Der Bus war halb leer

0
39

Der Bus war halb leer. Es war früher Vormittag, kurz vor neun Uhr. Die Frische des Morgens, die er an der Haltestelle des Kibbuz vor weniger als einer Stunde gespürt hatte, war verflogen. Die Sonne, am Himmel schnell hochgestiegen, hatte die Herrschaft übernommen. Schwüle Hitze breitete sich im Bus aus. Die meisten Fahrgäste wirkten wie in leichtem Dämmerschlaf. Der Junge auf einem der Fenstersitze gleich hinter dem Ausstieg des Busses saß neben einer älteren Frau, die, unpassend für Ort, Jahres- und Tageszeit, eine Pelzjacke trug…

Von Peter Finkelgruen (2009)

Ein farbloser Schleier, mit dem Fahrtwind durch die geöffneten Fenster hereinwehend, senkte sich zwischen den Jungen und die anderen Insassen des Busses. Die Aufmerksamkeit des Jungen war aber nicht auf sie gerichtet. Aufgeregt blickte er auf die fremden Straßen und Häuser. Am Ende der kurvenreichen Strecke konnte der Junge sich an dem Anblick des Hafens und des tiefblauen Meeres dahinter nicht sattsehen. Durch das Tor im Hafeneingang war er mit der neben ihm sitzenden Frau vor einigen Monaten ins Land getreten. Auch an jenem Tag hatte er diesen Schleier wahrgenommen. Am frühen Morgen war es an Deck des Schiffes noch angenehm frisch gewesen. Nachdem sie eine seitwärts am Schiff angebrachte schwankende Treppe hinunterbalanciert waren, hatte sich in dem dichten Gedränge auf dem Pier an der Hand seiner Großmutter dieser Schleier auf ihn gelegt. Nie mehr würde er ihn verlassen. Eine Wand, die ihn vom Rest der Welt trennte. Manchmal würde der Schleier ihn auch schützen, ein fragiler Wall gegen Unbekanntes, Fremdes, Bedrohliches. Auf dem Pier war es der Lärm gewesen, Sprachfetzen, die er nicht verstand. Irgendwann, ganz bald, würde auch er diese Sprachen lernen. Der lastende, trennende, manchmal aber auch schützende Schleier würde bleiben.

Die Frau hatte seine Hand losgelassen.

Im Bus, mit dem sie losfuhren, um für sich beide eine neue Bleibe zu finden, hatte sie sie seine Hand losgelassen. Er merkte es kaum, sosehr war er von der neuen sich ihm eröffnenden Welt fasziniert. . Er war es gewohnt, an der Hand genommen und durch die Welt geführt zu werden. Schiff, Bahn und Autos waren ihm wohlbekannt. Der Blick auf die Welt draußen durch ein Bullauge, ein Zugabteilfenster oder die Scheibe eines Kraftwagens war etwas Gewohntes und immer wieder Aufregendes. Seine Neugierde und seine Ängste waren ungebrochen. Immer waren es Frauenhände, die ihn hielten, an denen er sich festhielt. Wenn sie ihn losließen, brauchte er den Schleier, um alles durch ihn hindurch wahrzunehmen.

Die alte Frau neben ihm fuhr sich mit der linken Hand mehrmals durchs Gesicht, während sie mit der rechten, die ihn festgehalten hatte, an der Pelzjacke nestelte. Der Bus setzte seinen Weg durch die Stadt fort, arbeitete sich langsam wieder hinunter in die Unterstadt in Richtung Hafen, in dessen Nähe der Zentralomnibusbahnhof lag. Von dort fuhren andere Busse zu anderen Zielen in Stadt und Land. Der Blick des Jungen war nach vorn gerichtet. Das große Eingangstor zum Hafen rückte näher. Er bewegte seinen Oberkörper vor und zur Seite im Bemühen, mehr Details zu erfassen. Wollte wissen, ob das Schiff, mit dem sie angekommen waren, jetzt am Kai festgemacht war. Ein großes Gitter zerschnitt den Weg in den Hafen, der Blick aber war frei, wurde nur von den ruckartigen Bewegungen des Busses erschwert. Der Bus fuhr rechts an eine Haltestelle.

