Zu Wagners „Judenthum in der Musik“

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Im September 1850 erschien Richard Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ in einer Zeitschrift für Musik. Mit dieser antisemitischen Schrift wollte Wagner unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ den angeblichen Einfluß der Juden auf die Musik als zersetzende Elemente bekämpfen. Der Aufsatz erregte zunächst nur wenig Aufsehen. Erst die Veröffentlichung als eigenständige Publikation unter dem tatsächlichen Namen des Autors im Jahr 1869 löste zahlreiche Repliken aus. Die vorliegende Besprechung erschien im April 1869 als Leitartikel in der Zeitschrift „Der Israelit“, der wichtigsten Publikation der deutsch-jüdischen Orthodoxie, gegründet und herausgegeben von Rabbiner Marcus Lehmann. Ihr zynischer Grundton in Bezug auf die angebliche Macht der Juden ist noch immer von erschreckender Relevanz…

Das Judenthum in der Musik

Mainz, 13. April

Wiewohl die unter obigem Titel erschienene Broschüre des Tondichters Richard Wagner bereits in voriger Nummer besprochen wurde, so wollen wir doch noch einmal darauf zurückkommen, weil unserer Ansicht nach ein gewichtiger Punkt in den zahlreichen Widerlegungen noch gar nicht hervorgehoben worden.

Die Wagner’sche Broschüre [hat eine] ungeheure Entrüstung hervorgerufen und [nicht] nur bei Juden. Selbst diejenigen Musiker, welche mit der Meyerbeer’schen Musik nicht einverstanden sind, — die sogenannte orthodoxe Richtung in der Musik, der einzig die deutschen Musik-Classiker: Bach, Händel, Haydn, Mozert, mustergiltig sind –, auch diese, denen Offenbach ein Gräuel ist und die weder die französische noch die moderne italienische Musik anerkennen wollen, auch diese sind empört über die Frechheit, mit welcher Wagner gegen Mendelssohn, den großen Heros classischer deutscher Tondichtung, zu Felde zieht. Die [] Selbstvergötterung des ehemaligen Dresdener Barrikadenhelden muß ihm ohnehin alle Welt zu [Gegnern] machen.

Wir müssen nun [den] Leser mit der Mittheilung überraschen, daß die [in Rede] stehende Broschüre einen wahrhaft wohlthuenden, erquickenden und erfreuenden Eindruck auf uns gemacht hat. Um dieses scheinbar paradoxe Urtheil zu begründen, müssen wir ein wenig weit ausholen.

Wenn wir mit vorurtheilsfreiem Blicke die Jahrtausende zurückschauen, seitdem Gott den Menschen erschaffen, so werden wir finden, welchen hervorragenden Antheil die Familie Jakobs an der Weltgeschichte genommen. Gott hat sein größtes Kleinod, die Thora, seinem auserwähltem Volke verliehen und es zu diesem Zwecke förmlich erzogen.

Unter den ersten 20 Menschengeschlechtern, welche die Genesis aufzählt — von Adam bis Abraham — heben sich diejenigen in geistiger und sittlicher Kraft aus der Menge hervor, die da bestimmt waren, die Stammväter jenes Volkes zu werden: Scheth, Enosch, Khanan, Methuschelach, Noach, Schem, Eber, Abraham.

Mit Abraham tritt eine neue Periode der Weltgeschichte ein; aus dem einzelnen Manne entwickelt sich die Familie der Gottesbekenner. Diese Familie muß in Mizrajim die schwere Schule der Leiden durchmachen, bis das unterdeß erstandene Volk der göttlichen Offenbarung gewürdigt wird.

Gott, der Herr, hat aus allen Völkern das israelitische von Anbeginn sich erzogen; so ist denn auch anzunehmen, daß das auserwählte Gottesvolk, der jüdische Stamm, eine geistige, sittliche und körperliche Befähigung besitzt, die ihn zum Werkzeuge des Allherrn geeignet macht.

Wir wollen damit nicht gesagt haben, daß die Juden der schönste und kräftigste Menschenstamm sind, auch nicht, daß sie die hervorragendste geistige Befähigung bes[itzen], sondern daß Körper und Geist sich derartig bei ihnen ergänzen, daß sie das hohe Prinzip des Judenthums zu bewahrheiten im Stande sind.

