Der Weg

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Parascha 390. Ansprache für Freitag, den 29. Juli 2011 (Masse)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Vierzig Jahre war das Volk Israel in der Wüste unterwegs gewesen. Unser Wochenabschnitt blickt auf den langen Marsch ins Gelobte Land zurück und zählt vierzig Zwischenstationen auf (Numeri 33). Alle Versuche diese Namen zu orten und die Route des Volkes auf der Landkarte der Sinai-Halbinsel und arabischen Halbinsel abzubilden, sind spekulativ. Die meisten der angeführten Ortsnamen werden in der Bibel nur an dieser Stelle erwähnt und klingen verdächtig nach Wortspielen, die die innere Erfahrung der Volkswanderung einfangen sollen. Die jüdische Tradition hat diese geographischen Angaben darum auch als Beschreibung einer geistigen Bewegungen gedeutet,  so etwa die Angaben in Numeri 21, 19: „Von Mattana nach Nachaliel und von Nachaliel nach Bamot“.

Dazu sagt eine rabbinische Lehre: „Jeder, der sich mit Tora beschäftigt wird erhoben, wie es heißt: ‚Und von Matana“ – was auf Hebräisch „Geschenk“ bedeutet und nach dieser Deutung auf die Gabe der Tora am Sinai anspielt –, „nach Nachaliel“  – was auf Hebräisch „Gottes Erbschaft“ bedeutet und auf den Besitz der göttlichen Lehre hinweist – , und von dort nach „Bamot“ – was auf Hebräisch „Anhöhe“ oder „Podium“ bedeutet. Insgesamt würde unser trockener Geographievers soviel wie der lateinische Streberspruch besagen: „Per aspera ad astra!“, „Durch raue Pfade zu den Sternen!“ bzw. „Durch die Tora zum Gipfel!“ (mAw 6, 2; bEr 54a). Nach der gleichen Auslegungsmethode könnte man auch versuchen das langatmige Wüstenitinirar in unserem Wochenabschnitt zu knacken, zumal die symbolträchtige Zahl 40, die den 40 Wanderjahren gegenübersteht, auf eine über den buchstäblichen Sinn hinausweisende Aussageabsicht hindeutet. Wir beschränken uns auf den Wegstationen Nr. 18 bis 21 in Numeri 33, 24-26: „Und  (sie) brachen auf vom Berg Schefer und lagerten in Charada; und brachen auf von Charada und lagerten in Makelôt. Und brachen auf von Makelot und lagerten in Tachat.“ „Schefer“ heißt auf Hebräisch „Verbesserung“, „Charada“, „Zittern“, „Makela“, „Versammlung“ oder auch „Zusammenrottung“, Tachat schließlich „Gesäß“.

Wenn wir die Namensbedeutungen einsetzen, dann ergibt sich folgender rauer Pfad des Volkes Israel in der Wüste: Es erklomm den „Berg der Verbesserung“ und stürzte gleich wieder ins Tal des „Zitterns“, es probte immer wieder den Aufstand, aber die „Aufsässigen“ fielen immer wieder hart aufs „Gesäß“. So dechiffriert  entpuppt sich der lange Marsch durch die Wüste als ständiger Wechsel von Hochs und Tiefs. Nach den wiederholten Volksaufständen, die in den vorigen Abschnitten des 4. Buches Moses vorkommen, ist die Botschaft im letzten Abschnitt dieses Buches klar: Der Aufstieg ins Gelobte Land ist ständig vom Absturz bedroht.

Am Ende des vierten Buches Moses darf man fragen, wie sich dieser lange Marsch des Gottesvolkes durch die Wüste in den großen Erzählbogen der fünf Bücher Moses einfügt, der von der Weltschöpfung bis zur Schwelle des Gelobten Landes reicht. Jedes der fünf Bücher Moses – auf Latein: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium – stellt ein notwendiges Moment in der Entstehung  des Gottesvolkes dar. Das Buch Genesis erzählt die Geburt der Welt und der Menschheit, sein Augenmerk liegt aber von Anfang an auf der Geburt des Gottesvolkes. Die trockenen Genealogien der Genesis haben ein klares Ziel, sie stellen dar wie ein Menschenstamm durch göttliche Zuchtwahl aus der Menschheit ausgesondert wird. Die Ur- und Erz- und Stammväter und -mütter, die für diesen Zweck in die engere Wahl kommen, zeichnen sich freilich nicht durch Macht, sondern durch ihren gottergebenen Lebenswandel aus. Aus dem Blickwinkel der Großmächte des Altertums, in deren Gravitationsfelder sie sich bewegten, waren das kleine Leute – Kleinviehhirten, Kleinbauern – , die in den Reichschroniken allenfalls als unterworfene Randgruppen erscheinen.

Das Buch Exodus schildert die Auseinandersetzung zwischen einer solchen Großmacht und einer solchen kleinen Randgruppe, dem Pharaonenreich und den israelitischen Sklaven. Dass der Pharao diesen Kampf verlor und die Sklaven wenigstens der Bibel nach aus Ägypten auszogen, waren wirklich unerhörte Wunder und eine frohe Botschaft für alle Sklaven dieser Erde. Das zweite Buch Moses schildert sodann den Übergang von der negativen Freiheit der Freigelassenen zur positiven Freiheit eines freien Volkes. Israel nahm eine Verfassung an, deren Einzelbestimmungen nicht zufällig mit den Rechten der Sklaven beginnen (Ex 21,1). In diesem freien Volk wollte Gott sich niederlassen, darum schließt das Buch Exodus mit dem Bau des Gotteshauses (Ex 26-40). In der Mitte der fünf Bücher Moses steht aber das Buch Leviticus, das die meisten Gebote und Verbote enthält, lauter Vorschriften, wie sich die Israeliten der Gegenwart Gottes würdig erweisen und ihm dienen können. Erst durch dieses priesterliche Gesetzeswerk wird Israel zu einem abgesonderten, heiligen Volk. Allerdings ließ sich das realexistierende Volk nicht freiwillig das schwere Joch des Gesetzes auf den Nacken legen, es bedurfte einer harten Umerziehung in der Wüste, die eben das Buch Numeri schildert. Am Ende der langen äußeren und inneren Reise steht das Gottesvolk an der Schwelle des Gelobten Landes.

Das Buch Deuteronomium stellt dem Volk die Utopie des Überflusses und Gerechtigkeit jenseits des Jordan vor, doch schärft es ihm zugleich ein, nicht zu vergessen, woher es kam und zu welchen Bedingungen es das Land bekommen und behalten darf. Insgesamt erzählen die fünf Bücher Moses von einem revolutionären Projekt: von den Vorkämpfern, von Aufstand und Befreiung, von der idealen Gesellschaft der Reinen, vom langen Marsch durch die Wüste und von der Utopia.

Alle fünf Schritte – Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium – sind zur Entstehung des Gottesvolkes notwendig, wird nur ein Schritt ohne die anderen gemacht, dann entstehen die bekannten religiösen Einseitigkeiten und Pathologien. Eine Genesis-Religion wäre eine primitive Vater- und Vaterlandsreligion; eine Exodus-Religion eine x-beliebige Revolution und Moses ein Spartakus; eine Leviticus-Religion eine Kirchen- oder Sektenreligion, eine Numeri-Religion eine kulturfeindliche Nomaden- und Eremitenreligion, eine Deuteronomium-Religion eine Gesetzes- und Gedenkreligion. Die Geschichte der jüdischen Religion und ihrer Tochterreligionen ist voller derartiger Einseitigkeiten, die aber dem biblischen Vollbegriff des Gottesvolkes nicht gerecht werden.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr