Vor sechs Jahren wurde der armenische Journalist Hrant Dink ermordet. Als Herausgeber der armenischen Zeitung Agos wurde er immer wieder wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht gebracht. Am 29. Januar 2007 wurde Hrant Dink vor dem Verlagshaus der Zeitung erschossen. Fünf Jahre später wurde von den insgesamt 19 Verdächtigen nur ein Angeklagter verurteilt, und das obwohl offensichtlich ein Netzwerk türkischer Nationalisten die Ermordung plante. Im vorliegenden Text von 2006 erinnert sich der Historiker Taner Akçam an Dink. Akçam, der als einer der ersten türkischen Akademiker den armenischen Genozid thematisierte, wurde 1976 in der Türkei verurteilt, konnte aus dem Gefängnis fliehen und nach Deutschland gelangen. Er arbeite am Hamburger Institut für Sozialforschung und promovierte im Anschluss in Hannover. Heute lehrt er an der University of Minnesota…
Von Prof. Dr. Taner Akçam
12. Oktober 2006, Quelle: Allerweltshaus
Es schmerzt jeden Menschen, wenn er etwas verliert. So wie der Verlust von Hrant uns allen Schmerz zufügte. Mich schmerzt es am meisten, einen mir nahe stehenden Menschen, einen Bruder verloren zu haben.
Wenn von Istanbul die Rede ist, dann schmerzt mich am meisten, dass die Hälfte dessen, was für mich Istanbul ausmacht, verschwunden ist. Um von Istanbul nach Minneapolis zu gelangen, muss man morgens um 4 Uhr am Flughafen sein. Ich sagte dann: “Hrant, sei darauf gefasst, dass ich dich wieder bis in die Morgenstunden um den Schlaf bringe”. Wir durchwachten die Nacht in seiner Wohnung, er in einem Sessel, ich in einem anderen, halb schlafend, mit einem Auge auf den Fernseher und die andere Hälfte mit Gesprächen über das, was wir noch nicht besprochen hatten.
Er brachte mir das Angeln bei. Stundenlang saßen wir im Boot, sprangen ins Wasser oder nahmen seinen Bruder Orhan oder seinen lieben Freund und Haftgenossen Necdet auf den Arm oder wir machten geistreiche Witze darüber, wer der Meister im Fischefangen sei. Am genüsslichsten war dabei, die gefangenen Fische abends zum Restaurant zu bringen, sie braten zu lassen und dazu Anisschnaps zu trinken. Etyen (Mahçupyan) hatte einen Hang zu Pferderennen und es war ein eben solcher Genuss, dass ich gezwungen wurde, dabei mitzumachen. Mit wem soll ich all das nun machen?
Ich habe die Leere, die dieser Verlust in meinem Leben hinterließ, den Schock, der mich befiel, immer noch nicht überwunden. Nach meiner Rückkehr von der Beerdigung bin ich an manchen Tagen 24 Stunden lang nicht aus dem Bett gekommen; an anderen Tagen habe ich 12 Stunden lang geschlafen. Vor Hrant’s Tod pflegte ich in aller Herrgottes Frühe gegen 3 Uhr aufzustehen und zu arbeiten. Nun stehe ich nicht mehr auf. Ich habe viele Sachen sein lassen… Als dann Orhan mir in den letzten Monaten am Telefon sagte, dass Arat nach Belgien gehen würde, hat vieles für mich seinen Reiz verloren…
Es heißt, dass Schreiben vieles kurieren könne. Also mache ich das mal. Ich werde unsere letzten Gespräche aufschreiben. Ich werde aufschreiben, was ihm zuletzt durch den Kopf ging, was er mit mir teilte. So werde ich mich vielleicht beruhigen und so wird wenigstens etwas von dem. was er vorhatte, bekannt.
