Christa Wolf an Paul Parin

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Ein persönlich gehaltener Brief, den die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Christa Wolf vor sechs Jahren anlässlich Parins 90. Geburtstages verfasst hat…

Lieber Paul Parin,

selten kann man einem Menschen, der einem nahesteht, zu seinem 90. Geburtstag gratulieren; und sehr selten gehört dieser Mensch zu denjenigen, die im eigenen Leben Wichtiges bewirkt haben. Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie für mich einer von diesen Menschen sind; jedenfalls will ich es Ihnen heute sagen. Wir kennen uns seit mehr als zwanzig Jahre. Ihr erstes Buch schenkten Sie mir 1984, es war einer Ihrer Berichte über Ihre Afrikareisen: „Zu viele Teufel im Land“. Sie reisten ins Herz der Finsternis, und ich glaube, das taten Sie auch sonst, ob Sie als Arzt bei den Partisanen in Jugoslawien waren oder als Psychoanalytiker in das Dunkel der Seelen Ihrer Patienten eintauchten. Sie waren unerschrocken, und Sie waren und sind neugierig. Und was ich von Ihnen zu hören und zu lesen bekam, hat meine Weltsicht beeinflusst und meine eigene Neugierde angestachelt.

Ob wir in ihrer winzigen Zürcher Küche von Goldy mit einem Steak bewirtet wurden, ob wir in einem Berliner Restaurant zusammensassen oder in unserer Berliner Wohnung, dabei, in meiner Erinnerung, pausenlos miteinander redend: Bei Goldy und bei Ihnen fanden wir, was wir am dringendsten brauchten: Ermutigung. Dabei waren Sie beide illusionslos, „Wir lebten in einer Zeit“, schrieben Sie, „die nicht gross war, aber böse und grausam, in der es vielleicht schwer war, durchzukommen, aber leicht, zu wissen, was man zu tun hatte.“ Einer Ihrer Sätze, die mir Anlass zur Selbstprüfung waren: Wusste ich denn immer, was ich zu tun hatte?

Sie und Goldy gehörten und gehören zu den wenigen Menschen, die ich traf, die frei waren und sind: „Frei zu tun, was man selbst für richtig hält“. Und zwar kompromisslos und unerschütterlich. Das muss in einer Gesellschaft, die auf Anpassung ausgerichtet ist, Gegner schaffen. Beinahe genussvoll konnten Sie davon erzählen. Aber es schafft auch Freunde. Magnetisch zogen Sie beide Menschen an, die Alternativen suchten wie Sie selbst. Sie waren eine solche Alternative. Sie sammelten eine brüderliche Gemeinschaft um sich, in der Sie aufgehoben und glücklich waren und sind – mit der Einschränkung, dass Ihr Lebensglück durch den Tod Ihrer Gefährtin Sie verlassen hat.

Bei Ihnen lernte ich, dass man äusserst skeptisch sein kann „gegenüber den menschlichen Verhältnissen“, wie ja auch Ihr Lehrer Sigmund Freud es war, und doch nicht griesgrämig werden muss: heiter, freundlich, souverän das Leben geniessen, von sich selbst und von den Mitstreitern eine moralische Anstrengung verlangen, ohne sich zu verkrampfen, erkennen, wie viel von dieser Anstrengung scheinbar erfolglos bleibt und doch nicht bitter werden, sondern der Aufklärung verpflichtet bleiben. Einen „moralischen Anarchisten“ haben Sie sich gelegentlich genannt, einen fröhlichen Anarchisten würde ich Sie nennen. Und da möchte ich jetzt endlich das Wort ins Spiel bringen, das mir schon die ganze Zeit über auf der Zunge liegt und das so unzeitgemäss wie möglich ist: das Wort „Utopie“. Wenn dieses Bild erlaubt wäre, würde ich sagen: Alles, was Sie tun und denken, was Sie sagen und schreiben, war und ist durchtränkt, gesättigt von Utopie. Von den Gestalten in einem Ihrer Bücher sagen Sie es direkt: „Sie wollen mehr, ein richtiges, grosses Gewissen. Alles soll gerechter werden, womöglich die ganze Welt.“ Alle Ihre Figuren in den Büchern, die Sie spät im Leben zu schreiben begannen, mit so viel Erfolg, sind auf der Suche nach einer tiefen Erfüllung hinter der Banalität des Alltagslebens. Einmal natürlich in dem von Ihnen geliebten Afrika, reisen Sie mit Ihren Gefährten nach Tabou, in jene Stadt, die das Zentrum aller Sehnsüchte zu sein scheint. Was Sie erfahren, ist kein Wunder, sondern „nur“ das gesteigerte Normale das konzentriert Menschliche. Ein besonderes, unvergessliches Licht.

Lieber Paul Parin, was sage ich Ihnen zu diesem Geburtstag? Mein Leben wäre ärmer ohne Sie. Ich versuche, mich zu halten an Ihren Wahlspruch: „Inseln von Vernunft in einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt schaffen.“

Ich umarme Sie, Ihre
Christa Wolf

Veröffentlicht in: Emilio Modena (Hg.): Leidenschaften. Paul Parin zum 90. Geburtstag, Berlin (Edition Freitag), 127 S., 14,80 €, Bestellen?
Vielen Dank an Emilio Modena für die Genehmigung zur Veröffentlichung.