Diese Ueberzeugung macht das Leben und Wesen des Judenthums aus, [in der] sie die erhabenen Hoffnungen rege erhält, [welche] die göttlichen Propheten für die Zukunft Israels vorhergesagt haben. Das ist eine wundervolle Zukunftsmusik, auf der die Harmonie unseres Seins beruht und die uns so viele störende Disharmonien verwinden läßt.

Unsere Zeit rüttelt bekanntlich ganz gewaltig an dieser Überzeugung. Seitdem Israel aus seinem Lande in die ungastliche Fremde gestoßen, lebte es arm, verachtet, untdrückt, verfolgt und gehetzt unter den Völkern. Die Hoffnung auf eine wundervolle Zukunft hielt es aufrecht inmitten der gräßlichsten Drangsale. Seit Jahrzehnten sind die Verfolgungen größentheils verschwunden, und [] Israel, daß sich mit schweren Mühen die Gleichberechtigung errungen, vermeint, seinen G[] an eine Bevorzugung aufgeben zu müssen. Nun aber kommt Herr Wagner und macht geltend, daß Juden und Judenthum einen nie geahnten, ungeheuren, unwiderstehlichen Einfluß auf jede Branche des menschlichen Wissens und Könnens Üben.

Wir wenigen Juden — auf hundert Deutsche kommt in Deutschland kaum einer — wir haben die Wissenschaft verjudet, wir haben die Literatur, die Tagespresse, die Kunst, den Geschmack, kurz Alles, Alles verjudet! Wir seien, wird behauptet, die Gläubiger der Könige, wir beherrschen den Markt und die Industrie, die Börse und das Theater! Und das alles sollen wir in einer so unsäglichen kurzen Spanne Zeit, in den wenigen Jahren ermöglicht haben, daß uns die Ghetti geöffnet und die Theilnahme an den Strebungen in Kunst und Wissenschaft gestattet ist!

Und welchen unermeßlichen Einfluß sollen wir doch besitzen! Man höre und staune! Vor 19 Jahren hat Herr Wagner in eine wenig bekannte Zeitschrift einen judenfeindlichen Artikel einrücken lassen unter falschem Namen; kein Mensche hat ihn verrathen, und dennoch war Herr Wagner dafür der Rache der Juden verfallen; in Folge dessen konnten seine Opern nicht [klingen], fanden seine Theoreme keinen Anklang, wurden seine Anhänger ihm entfremdet! Deutschland hätte dem großen Componisten zu Füßen gelegen, Frankreich und England hätten ihm gehuldigt, aber die Nemesis für den judenfeindlichen Artikel verfolgt ihn Überallhin und wo sich für ihn einmal eine schüchterne Stimme erhebt, da muß sie sofort wieder schweigen und darf nicht zum zweiten Male laut werden.

Ihr unsere Brüder und Schwestern, ihr Juden und Jüdinnen, erhebt stolz und freudig euer [Haupt] – wer kann euch was anhaben? Wenn ein so geringes Vergehen gegen uns so hart gestraft wird, wer wird es künfitg noch wagen, sich an uns zu vergreifen?

Haben wir also mit Unrecht behauptet, daß die Wagner’sche Broschüre einen wahrhaft wohlthuenden, erquickenden und erfreuenden Eindruck machen muß? Denn der berühmte Componist erkennt die Macht, den Einfluß und die großartige Befähigung des jüdischen Stammes, wie niemand vor ihm, an, in einer Weise an, wie es der begeistertste Lobredner nicht vermöchte, und was an elenden Schmähungen in der vorliegenden Broschüre enthalten, das sind nichts als die Ausgeburten ohnmächtigen Hasses, giftigen Neides, über die mitleidig zu lächeln wir vollkommen berechtigt sind.

1 Kommentar

  1. Das erinnert an folgenden Witz.
    Mitte der 1930ern sitzen zwei Juden in der Tram (noch ist es ihnen erlaubt). Einer liesst den „Stürmer“, fragt ihn der andere Jude: „Bist Du narrisch, dieses Blatt zu lesen?“
    Antwortet der Leser: „Nein, sie mal: Immer heisst es: ‚Juden ist es verboten…!‘ seitens der Nazis. Nun lese ich den Stürmer und was ist? Uns gehört die Wallstreet, der Welthandel und wir regieren sogar die Welt!“

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