Ich werde nicht über unser Projekt berichten, im Namen der Zeitschrift AGOS einen Verlag zu gründen und eine Reihe von Büchern zu publizieren. Ich werde auch nicht darauf eingehen, dass wir für diese Buchreihe Übersetzungen von Memoiren zu 1915, aber meisten aus den 30er und 40er Jahren überwiegend aus der armenischen Sprache hatten machen lassen. Es geht auch nicht darum, dass er an eine 4-seitige Beilage für AGOS dachte, in denen er sich mit den Fragen um die Ereignisse 1915 herum befassen wollte. Diese 4 Seiten sollten nicht mit tief schürfenden Artikeln, sondern mit einfachen Fragen und Antworten gefüllt sein. Gewöhnliche Fragen und gewöhnliche Antworten…
Ich werde auch nicht darüber berichten, dass er mich bat, diesen Teil zu leiten und ich mich der Verantwortung entzog. Ich hatte ihm gesagt: “Ich habe keine Zeit, Hrant, ich bin kein Journalist und kann das nicht” und das hatte ihn überzeugt. Ich hatte ihm aber versprochen, auf die Fragen, die er stellen würde, Antworten zu schreiben. Mit den Worten “Schreib du die Fragen, ich werde Antworten schreiben” hatte ich ihm den Ball zugespielt und musste nichts mehr machen. Da er so viel zu tun hatte, war es ihm nicht gelungen, die 100 Fragen in seinem Kopf zu Papier zu bringen. Nein, nein davon will ich nicht berichten, ich werde Ihnen nur von Gesprächen berichten, die wir am 4. und 5. Januar 2007 führten. Vielleicht lernen Sie Hrant auf diese Art besser kennen.
Wenn ich unsere Unterhaltung über seine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die Argumente, die er dort vorbringen wollte, die jüngsten Drohungen gegen ihn, die pessimistische Aussichten für das Jahr 2007 und die Gründe, warum er ins Ausland gehen solle, beiseite lasse, so haben wir über drei wichtige Themen gesprochen. Das kann man auch als drei wichtige Gedanken, drei wichtige Projekte von Hrant bezeichnen. Die Bedeutung von Hrant für die Türkei, für türkische und armenische Menschen liegt in diesen Projekten verborgen. Sein Tod hat vieles davon vermutlich in eine ungewisse Zukunft geworfen. Die Zeilen lassen uns vielleicht die Bedeutung von Hrant und was wir durch seinen Tod verloren haben, besser verstehen.
Die Diaspora Konferenz
Hrant sah es als unbedingt notwendig an, dass unter den armenischen Organisationen in der Diaspora eine Konferenz organisiert wird. Es sollte bei dieser Konferenz, um die politische Haltung der armenischen Organisationen in der Diaspora gegenüber der Türkei gehen. “Wir müssen uns unbedingt miteinander auseinander setzen”, sagte er. Ihn störte die allgemeine Linie, die die Organisationen in der Diaspora der Türkei gegenüber einnahmen, zutiefst. Als ich ihm sagte “Hrant, es gibt keine homogene Struktur der Diaspora. Deshalb ist es nicht richtig, so ein Wort eindimensional zu benutzen, du machst da einen Fehler“, antwortete er, „das weiß ich“. “Du verstehst, was ich sagen will. Wenn ich Diaspora sage, meine ich eine bestimmte Geisteshaltung, ein bestimmtes Verständnis. Heute herrscht in einem wichtigen Teil der Diaspora eine bestimmte Geisteshaltung, die am deutlichsten von den Daschnaken verkörpert wird und die auch du nicht leugnen kannst. Diese Geisteshaltung ist völlig falsch und trägt nichts zur Lösung des Problems bei; ich behaupte sogar, dass sie zur Ursache des Problems geworden ist.”
Was ihn hauptsächlich störte, war das Desinteresse, die fehlende Sensibilität der Diaspora Organisationen gegenüber dem, was in der Türkei passierte. Ihn störte, dass sie die Türkei und die dort lebenden Menschen als einen einheitlichen Block ansahen.
Dass sie die Türkei und die dort lebenden Menschen als den „Feind auf der Gegenseite“ sahen. “Taner, die Sache wird hier in der Türkei erledigt werden; das sehen sie nicht; sie werden dieses Problem sonst nirgendwo lösen. Indem sie die Sache anderen, den Amerikanern, den Franzosen übergeben und sich in ihre Obhut begeben, werden sie nichts ausrichten. Das Problem wird in der Türkei sein Ende finden”, sagte er. Es regte ihn fürchterlich auf, dass den Diaspora Organisationen der Kampf um Demokratie in der Türkei egal war und sie sich extrem auf dritte Parteien stützten. “Es gibt nichts Unwürdigeres als von der amerikanischen Regierung oder den europäischen Staaten die Lösung unserer Probleme zu erwarten”, dachte er. Er sagte: “Es ist keine gesunde Einstellung, sich derart stark auf andere zu stützen”.