Die Frau neben dem Jungen hielt mit einer Hand krampfhaft ihre Tasche fest, mit der anderen griff sie wieder nach der Hand des Jungen.

Sie zog ihn hoch.

Rasch, komm, ich muß aussteigen. Mir ist nicht wohl.

Sie hielt sich mit der linken Hand, ohne die Tasche loszulassen, an einer neben der Tür angebrachten Stange fest. Rutschte beinahe, den Jungen hinter sich herziehend, auf den Bürgersteig. Der stolperte, an ihre Hand wie festgeschmiedet, aus dem Bus. An einer Mauer neben dem Bürgersteig stand eine Kiste aus dunklem Holz mit schräg angewinkeltem Deckel. Er hatte ähnliche Kisten schon früher gesehen. Dort, wo er sie noch vor wenigen Monaten gesehen hatte, dienten sie zur Lagerung grober Koksasche, die bei Frost und Schneefall auf dem Bürgersteig verstreut wurde. Hier aber schneite es nicht. Hier war es heiß und schwül. Die Frau taumelte zwei, drei Schritte zu der Kiste, die im Schatten stand, hin. Passanten blickten neugierig. Blicke schweiften von ihrer Pelzjacke, die ihr von den Schultern glitt, zu dem Jungen, der hinter ihr herstolperte.

Die Frau setzte sich an den Rand der Kiste. Drückte dem Jungen ihre Tasche in die Hand.

Halt sie fest. Pass auf sie auf.

Er spürte, wie die Frau auf der Kiste schwankte. Als würde eine Bö sie von der einen in die andere Richtung drücken. Ihr Gesicht wurde blass, sie schloss die Augen, rang mit einer Müdigkeit, die sie von einem Augenblick zum anderen in abgrundtiefen Schlaf zu stürzen drohte. Einen Schlaf, aus dem sie nicht erwachen würde. Der Junge erschrak. Zwei Jahre waren vergangen, seit seine Mutter für immer seine Hand losgelassen hatte. Sie war in einen Schlaf geglitten, gegen den sie sich jahrelang gewehrt hatte. Jetzt drohte die Großmutter, von einem Augenblick zum anderen, ihn allein zu lassen. Leise flüsterte er ihr zu:

Omi, Omi, bitte!

Die Umstehenden, die jetzt aufmerksamer auf die beiden schauten, sollten nicht hören, in welcher Sprache er mit ihr sprach. Er hatte das schon erlebt, dass Gesichtszüge von Umstehenden sich verfinsterten, wenn sie ihn Deutsch sprechen hörten. Er hatte aber keine andere Sprache, in der er mit ihr reden konnte. Mit seiner Mutter hatte er Englisch sprechen können. Und sogar Tschechisch. Das wäre hier unverfänglich gewesen. Das spürte er. Aber die Großmutter verstand kein Englisch. Er wusste, warum manche Menschen die deutsche Sprache nicht gerne hörten. Das hatte ihm schon seine Mutter in Prag erklärt. Es war die Sprache jener, die seiner Großmutter die blaue Nummer in den Unterarm eingebrannt hatten. Es war die Sprache derer, die seinen Großvater umgebracht hatten. Großmutter war ein Doppelwesen. Sie hatte die blaue Nummer eingebrannt bekommen, konnte sich aber nur in der Sprache der Tätowierer verständlich machen. Jetzt aber waren sie im Land der Tätowierten. Da wollte man diese Sprache nicht mehr hören. Die Pelzjacke rutschte ihr von der Schulter. Langsam zog sie einen Arm aus dem Ärmel heraus. Die Jacke hing jetzt von der anderen Schulter herunter. Sie versuchte mit dem freien Arm die Bändel am Kragen ihrer eierschalenfarbenen Bluse zu lösen, ließ den Arm wieder sinken. Ihr Oberkörper schwankte weiter. In diesem Augenblick beruhigte es den Jungen, dass die Ärmel der Bluse kurz waren. An ihrem Unterarm war nun die tätowierte Nummer zu sehen. Ein Schutzwall gegen den Ärger, den er auslösen würde, wenn ihm ein deutsches Wort herausrutschen sollte. Sein Herz begann wild zu schlagen. Angstgefühle brandeten hoch, er geriet in Panik. Alles um ihn herum empfand er als bedrohlich und fremd. Gebäude, Straßenverkehr, die Gerüche in der Luft ebenso wie Kleidung und Aussehen der Menschen, die sich zu einer Traube formten um die Kiste, auf der Großmutters Oberkörper jetzt langsam, wie in Zeitlupe, in die Waagerechte glitt. Er suchte nach Worten, um seiner Angst Ausdruck zu verleihen. Ein Schluchzen drang durch seine Kehle, wandelte sich in einen hohen Ton, ein anhaltendes Klagen, ein hilfloses Betteln.

