Mobbing auf höchstem Niveau

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Regierungskritiker und Angehörige der Roma-Minderheit aus Ungarn wenden sich von ihrem Land ab…

Von Holger Marcks
Jungle World v. 15.03.2012

»Idiotisch bizarr« nannte Michael O’Leary, der Chef von Ryanair, den Umgang der ungarischen Behörden mit seiner Fluggesellschaft. Seit Mitte Februar muss sich deren Personal am Budapester Flughafen langwierigen Sonderkontrollen unterziehen. Zuvor hatte das irische Unternehmen eine Basis in Ungarn eingerichtet, wodurch es sich nach der Pleite der ungarischen Fluggesellschaft Malév Marktanteile sichern wollte. Darauf reagierte die ungarische Regierung, die nach dem Ende des Staatsunternehmens eine »neue nationale Airline« etablieren will, ungehalten. Aus Protest gegen jene Schikanen hat Ryanair nun alle bis zur kommenden Woche anstehenden Flüge ab und nach Budapest gestrichen.

Die Diskriminierung des Personals von Ryanair ist nur eine kleine Kapriole der ungarischen Regierung, die auf alles, was ihrer Auffassung vom nationalen Interesse widerstrebt, wenig duldsam reagiert. Während jedoch ausländische Unternehmen, die sich durch die nationalistische Wirtschaftspolitik übervorteilt sehen, ihr Engagement im Land einfach beenden können, hat die Diskriminierung von Minderheiten oder Oppo­sitionellen existentielle Folgen für die Betroffenen. So wurde vorige Woche bekannt, dass der jüdische Schriftsteller Ákos Kertész in Kanada um Asyl gebeten hat. Der 79jährige reagierte damit auf eine gegen ihn gerichtete Hetzkampagne in Ungarn. Seit er sich in einer von Verbitterung geprägten Polemik über die gesellschaftliche Entwicklung in Ungarn beklagt und den Ungarn eine »genetische« Veranlagung zur Untertanenmentalität attestiert hatte, sah er sich »physischen Belästigungen und Drohungen« ausgesetzt.

Bereits im Dezember vergangenen Jahres hatte Viktória Mohácsi, eine ehemalige Abgeordnete des europäischen Parlaments, das Land verlassen. Die Politikerin engagierte sich für die Rechte der Roma-Minderheit, der sie selbst angehört, und wurde in den vergangenen Jahren mit Angriffen konfrontiert. Auch sie bat um politisches Asyl in Kanada. Die Zahl der ungarischen Asylsuchenden, vor allem Roma, ist dort sprunghaft angestiegen, von 2 300 Personen 2010 auf fast 4 500 im vergangenen Jahr. Während sich der kanadische Minister für Migration, Jason Kenney, erschüttert darüber zeigt, dass »Europa mehr Asylbewerber schickt als Afrika oder Asien«, behauptet der ungarische Außenminister János Martonyi im gewohnten verschwörungstheoretischen Stil der regierenden Partei Fidesz, dass die Asylsuchenden nur versuchten, »die Schlupflöcher im kanadischen Asylsystem auszunutzen und dadurch die Situation in Ungarn in einem anderen Licht erscheinen lassen«.

Dabei wurde der »amtliche Rassismus« in Ungarn erst kürzlich durch den letzten Bericht des mittlerweile abgeschafften parlamentarischen Ombudsmannes für Minderheiten bestätigt. Ernö Kallai zufolge gibt es eine verschärfte Segregation von Roma. Diese seien von Maßnahmen betroffen, die »gegen die Menschenwürde« verstießen, und ihnen würden vielfach ihre Grundrechte verweigert. Kallai schlussfolgert, dass diese Diskriminierung auf Vertreibung hinauslaufe. Das passt zur rassistischen Grundstimmung im Land. Einer Umfrage des Tárki-Instituts zufolge befürchten fast 60 Prozent der Bevölkerung eine »große Einwanderungswelle«, insbesondere von Chinesen, aber kurioserweise auch von Israelis. Andere Umfragen bestätigen, dass eine überwältigende Mehrheit der Ungarinnen und Ungarn ein »Zigeunerproblem« zu erkennen glaubt.

Diese paranoide Stimmung in Ungarn hatte im Januar schon den Meisterpianisten András Schiff dazu veranlasst, sein Geburtsland zu boykottieren. Ein kritischer Leserbrief in der Washington Post zur Entwicklung im Land brachte auch ihm eine Hetzkampagne ein, unter anderem wurde er als »Saujude« beschimpft. Schiff sagte daraufhin alle Konzerte in Ungarn ab. Die rechte Netzgemeinde Ungarns reagierte vorhersehbar mit Spott und Häme. Eine ähnliche Ignoranz erfährt nun auch der Schriftsteller Kertész. Die Unterstellung, es gehe ihm nur um eine »publikumswirksame Aktion«, gehört da noch zu den milderen Anfeindungen.