Hrant wiederholte mir gegenüber ständig den Satz: “Ich muss ihnen das erklären. Sie müssen sehen, dass der wesentliche Punkt der Problemlösung im Erschaffen einer demokratischen Türkei liegt. Sie müssen eine Politik entwickeln, die mit dem Kampf um Demokratie in der Türkei im Einklang steht. Sie müssen sehen, dass eine undemokratische Türkei, die mit der Unterdrückung der Minderheiten weitermacht, sich vielleicht einem äußeren Druck beugt und eine einfache Entschuldigung ausspricht. Ist es das, was sie wollen? Was wäre schon, wenn eine undemokratische Türkei, die Menschenrechte nicht respektiert, kein Recht auf Meinungsfreiheit gewährt, in Bezug auf die Vergangenheit ‚Entschuldigung‘ oder ‚ja, es war ein Völkermord‘ sagt? Ist es das, was sie wollen?“
Hrant sagte auch deutlich, was er von den Diaspora Organisationen erwartete: „Sie müssen von der einfachen Anti-Türkei Linie, der Anti-Türken Linie Abstand nehmen. Sie müssen aufhören, die Türkei als einen unitären Block anzusehen. Sie müssen die Geisteshaltung von ‚alles was der Türkei und den Türken schadet, ist von Nutzen‘ aufgeben.“ Als ich ihm entgegnete: „Hrant, wenn eine solche Konferenz veranstaltet wird, kommen sie, reden und gehen wieder; ich denke nicht, dass sie ihre Politik ändern“ entgegnete er, „Nein, nein, sie müssen es verstehen, ich muss es ihnen erklären, wir müssen uns miteinander ernsthaft auseinander setzen, sie haben noch nicht einmal die Bedeutung des Kampfes in der Türkei bemerkt. Es ist unbedingt notwendig, mit den Armeniern in der Diaspora sehr offen und deutlich zu reden, uns auseinander zu setzen.”
Hrant war so von sich überzeugt, redete mit einer solchen Schärfe… Eine seiner wichtigsten Eigenschaft, die man kennen sollte, lag wohl darin. Er hatte ein großes, wirklich großes Selbstvertrauen. Er glaubte daran, dass er die Fähigkeit und Kompetenz besaß, viele Dinge zu ändern. Er sah sich wohl auch als Garantie für das was er zu tun imstande war, leisten würde und mag sein, dass der damit auch nicht ganz Unrecht hatte.
Er hatte auch schon Initiativen ergriffen, um die Konferenz der armenischen Diaspora nach seinen Vorstellungen zu organisieren. Er hatte mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments gesprochen und sie gebeten, Gastgeber einer solchen Konferenz zu sein. Bei unserem letzten Gespräch hat er mir erneut erzählt, wie wichtig eine solche Konferenz sei und hatte hinzugefügt, dass er gute Fortschritte bei den technischen Vorbereitungen erzielt hatte. Mit seinem Tod blieb die Initiative der Konferenz stecken. Vielleicht wird sie nie stattfinden. Denn außer ihm gibt es wohl niemand, der laut und deutlich den Standpunkt vertritt, dass die Diaspora Organisationen ihre Türkei-Politik überprüfen müssen.
Eine der Antworten auf die Frage, was uns der Kampf von Hrant bedeutet, ist wohl die Diskussion zu beginnen, an die er gedacht hat. Ich schlage vor, dass die verschiedenen Organisationen, die in der Diaspora aktiv sind, diesen Vorschlag ernst nehmen. Im Endeffekt war Hrant ein sprudelnder Quell, der türkische und armenische Menschen zusammenführen wollte, ein Zweig, der auf dem Boden der Türkei spross. Sie haben unseren Zweig abgesägt, haben unsere Quelle zum Versiegen gebracht. Einer der Wege, auf dem seinem Andenken Respekt entgegen gebracht werden kann, kann darin bestehen, eine solche Konferenz zu organisieren. Es können ernsthafte Diskussionen zur Türkei-Politik entwickelt werden. Ein Andenken leben zu lassen, heißt wohl: die Fahne vom erreichten Punkt an weiter zu tragen!