Omiii!!! Nein!!!

Die Aufmerksamkeit der Menschen um sie herum, die jetzt eine Wand bildeten, wurde bedrohlich. Die Wand rückte näher. Die Körper wurden zum sich schließenden Zelt, an dessen Spitze wie durch eine Dachluke ein kreisrundes Loch den Blick auf den blauen wolkenlosen Himmel freiließ. Plötzlich begann der Junge sich anderer Worte zu erinnern. Worte, die er gelernt hatte, nachdem er seine Großmutter in Prag kennengelernt hatte.

Babícko. Prosím. Ne, ne, prosím te.

Lange, gedehnte Vokale, ein anhaltendes Jammern. Die Luft wurde von Minute zu Minute heißer. Seine Beine zitterten.

Prosím, babícku. Ne. Ne. Ne.

Dagegen, gegen diese Worte konnten die herumstehenden Menschen keine Einwände haben. Angst, Angst, Angst. Die Angst, nach der Mutter wieder eine Frau, die ihn an der Hand hielt, zu verlieren. Nein, er wollte nicht auch noch Ärger und Wut unbekannter Menschen auf sich lenken. Wenn sie doch helfen würden! Aber sie standen bloß da, blickten zu der auf der Kiste liegenden Frau und zu dem Jungen, der sich an ihrer Hand festhielt – als würde er ihren Unterarm mit der eintätowierten Nummer herzeigen. Neugierige Blicke, keine Regung. Dumpfe stumpfe Augen. Wie daran gewöhnt, dass Menschen mit eintätowierten Nummern in tiefen Schlaf umfielen, aus dem sie nicht erwachen würden. Blicke streiften die Handtasche der auf der Kiste liegenden Frau, stießen auf die Goldkette mit dem bernsteinfarbenen Anhänger, der aus ihrer Bluse herausgerutscht war, blieben an der Pelzjacke hängen. Die  kurzen Khakihosen des Jungen deuteten darauf hin, dass sie aus einem Kibbuz kamen, die Pelzjacke sprach dagegen. Der Junge näherte sein Gesicht dem der Frau. Mit geschlossenen Augen wirkte es fahl und eingefallen. Reglos lag sie auf der Kiste, ihr Rock war hochgerutscht, der lachsrosa Unterrock schaute heraus. Der Junge hielt mit einer Hand ihre Handtasche umkrampft, mit der anderen fasste er nach ihrer Hand, nach ihrer Schulter, als wollte er sie wachrütteln, sie in dieses Leben wieder hineinziehen. Zwischendurch streichelte er mit seinen Fingern ihr Gesicht, als hoffte er, so ihre Augen zu öffnen. Er wurde stiller und leiser. Sein Flehen und Rufen ebbte ab, verwandelte sich in Schluchzen. Unabänderlichkeit schien sich auszubreiten. Die Stimmen der Umstehenden wurden lauter. Unverständliche Sprachfetzen drangen in sein Ohr. Ein Mann drängte sich durch den Kreis, beugte sich zu ihm und flüsterte beruhigend auf Tschechisch in sein Ohr. Er solle keine Angst haben. Er habe bereits einen Krankenwagen mit Arzt gerufen. Er sprach leise in der Sprache, die der Junge verstand. Langsam wich die Angst. Den Griff um Großmutters Handtasche lockerte der Junge nicht. Er konnte wieder ein wenig atmen. Er wandte den Kopf, suchte nach einem weißen Kittel, der die Wand, der ihn und Großmutter umgebenden Neugierigen, durchdringen würde. Der Mann, der ihm die tschechischen Worte ins Ohr geflüstert hatte, entfernte sich. Durch die Lücken zwischen den Beinen der herumstehenden Menschen konnte der Junge ihn am Rand der Fahrbahn sehen.

