Trotz allem ein wundervolles Land

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Nach dem schwindelerregenden Sieg im Jahr 1967, als Israel mit Liedern über den Erfolg des Sechstagekrieges überschwemmt wurde, schlug der Autor und Kolumnist Dahn Ben Amotz vor, wir beide sollten ein Lexikon mit all den Misserfolgen des Landes schreiben. Ich lehnte ab und sagte, dass wir nach den sechs schwierigen Wochen des Wartens vor Ausbruch des Krieges und nach der gestammelten Rede des damaligen Ministerpräsidenten Levi Eshkol nun das Recht hätten zu feiern…

Kommentar von Yoel Marcus, Ha’aretz, 27.04.2012

Auch heute ziehe ich es vor, das Augenmerk auf die Frage zu richten, wie es Israel gelang, trotz aller Hürden und Misserfolge der frühen Jahre so weit zu kommen, wie es kam. Nicht ohne Grund fand sich Israel in den letzten beiden Jahren auf den Spitzenplätzen der Gallup-Umfrage über die Zufriedenheit der Bürger mit ihrem Land. Doch trotz der erstaunlichen Erfolge, die Israel seit seiner Gründung erzielte, scheint Jammern ein nationaler Zeitvertreib zu sein.

Nehmen wir zum Beispiel das Thema der Reparationen aus Deutschland. Im Februar 1952 begann die rechtsgerichtete Herut-Partei unter Vorsitz von Menachem Begin mit einer gewalttätigen Kampagne gegen die Befürwortung dieser Reparationen. Bei einer Demonstration am Jerusalemer Zion-Platz erklärte Begin, dies sei ein Kampf auf Leben und Tod. „Heute erteile ich den Befehl für Blut!“, konstatierte er. Die angefeuerten Demonstranten marschierten zur Knesset und begannen, Steine auf das Gebäude zu werfen. (Aus diesem Grund wurde Begin für sechs Monate der Zutritt zum Parlament verboten.) Hätte Begin an diesem Tag gewonnen, wäre das historische Treffen zwischen dem damaligen israelischen Premierminister David Ben Gurion und dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer im Hotel Waldorf Astoria in New York nicht zustande gekommen. Bei diesem Treffen wurde entschieden, dass Deutschland Israel für eine lange Zeit militärische Hilfe zukommen lassen würde – eine Entscheidung, die heute noch in Kraft ist und ohne die die neusten U-Boote nicht hier wären. Später gestand Begin gegenüber Ben Gurion, dass er, Begin, damals einen Fehler gemacht hatte.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der extremistische Begin derjenige sein würde, der Frieden mit Ägypten schließen und den Präzedenzfall von Land gegen Frieden schaffen würde? Er war auch der erste, der Siedlungen abgerissen hat. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis wir erneut einen Staatsführer haben, der wie Begin fähig sein wird, seine Instinkte zu überwinden.

Während der wirtschaftlichen Einschränkungen in den Anfangsjahren des Staates gingen wir durch eine schwierige Phase. Angesichts der heutigen Supermärkte, die mit all den guten Dingen gefüllt sind, erinnern sich nur die Ältesten unter uns an das Tzena-Programm (Anmerkung: Tzena = Einschränkung), das die Regierung einführte. Damals aßen die Leute Eipulver und gefrorenen Fisch. Und es gab Rationierungen. Jede Familie erhielt ein Punkteheft für den Einkauf von rationierten Lebensmitteln und sogar Kleidern. Dies war der kollektive Beitrag für die Integration der neuen Immigranten.

Wie es sich in solchen Situationen geziemt, florierte der Schwarzmarkt und der schwarze Humor triumphierte. Angesichts der Tatsache, dass so viele Leute das Land verließen, gab es den Witz, dass der letzte, der geht, das Licht ausmachen sollte. Der politische Slogan dieser Zeit war: „Lasst uns in diesem Land leben.“