Initiative zur Normalisierung der Armenisch-Türkischen Beziehungen
Es wird viele von Ihnen verwundern, aber Hrant glaubte, dass 1915 für die türkisch-armenischen Spannungen nicht das zentrale oder Hauptproblem darstellte. Um nicht missverstanden zu werden, er sagte nicht, dass der Völkermord kein Problem sei. Er glaubte, dass die eigentliche Spannung der Gegenwart zwischen Türken und Armeniern nicht darin bestand, andere Meinungen zu 1915 zu vertreten, sondern sie zum großen Teil daher rührte, wie die Seiten sich heute betrachten. Dies war nicht die Diskussion um Ei oder Huhn. Er sah natürlich, dass die heutige Auffassung auf einer bestimmten historischen Erfahrung aufbaut und das sagte er auch so. Aber ihm zufolge lag der Zauber, der den gordische Knoten lösen könnte, nicht in der Geschichte, sondern in den heutigen Beziehungen.
Ihm zufolge gab es auf beiden Seiten Kreise, die keine Beziehungen zueinander wollten, Feindschaft hegten und sich damit nährten. Diese Kreise übten auf ihre eigenen Gesellschaften einen ernsthaften psychologischen Druck aus. Seiner Meinung nach nutzten diese Kreise die Geschichte bewusst in diese Richtung aus und sahen in der Geschichte ein Mittel um die heutigen Feindschaften zu vertiefen. Er sagte, dass gerade in der Türkei bestimmte politische Kreise absichtlich eine anti-armenische Politik betrieben und glaubte, dass es das Hauptproblem sei, die bestehende Politik zu ändern.
Der Schlüssel lag also in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit.
Das zentralste Problem war für Hrant, dass die Grenze verschlossen war. Er glaubte, dass alle Bemühungen und Gewichte auf die Öffnung der Grenze zu legen seien. Er dachte, dass die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien auch die aus der Geschichte herrührenden Probleme zum großen Teil lösen werde, zumindest einen Beitrag zur Schaffung der Bedingungen für eine Lösung der Probleme leisten würde. “Beide Nationen wissen sehr gut, was in der Geschichte passiert ist. Wenn die Grenze geöffnet und eine normale Beziehung aufgebaut wird, sie sich gegenseitig anerkennen, dann fangen sie auch an, über die Geschichte zu sprechen..
Das eigentliche Problem sind die politischen Kreise, die nicht wollen, dass die beiden Völker direkte Beziehungen aufnehmen. Diese politischen Kreise benutzen die Geschichte, weil sie keinen Kontakt wollen. Dabei stimmt es nicht, dass die Geschichte ein Hindernis für heutige Beziehungen ist. Wir brauchen eine Herangehensweise, die nicht die Geschichte sondern die heutigen Beziehungen in den Mittelpunkt stellt. Wir müssen eine zivile Initiative starten, die die Beziehungen zu Armenien normalisieren will.”
Besonders in den Sommermonaten 2006 hatten wir dieses Thema sehr ausführlich diskutiert. In diesen Monaten vertrat ich die Ansicht (die ich immer noch vertrete), dass man den Vorschlag von Tayyip Erdoğan, eine Kommission von Historikern zu bilden, ernst nehmen solle, selbst wenn er sie nur gemacht habe, um den Eindruck zu erwecken, als würde er sich mit der Sache beschäftigen. Mit ihm diskutierte ich die Schritte, die wir als zivile Gesellschaft machen könnten, um eine solche Kommission ins Leben zu rufen und sagte ihm, dass es von Vorteil sei, wenn in der Türkei Druck von unten gemacht würde. Hrant fand meine Vorschläge, eine an der Basis angesiedelte zivile Initiative zu gründen, um den Vorschlag der Historikerkommission zu unterstützen und sie ins Leben zu rufen, nicht gut. Seine Ansicht war sehr deutlich: „Ich weiß, dass eure Arbeiten als Akademiker zur Geschichte wichtig sind, aber ich glaube nicht, das eine Geschichtskommission irgend etwas lösen kann“, sagte er. Er dachte, dass Aktivitäten, die sich auf die Geschichte konzentrierten und herausfinden wollten, was sich in der Geschichte abgespielt hat, keine großen Veränderungen hervorbringen würde. Deshalb war er gegen den Vorschlag der Historikerkommission. “Das ist nicht, was wir brauchen”, sagte er. Für ihn war es Zeitvergeudung, wenn man sich mit der Sache der Historikerkommission beschäftige.