Auf der anderen Straßenseite war eine hohe dunkle Mauer, hinter der sich ein mit roten Ziegeln gedecktes Gebäude befand. Von dort waren Rufe und das Geschrei von Kindern zu hören. Schulkinder, die in ihre Pause rannten. In einer anderen Welt.

Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Menschenwand um die Kiste teilte sich. Der Junge sah einen Krankenwagen und zwei Männer, die eine Liege aus dem hinteren Teil des Wagens herauszogen, die sie neben der Kiste abstellten. Bei den beiden war auch der Mann, der ihm auf Tschechisch zugeraunt hatte, der Krankenwagen sei bestellt. Mit geübten Griffen hoben die beiden Männer die Frau hoch, legten sie auf die Trage, wobei sie dem Jungen die Tasche aus der Hand nahmen und sie ihr wie ein Kissen unter den Kopf schoben. Der Tschechisch sprechende Mann nahm ihn an die Hand. Beide folgten der Trage, die von hinten in den Wagen geschoben wurde. Der Mann und der Junge wurden aufgefordert einzusteigen, fanden Platz auf einer schmalen Sitzbank auf der Seite des Wagens. Die Tür wurde geschlossen, die beiden Männer eilten nach vorne in die Fahrerkabine. Der Wagen fuhr los. Der Junge war aufgeregt und verunsichert. Die Situation hatte sich geändert. Die fremden Gesichter der Menschen, die eben noch drohend im Kreis um die Kiste gestanden und reglos auf sie heruntergeblickt hatten, waren verschwunden. Müde Raubvögel, die jetzt weiter ihre Bahnen zogen.

Auf der Liege im Schutz des Krankenwagens öffnete Großmuter langsam ihre Augen. Ihr Enkel und ein untersetzter Mann saßen auf einer Holzbank, an einer Seite des Wagens. Die Wände des Wagens waren aus Blech, was die Hitze im Inneren beträchtlich erhöhte. Zwei kleine Fenster aus Milchglas in der rückwärtigen Doppeltür des Wagens ließen ein wenig Tageslicht eindringen. Licht kam auch durch eine Glasscheibe, die das Wageninnere  von der Fahrerkabine abtrennte, in der die Männer im weißen Kittel saßen. Ein unverständlicher Ton drang schwach aus Großmutters Mund. Dem Jungen schien es, als suche sie nach Kraft, um sich wieder zu erheben. Er konnte das Absacken ihrer Schultern wahrnehmen, die sie kurz angespannt hatte.

Er beugte sich vor, blickte aufmerksam in ihr Gesicht.

Babícku, babícku

Er flüsterte aufgeregt.

Sie war nicht eingeschlafen.

Dieser Beitrag ist erschienen in: Gabrielle Alioth & Hans-Christian Oeser (Hg.): Nachgetragenes. 75 Jahre PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Synchron. Wissenschaftsverlag der Autoren. Synchron Publishers, Heidelberg, S. 57-61. Wir danken Peter Finkelgruen und dem Verlag für die Nachruckrechte. Bestellen?

Linktipps:

http://buecher.hagalil.com/2009/07/exilpen/
http://www.exilpen.de/Documents/anthologie_kaufhold_rez_090715.html
http://www.exilpen.de/news.html

http://www.fixpoetry.com/feuilleton/rezensionen/361.html
http://germerica.net/node/985