Es gibt Dinge, die wir heute als selbstverständlich betrachten. Als damals ein Minister erklärte, es würde eine Autobahn geben, die Haifa mit Tel Aviv verbindet, machten sich die Leute lustig über ihn. Als Shimon Peres, der damals Verkehrsminister war, ein Auto für jeden Arbeiter versprach, machten sich die Leute lustig über ihn. Eine Vision –ob mit oder ohne Anführungszeichen– war das regelmäßige Fahrgeld für Politiker. Und mit der Zeit stellte sich heraus, dass diese Visionen wahr wurden, im Guten wie im Bösen. Am 5. Juli 1961 um 4:41 Uhr morgens wurde die Shavit-2-Rakete vom Palmachim-Strand aus gestartet. Ihr Zickzack-Flug war mit Sicherheit nicht beeindruckend, und aufgrund der anstehenden Wahlen in Israel erhielt sie den Spitznamen Wahl-Rakete. Als die damalige Außenministerin Golda Meir nach dem Raketenstart übernächtigt aus dem Bunker trat, sagte sie verächtlich: „Für das habt Ihr mich um 3 Uhr morgens geweckt?“ Doch diese kleine Rakete verwandelte sich in eine viel größere und machte uns zu einer regionalen Macht, zu einer „stolzen und gebieterischen“ Nation, wie Frankreichs damaliger Präsident Charles de Gaulle das jüdische Volk nannte.

An einem Zeitpunkt veröffentlichte die Wochenzeitung Ha’olam Hazeh einen aufsehenerregenden Untersuchungsbericht, nach dem die Jugendorganisation der Partei Mapai, die eine Vorläuferpartei der heutigen Arbeiterpartei war, einen Putsch plante, um Ben Gurion als Alleinherrscher einzusetzen. Der Bericht basierte auf einer dummen Idee eines gewissen ranghohen Mannes und Ben Gurion verwarf sie sofort. Ben Gurion blieb im Guten wie im Bösen an der Macht bis er auf Grund der misslungenen Sabotage-Operation in Ägypten (die so genannte Lavon-Affäre) zu Fall kam – so wie Begin, der Frieden mit Ägypten gemacht hatte, auf Grund des Libanon-Krieges zu Fall kam und Golda Meir auf Grund des Yom-Kippur-Krieges. Bei allen dreien war es der öffentliche Druck, der sie zu Fall brachte. Es wurde entschieden, dass es in unserem Land keinen Platz für Napoleons gab.

Die Redewendung „Wir sind alle schuldig“, die vom früheren Staatspräsidenten Ephraim Katzir geprägt wurde, existiert nicht mehr. Auch das Syndrom, die Schuld auf die untersten Ränge zu schieben, existiert nicht mehr. Die politischen Parteien publizieren keine Zeitungen mehr. Und die freien Medien kämpfen mit aller Macht um ihr Recht auf Meinungsfreiheit. Sie werden siegen. Die israelische Öffentlichkeit ist stärker als die Politiker. Infolge der Proteste für soziale Gerechtigkeit im letzten Sommer wird die Öffentlichkeit –früher oder später– auch gegen Korruption in Regierungsbehörden und gegen die Kontrolle unseres Lebens durch Ultraorthodoxe und Extremisten kämpfen. Und sie wird die gewählten Vertreter des Volkes zwingen, die richtigen Dinge zu tun.

Trotz allem wird dies ein großartiger Platz zum Leben sein. Ein wundervolles Land.

Übersetzung: Daniela Marcus

3 Kommentare

  1. Unvorstellbar, hätten all im Beitrag benannte ehemals in großer Verantwortung Stehende all jene angestandenen schwierigen Dinge dereinst anders entscheiden – so ALL jene Kritiker möglicherweise heute NICHTS zu kritisieren hätten.
     
     
    Israel * ein wundervolles Land * so wie es ist – wiedergeboren aus dunkelstem Leid – gegen den Willen all zahlreicher Widersacher – eine Erfolgsgeschichte.
     
     
    Masal Tov

  2. Galim, im Gegensatz zu den anderen Nahostländern hindert der Staat nicht die Kritiker, Israel an Herzl zu messen. Nirgendwo sonst wird in staatlichen und privaten Medien solch eine Selbstkritik geübt.
    Dann gibt es noch in Israel vom Staat besoldete Universitätslehrer, die im Ausland den Boykott der israelischen Hochschulen und Universitäten propagieren.
     

  3. Es geht nicht darum, sich selbst zu beweihräuchern (das tun schon viele mehr als genug), sondern zu konstatieren, wo und wann die Weichen falsch gestellt worden sind und wie man solches korrigieren könnte. Da lohnt`s sich auf die Ursprünge des 19. und 20. Jh. zu reflektieren (z.B. Herzl) und zu überlegen, was eigentlich in den 70er und 90er Jahren der verflossenen Zeit so alles schief gelaufen ist.
    Masal tov
     

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