Für ihn war klar: “Wir brauchen eine zivile Initiative, die sich direkt in die Tagespolitik der Türkei einmischt, die die Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen in den Mittelpunkt rückt, das müssen wir schaffen.“
Die ganzen Sommermonate und auch im Herbst 2006 hatten wir uns zu diesem Thema mehrfach getroffen. Wir kamen mit vielen Menschen als Einzelne oder als Gruppe zusammen, informierten uns über die Treffen und tauschten unsere Ansichten aus. Anfang Januar haben wir das Thema erneut diskutiert. Was er wollte, war der Beginn einer Initiative, an der sich die Vertreter der Organisationen der zivilen Gesellschaft in der Türkei direkt oder indirekt beteiligten.
Der größte Wunsch von Hrant war ein Treffen der türkischen und armenischen Organisationen der zivilen Gesellschaft und der Beginn einer Initiative, die die Normalisierung der Beziehung beider Länder in den Mittelpunkt stellte.
Ihm zufolge musste vor allem eine gemeinsame Sprache zwischen beiden Gesellschaften gefunden werden und Gespräche mussten normalisiert werden. Er sagte, dass wir mehr Türen für den Dialog brauchen und uns mit diesem Dialog gegen die Politik und Politiker wenden müssen, die die Menschen als miteinander verfeindet ansehen. Die Geschichte würde zu einem Problem werden, dass in einer „normalisierten Sprache und bei normalisierten Beziehungen“ zu lösen wäre. Als Erstes sei die Vormachtstellung der Logik, die die Geschichte zu einem Problem macht und sie absichtlich missbraucht, zu beenden.
Der Wunsch von Hrant nach einer zivilen Initiative, die die Normalisierung der Beziehungen und das Öffnen der Grenze in den Mittelpunkt stellt, ist ebenfalls auf halber Strecke stecken geblieben. Im Januar 2007 haben wir das Thema erneut besprochen. Die seit dem Sommer 2006 über Monate andauernde Initiative hatte kein Resultat erzielt. Er war gegen eine Art von Mauer von Schweigen und Desinteresse gestoßen. Gemeinsam beklagten wir uns über das Desinteresse der Organisationen einer zivilen Gesellschaft in der Türkei und der Intellektuellen. Es machte Hrant vor allem zu schaffen, dass die Intellektuellen nicht die Wichtigkeit des Themas erkannten. Wenn ich sagte, „wir sind allein, Hrant, allein“, dann schüttelte er nur seinen Kopf. Er wusste, dass er in der Mehrheit den Einsamen spielte. Viele mochten ihn und sahen in ihm „einen angenehmen Menschen, der gute Dinge machen wollte“, aber er hatte Schwierigkeiten, die Leute mit einem „auf geht’s“ in Bewegung zu setzen.
Es gibt eine Frage, auf die viele Menschen nur schwer eine Antwort finden: wie kam es dazu, dass an der Beerdigung von Hrant eine nicht vorhersehbare große Schar von Menschen teilnahm? Eine der Antworten liegt in dem, was ich oben ausführte. Die Wand des Desinteresses bei den Intellektuellen der Türkei und das Gefühl der Einsamkeit, das Hrant hatte, führte zu den Massen bei der Beerdigung. Meiner Meinung nach strömten die Menschen auf die Straße, um sich bei ihm zu entschuldigen. Sie wussten, dass sie diesen angenehmen Menschen, den sie jeden Tag im Fernsehen sahen und dessen Stellungnahmen sie in der Zeitung lasen, allein und hilflos gelassen hatten.
Das Gefühl eines tiefen Schmerzes, die Scham, ihn alleine gelassen zu habe und Selbstkritik haben uns auf die Straße getrieben.
Wenn wir von einer Bedeutung von Hrant Dink für uns, sein Erbes reden, dann sage ich, lasst uns für eine zivile Initiative arbeiten, wie er sie sich vorgestellt hat und geben wir der Initiative seinen Namen: Hrant Dink Initiative. Die erste Aufgabe der Hrant Dink Initiative wird sein, die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien zu normalisieren.
Ich möchte mich von hier aus an die Organisationen der zivilen Gesellschaft in der Türkei und Armenien sowie der Diaspora und an die Intellektuellen wenden, die einen Einfluss auf die Öffentlichkeit haben. Nehmen wir den Vorschlag von Hrant bitte ernst. Lasst uns für eine solche Initiative aktiv werden.
