Anna Freud (1895–1982)

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Vor 30 Jahren starb in London die Psychoanalytikerin Anna Freud…

Von Brigitte Nölleke

Anna Freud wurde am 3.12.1895 in Wien als jüngste Tochter Sigmund Freuds geboren. Sie war eine begabte, von ihm sehr geschätzte Schülerin und Mitarbeiterin ihres Vaters und nach dessen Krebserkrankung auch seine Pflegerin und offizielle Statthalterin. Von 1918 bis 1921 machte sie eine Analyse bei ihrem Vater und wurde 1922 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV). Im Jahr darauf eröffnete sie eine eigene psychoanalytische Praxis neben der ihres Vaters in der Berggasse 19. Seit 1925 Lehr- und Kontrollanalytikerin der WPV, hielt sie Vorlesungen und Seminare am Wiener psychoanalytischen Lehrinstitut ab, dessen Leitung sie 1935 übernahm. Als 1938 die deutschen Truppen in Wien einmarschierten, floh die Familie Freud nach London. Sigmund Freud überlebte die Emigration nur um ein Jahr.

Anna Freud gehörte zu den ersten, die Freuds Lehre um die Kinderanalyse erweiterten. Ursprünglich Lehrerin von Beruf, interessierte sie sich besonders für die Verbindung der Psychoanalyse mit pädagogischen Fragen. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Dorothy Burlingham-Tiffany gründete sie mehrere Einrichtungen für Kinder: 1927 die Hietzinger Experimentierschule in Wien, wo Kinder nach der „Projektmethode“ unterrichtet wurden, 1937 die Jackson Nursery, eine von Montessori-Ideen inspirierte Kinderkrippe für Wiener Arbeiterkinder, und 1941 das Hampstead War Nursery in London, ein Heim für Kriegskinder und -waisen. 1947 schuf Anna Freud die Hampstead Child Therapy Courses, eine Ausbildungsstätte für Kinderpsychoanalyse, der 1952 eine psychosomatische Kinderklinik angeschlossen wurde. Hampstead Child Therapy Clinic and Course wurde von Anna Freud bis zu ihrem Tod geleitet und danach in Anna Freud Centre umbenannt.

Eine Rivalin Anna Freuds auf dem Gebiet der Kinderpsychoanalyse war Melanie Klein, die Begründerin der kleinianischen Schule. Ihre Differenzen betrafen u. a. die Entstehung des Über-Ichs, das sich für Anna Freud ganz klassisch aus dem Ödipuskomplex entwickelte, bei Melanie Klein jedoch aus der archaischen Mutterbeziehung resultierte. Für Anna Freud spielte bei der Analyse von Kindern deren äußere Realität eine wichtige Rolle, während Melanie Klein sich auf eine von der Außenwelt weitgehend unabhängige, phantasmatische Innenwelt des Kindes konzentrierte. Den Höhepunkt ihrer Auseinandersetzungen bildeten die 1943 und 1944 in London ausgetragenen „Controversial Discussions“, die in der Einrichtung getrennter Ausbildungsgänge der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft mündeten.

Anna Freud war Sekretärin und Vizepräsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und ab 1945 Mitherausgeberin der Zeitschrift The Psychoanalytic Study of the Child. In ihrem wichtigsten theoretischen Werk Das Ich und die Abwehrmechanismen legte sie die Betonung nicht mehr auf die Erforschung der Tiefenschichten des Es, sondern auf die Analyse des Ichs, und wurde damit zur Wegbereiterin der Ich-Psychologie.

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Beitrags aus Psychoanalytikerinnen. Biografisches Lexikon.

Foto: Sigmund und Anna Freud bei einem Spaziergang in den Dolomiten, 1913, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington

Literatur und Links:

Besser, Roland: Leben und Werk von Anna Freud. In Die Psychologie des 20. Jahrhunderts III: Freud und die Folgen (2). Zürich 1977, 130-181
biografiA
Coles, Peter: Anna Freud oder der Traum der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1995
Denker, Rolf: Anna Freud zur Einführung. Hamburg 1995
Edgcumbe, Rose: Anna Freud. A View of Development, Disturbance and Therapeutic Techniques. London 2000
FemBio
Freud, Anna: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. Leipzig, Wien 1927
Freud, Anna: Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen. Stuttgart 1930
Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen. Wien 1936
Freud, Anna: Die Schriften der Anna Freud, Bd. 1-10. München 1980
Freud, Anna, und Dorothy Burlingham: Kriegskinder. Jahresbericht des Kriegskinderheims Hampstead Nurseries. London 1949
King, Pearl, und Riccardo Steiner (Hg.): Die Freud/Klein-Kontroversen 1941-1945. 2 Bde. Stuttgart 2000
Mühlleitner, Elke: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Tübingen 1992
Mühlleitner, Elke: Anna Freud: Gel(i)ebte Psychoanalyse. In S. Volkmann-Raue und H. E. Lück (Hg.): Bedeutende Psychologinnen. Weinheim 2002, 97-113
Peters, Uwe Henrik: Anna Freud. Ein Leben für das Kind. München 1979
Salber, Wilhelm: Anna Freud. Reinbek 1985
Sigmund Freud Museum Wien
Yorke, Clifford: Freud, Anna. In Dictionnaire international de la psychanalyse (2002). Hg. von A. de Mijolla. Paris 2005, 673-675 (englisch: International Dictionary of Psychoanalysis)
Young-Bruehl, Elisabeth: Anna Freud. Eine Biographie. 2 Bde. Wien 1995