreter der Fidesz immer wieder positiv beziehen, sondern ganz explizit in jene der Pfeilkreuzler, also der ungarischen Nazis, die sich insbesondere durch ihren Vernichtungsantisemitismus von klassischen Faschisten nochmals deutlich unterscheiden.

Das Autorentrio betont, dass die „ideologischen Referenzen“ von Fidesz und Jobbik „gravierende Schnittmengen zeigen“. Dennoch wenden sie sich gegen eine einfache Gleichsetzung der beiden Parteien und sprechen stattdessen von einem „Wechselspiel“, bei dem die Jobbik die Regierung in vielen Punkten vor sich hertreibt und als Stichwortgeber und „Schrittmacher der völkischen Politik unter Orbán“ fungiert.

Die Ökonomie wird in dem Band als „zentrales Kampffeld“ der „nationalistischen Strategie“ der Fidesz ausgemacht. Ähnlich wie in der schwarz-blauen Koalition in Österreich galt eine der ersten Maßnahmen der Orbán-Regierung der Zusammenlegung von Arbeits- und Wirtschaftsministerium in ein „Ministerium für Volkswirtschaft“, in das in Ungarn auch die Finanzagenden integriert wurden. Es zählt zu den Verdiensten des Buches, die regressiv-antikapitalistische Stoßrichtung der ungarischen Rechten herauszuarbeiten und ihre gegen „den Westen“ und den Liberalismus gerichteten Ressentiments ins Zentrum der Kritik zu rücken.

Konstatiert wird ein „Antikapitalismus von rechts“, der Konfrontationen nicht durchKonfliktaustragung nach innen, sondern mittels der Konstruktion einer „Volksgemeinschaft“ gegen äußere Feinde richtet. Das artikuliert sich beispielsweise in einem „Kampf gegen die Banken“ bei gleichzeitiger Unterstützung eines „produzierenden Kapitalismus“. Dieser wird von einem ausgeprägten Arbeitsethos und einem autoritären Arbeitsregime flankiert, das bis hin zu Maßnahmen reicht, die nur noch als Zwangsarbeit zu charakterisieren sind, und die in erster Linie die sozial ausgesprochen benachteiligten Roma treffen.

Marsovszky, Koob und Marcks zeigen, wie auch in den Auseinandersetzungen Ungarns mit Brüssel offener Antisemitismus und der Hass auf Israel durchschlagen, etwa wenn in einer Fidesz-nahen Zeitung, dem „Imperium Europa“, ein „Blutritualmord am Nationalstaat“ attestiert wird, oder wenn auf gemeinsamen Demonstrationen von Jobbik, Fidesz und anderen rechtsgerichteten Gruppierungen die EU als „verjudete Gemeinschaft“ und „zionistisch fremdbestimmt“ attackiert wird oder von einer „Achse Tel Aviv – New York – Brüssel“ die Rede ist.

Orbán erhält in letzter Zeit immer stärkere Unterstützung aus der Europäischen Volkspartei, insbesondere aus Deutschland und Österreich. Der Unionspolitiker Bernd Posselt, Vertriebenenfunktionär und außenpolitischer Sprecher der CSU im Europaparlament, sprach hinsichtlich der Kritik an den autoritären Tendenzen in Ungarn von „politischer Hysterie“; sein Fraktionskollege Manfred Weber kanzelte die Kritik als „ideologischen Zirkus“ ab. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber bezeichnete Orbán als „letzte Hoffnung für Ungarn“, und auch Exkanzler Wolfgang Schüssel hat sich mittlerweile in die Riege der Orbán-Verteidiger eingereiht.

Die Fidesz-Regierung tritt nicht nur im Inneren des Landes ausgesprochen forsch auf, sondern betreibt auch eine aggressive Außenpolitik, insbesondere mittels einer Instrumentalisierung der in den Nachbarländern lebenden Auslandsungarn, die in Bratislava, Bukarest und Belgrad zu schweren Verstimmungen geführt hat.

Im Rahmen eines obskuren rassentheologischen „Turanismus“, der zum ideologischen Leitbild der gen Osten orientierten neuen ungarischen Außenpolitik wurde, werden nicht nur die Gemeinsamkeiten der Magyaren mit den „zentralasiatischen Völkern“ in Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan und Turkmenistan beschworen, sondern auch mit dem Iran. Das Autorentrio verweist auf einen regelmäßigen Austausch zwischen der Jobbik und dem Botschafter des iranischen Regimes in Ungarn. Die Jobbik-EU-Parlamentarierin Krisztina Morvai hat an Konferenzen des Holocaustleugnerregimes in Teheran teilgenommen, und Parteichef Gábor Vona hat vor den Parlamentswahlen 2010 Ahmadinejad aufgefordert, iranische Revolutionswächter als Wahlbeobachter nach Ungarn zu schicken.

Ökonomische Beziehung zum Iran

So ist es nicht weiter überraschend, dass die Partei sich regelmäßig mit dem iranischen Regime solidarisiert und auf einen Ausbau der ökonomischen Beziehungen mit Teheran setzt. Iranische Nachrichtenagenturen bezeichnen Ungarn als Tor „in Richtung Mittel- und Osteuropa“. Besonders bemüht um das ungarisch-iranische Verhältnis ist Márton Gyöngyösi, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Jobbik, der durch den Vorschlag einer „Judenzählung“ im Parlament von sich reden macht. Tiszavasvári, ein Ort im Osten Ungarns, der von Jobbik als eine Art „Hauptstadt der Bewegung“ betrachtet wird, hat unlängst eine Städtepartnerschaft mit dem iranischen Ardabil geschlossen.

Der ökonomische Nutzen dieser Freundschaft bleibt allerdings zweifelhaft. Die sowohl von Fidesz als auch von Jobbik betriebene Annäherung an das iranische Regime samt Ausbau der ökonomischen Beziehungen kann kaum eine ernsthafte Alternative zur EU darstellen. Nur macht die Erfolglosigkeit vieler Projekte der völkisch-autoritären Kräfte in dem mitteleuropäischen Land die Hetze der ungarischen Rechtsparteien kein bisschen weniger gefährlich.

Es steht zu befürchten, dass die Angriffe gegen all jene, die sich von den ressentimentgetriebenen Projektionen bedroht fühlen, aggressiver werden, je mehr sich die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Orbán-Regierung als aussichtsloser Versuch erweisen, den Gesetzmäßigkeiten des Weltmarkts mit autoritären Krisenlösungsmodellen etwas entgegenzusetzen.

1 Kommentar

  1. „Agitation gegen die Urbanen“

    (Unter Urbanisierung (lat. urbs: Stadt) versteht man die Ausbreitung städtischer Lebensformen.) wiki

    Sie wollen also gegen städtische Lebensformen agitieren, zurück in den Kibbutz ?

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