Verfahren wegen 301 und seine Gedanken zur Verteidigung
Gegen Hrant wurde ein Verfahren eröffnet, weil er das Wort Völkermord benutzt hatte. Die erste Verhandlung sollte im März sein. Es ist wichtig, die Gedanken von Hrant bezüglich seiner Verteidigung zu kennen. Denn viele Personen behaupten, dass Hrant Probleme mit dem Wort Völkermord hatte, so einen Begriff nicht benutzte, ja sogar von den Armeniern in der Diaspora verlangte, dass sie den Begriff meiden. Das sind falsche und ungerechte Ansichten und Meinungen.
Ich sollte zu Beginn an Hrant’s Haltung zum Gebrauch des Wortes Völkermord erinnern. Es ist richtig, dass Hrant in seinen Schriften und Reden das Wort Völkermord nicht benutzte, es nicht vorzog, ein solches Wort zu benutzen. Er zog es vor, sich aus Diskussionen herauszuhalten, in denen es darum ging, ob es 1915 in der Türkei zu einem Völkermord gekommen sei. Mit etwas Hohn meinte er: „ich weiß, was der Nation widerfahren ist, nennt es wie ihr wollt“. “Ich möchte nicht über das Wort oder die Begriffe diskutieren, ich möchte die menschliche Dimension in den Vordergrund rücken“, sagte er. Seine kurz gefasste Meinung war: „auf diesem Fleck Erde lebte eine Nation, die es nicht mehr gibt; man hat sie ihrer Wurzeln beraubt, so wie ein Baum von seinen Wurzeln getrennt wird. Ihr Leben hier wurde beendet. Ich kann dieses Drama nicht in Worte fassen, wenn ein Leben beendet wird; das müsst ihr erst einmal verstehen. Ich denke, dass kein Wort ausreicht, um dieses menschliche Drama zu beschreiben.”
Ich weiß das aus unseren privaten Gesprächen. Er zog es vor, vom Begriff Völkermord abzusehen, weil es für Spannung unter den Menschen sorgte und kein Beitrag zur Lösung des Problems war. In einem Interview hat er das so ausgedrückt: „Ich denke, dass der Name dessen, was passiert ist, nicht wichtig ist, wichtiger ist, was passiert ist. Mein Problem ist jedenfalls nicht, dass ihr es Völkermord nennt! Ich denke, dass diese Art von Vorgaben für die türkische Gesellschaft ganz falsch sind. Diese Gesellschaft muss verstehen, diskutieren und lernen.”1
So wie er sich in der Türkei nicht bei der Frage einmischte, wie die Ereignisse von 1915 benannt wurden, so hat er auch der Diaspora keine Regeln vorgesetzt. In keiner Weise hat er von der Diaspora verlangt, den Begriff Völkermord nicht zu benutzen. An diesem Punkt hatten wir eine gemeinsame Haltung: jeder kann jeden Begriff benutzen, niemand soll sich bei der Begriffswahl einmischen. Für Hrant war die moralische Haltung wichtiger als der Begriff.
Weil er in einer Reportage für die Agentur Reuters vom Reporter gedrängt wurde zu sagen, ob es sich um einen Völkermord handelt, hat er gesagt, „Ja, es war ein Völkermord“. Deswegen wurde gegen ihn ein Verfahren eröffnet. In welcher Weise sollte er sich verteidigen? Am 4. und 5. Januar ist er mehrfach auf dieses Thema zu sprechen gekommen. Wir haben uns über seine Verteidigung unterhalten. “Ich möchte das Verfahren zu einem Podium der Geschichte machen. Taner, bereite dich bitte vor und bereiten wir uns gemeinsam vor. Ich denke, ich werde sagen ‚Ja, es war ein Völkermord‘ und dann werde ich mich Punkt für Punkt verteidigen. Völkermord, weil, Völkermord, weil… ich werde mich verteidigen, um ihnen zu zeigen, dass die Geschichte vor Gericht steht.”
Wenn er nicht ermordet worden wäre, hätte er gesagt: „Ja, es war ein Völkermord und es ist kein Verbrechen, das zu sagen.“ Diese Verteidigung konnte er nicht vorbringen. Diejenigen, die über Hrant nicht zu Gericht sitzen konnten, haben Arat Dink und Sarkis Seropyan angeklagt und sie verurteilt, weil sie von Völkermord gesprochen hatten. Arat Dink, Sarkis Seropyan und ihre Anwälte denken, dass die Strafe eigentlich gegen Hrant ausgesprochen wurde und glauben, dass es notwendig ist, im Andenken an Hrant seine geplante Verteidigung zu übernehmen. “Ja, was 1915 geschah, war ein Völkermord; habt ihr damit ein Problem?”