Jom Kipur: Das Buch Jonas

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Parascha 402. Ansprache für Freitag, den 7. Oktober 2011 (Jom HaKippurim)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Am Versöhnungstag, hören wir in der Synagoge das biblische Buch Jona. Es ist immer wieder erstaunlich, wie groß dieses kleine Buch ist! Am Anfang steht der Ruf Gottes an den Propheten Jonas: „Auf, nach Ninive!“(1,2), die Hauptstadt Assyriens. Sie galt als Herz des Reichs des Bösen. „Blutstadt“ nannte sie der Prophet Nachum (3, 1), und der Prophet Zefanja (2,15)geißelt ihre Überheblichkeit: „Ich bin es“, prahlt sie, und keine sonst“. Jonas nun sollte Ninive das göttliche Strafgericht ankündigen, das seine Kollegen Nachum und Zefanja so dringend herbeisehnten. Jonas machte sich zwar gleich auf den Weg und ging zum Hafen hinab, er schiffte sich aber in die Gegenrichtung ein. Das war der Beginn eines Abstiegs, der ihn vom Schiffsbauch bis ganz unten in den Fischbauch führte. Warum ist Jonas desertiert? Solche Fragen lässt die Bibel meistens offen, sie erzählt gewöhnlich nur, was die Leute tun, nicht, warum sie es tun, und überlässt es dem Hörer und Leser, sich seine Gedanken zu machen. Vermutlich fühlte sich Jona nur für Israel zuständig. Was aber Ninive anging, so dachte Jona wohl wie seine Kollegen Nachum und Zefanja: „Soll es doch endlich von der Landkarte ausradiert werden, je eher desto besser“. Vielleicht sah er voraus, dass Assyrien Israel schon bald auslöschen werde und befürchtete, dass Gott, der „Erbarmer und Barmherzige“ (Chanun WeRachum), weich werden könnte und seinen Vernichtungsbeschluss gegen Ninive aufheben  werde (4, 4).

Was er aber auch immer gedacht haben mag, der Deserteur kam nicht weit, Gott holte ihn mit einem Sturm ein, sein Schiff drohte – wie Ninive – unterzugehen. Was tat Jonas? Jetzt zeigte sich, wie tief er schon gesunken war – nach dem Wort des Dichters: „von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“: Obwohl er diesmal mit den Heiden im gleichen Boot saß und ihr Ende unweigerlich auch sein Ende bedeutet hätte – tat er nichts! Die Mannschaft warf panisch allen unnötigen Ballast über Bord, er aber legte sich seelenruhig im Schiffsbauch schlafen! Der Steuermann rüttelte ihn wach, er solle ein Stoßgebet zu seinem Gott schicken. Das würde nichts nützen, meinte Jonas, denn wegen ihm sei das Schiff in Seenot; am besten, sie würfen ihn über Bord, dann hätten sie  Ruhe. Die Bibel stellt hier die edlen Heiden dem israelitischen Drückeberger gegenüber. Sie versuchten den Mann, der jegliche Hilfeleistung verweigerte, mit allen Mitteln zu retten (1, 13). Erst als sie nichts mehr für ihn tun konnten, warfen sie ihn mit großen Gewissenbissen ins Wasser (2, 14-16). Jetzt kommt der Auftritt des großen Fisches. Er verschluckte und rettete den Lebensmüden. Erst am Abgrund wendet sich der stumme Prophet zu Gott  (3, 7-10). Daraufhin spie ihn der Fisch ans Land, und er vernahm abermals den Ruf: „Auf, nach Ninive!

Der Provinzprophet erreichte die Großstadt, sah sich etwas um und begann den Untergang zu predigen. Kaum zu glauben, aber die fünf Worte: „Noch vierzig Tage und Ninive geht unter“ genügten. Die ganze Stadt tat Buße! Vom König bis zum letzten Rindvieh hielten alle einen strengen Fasttag und – der liebe Gott verzieh ihnen. Was für ein Kontrast zu dem sturen Propheten und die jüdischen Leser dieses Buches, die so viele Prophetenworte starrsinnig in den Wind geschlagen hatten. Bis heute wird uns die Bekehrung der „Blutstadt“ im Gottesdienst des Versöhnungstages als Vorbild vorgehalten. Jonas war über die unerwartete Wendung begreiflicherweise tief enttäuscht und hatte dafür womöglich auch ein paar stichhaltige Gründe. War Gott hier nicht zu gutmütig mit den Bösen? Jonas war nicht naiv, er nahm den Niniviten die schnelle Reue nicht ab. Konnte Gott die angehäufte Schuld der Stadt wirklich vergessen. Buße ist immer eine Spekulation auf die Zukunft, was aber ist mit der Wiedergutmachung für die Vergangenheit? Gab es hier nicht noch eine offene Rechnung? Würde sich der gute Vorsatz ohne spürbare Strafe nicht ebenso schnell wieder in sein Gegenteil verkehren? Weil er nicht glauben konnte, dass die Niniviten ungeschoren davonkämen, machte Jonas es sich außerhalb der Stadt bequem und wartete auf den Untergang. Zu seinem größten Vergnügen wuchs neben ihm ein Schatten spendender Strauch. Unter diesem Sonnenschirm konnte er nun aus sicherer Entfernung das apokalyptische Spektakel genießen. Aber nur sein Schirm ging ein und die Sonne stach unerbittlich auf seinen Kopf, sonst geschah nichts. Wegen dieses Verlustes war Jonas sehr verärgert und dachte wieder einmal, er wäre „lieber tot als lebendig“ (4, 8). Da wies ihn Gott mit seinem letzten Wort zurecht: Er sei nicht einmal bereit so einen unbedeutenden Verlust zu ertragen und verlange von Gott, er solle den Verlust einer ganzen Stadt mit lauter schuldunfähigen Einwohnern und unschuldigen Tieren hinnehmen (4,11).

Was ist die Moral der Geschichte für unsere Zeit? Wir haben hier den interessanten Fall, dass das Wort Gottes und das Wort eines Propheten einander widersprechen. Nicht, weil Jona ein Lügenprophet  gewesen wäre. Nein, Jona wird zurechtgewiesen, weil er päpstlicher als der Papst sein will, strenger als Gott erlaubt. Gott liebt das Leben und akzeptiert die flüchtigste Entschuldigung, um es zu retten, während der kompromisslose Prophet lieber tot sein will, als die Linie des strengen Rechts zu verlassen: Fiat justitia pereat mundus:  der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen und ginge auch die Welt darüber zugrunde!  Die Bibel ist hier, wie so oft, ein religionskritisches Buch. Sie ruft in der Geschichte mit dem Schiff und dem Fisch zwar zum religiösen Engagement auf, sie verweigert sich aber in der Geschichte mit der Stadt und dem Strauch den selbstgerechten Untergangsphantasien des religiösen Fanatikers. Dieses Buch enthält für eine Zeit, in der extremistische Parteigänger der Propheten nicht davor zurückschrecken, unschuldige Menschen in die Luft zu jagen, eine wichtige Botschaft: Der Erbarmer und Barmherzige steht, wenn es um Leben und Tod geht, höher als sein Prophet! Im Koran ist dem Propheten Yunus übrigens eine eigene Sure gewidmet.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr