Zizit

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Parascha 384. Ansprache für Freitag, den 17. Juni 2011 …

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Fromme jüdische Männer tragen unter ihrem Hemd ein besonderes „Unterhemd“. An dessen vier Ecken sind „Schaufäden“ angebracht, die unter dem Obergewand heraushängen. Sie bestehen aus vier zusammengelegten Fäden und werden nach einer genauen Vorschrift gewunden und zu fünf Doppelknoten gebunden. Solche „Schaufäden“ hängen auch an den vier Zipfeln des Schals (Tallit), in dem sich erwachsene Juden beim Morgengebet hüllen. Damit wird ein biblisches Gebot erfüllt, das am Schluss unseres Wochenabschnitts steht: „Sie sollen sich an die Ecken ihrer Kleider Schaufäden (Zizit) machen (…). Sie sollen als Schaufäden dienen, damit ihr sie anseht und an alle Gebote des Herren denkt und sie haltet, und nicht nach euerem Herzen und euren Augen späht (Lo Taturu), denen ihr hinterher hurt (Sonim). Damit ihr an alle Gebote denkt und sie einhaltet und eurem Gott heilig seid. Ich bin der Herr, euer Gott, der ich euch herausgeführt habe aus dem Lande Ägypten“ (Num 15, 38 – 41). Mit dieser Stelle schließt auch das jüdische Glaubensbekenntnis. Wenn der fromme jüdische Mann es morgens spricht, nimmt er die Schaufäden des Gebetsschals, betrachtet sie und küsst sie jedes Mal, wenn das Wort  „Schaufäden“ (Zizit) fällt.

Nach der Erklärung des Gebotes sind die Schaufäden eines der „Erinnerungszeichen“ (Ottijot), mit denen sich der fromme Jude die 613 mosaischen Gebote und Verbote ständig vor Augen hält. Die Knotenschnüre sind ein Sinnbild religiöser Bindung, sie stellen die Fessel dar, die sich die Frommen anlegen und die sie vor Verführungen bewahren sollen. Das drücken die „Schaufäden“ noch in anderer Weise aus. Im hebräischen Zahlenalphabet ergibt der Zahlenwert der Buchstaben des hebräischen Wortes für „Schaufäden“ Zizit den Wert 600, zählt man die fünf Doppelknoten und acht Fadenenden dazu, so kommt man auf 613, die Zahl der mosaischen Gebote und Verbote. In jedem Schaufaden ist somit in einer Art Knotenschrift die Anzahl der Gebote eingeschrieben. Wenn das Wort Religion vom lateinischen Verb „religare“, „anbinden“ abstammt, dann sind die Schaufäden das treffendste religiöse Symbol.

Die Bedeutung der Schaufäden wird ferner durch die Geschichten erläutert, die das Gebot in der Bibel umrahmen. Die Bibel selbst bringt uns durch Stichworte auf diese Fährte. Unser Wochenabschnitt beginnt mit der Geschichte der Kundschafter, die zur Ausspähung ins Gelobte Land geschickt wurden, und endet mit einer Prophetenlesung über die Kundschafter, die Josua mit dem gleichen Ziel und zum gleichen Zweck aussandte (Jos 2). Das verbindende Stichwort zwischen dem Gebot und diesen Geschichten ist das hebräische Verb „LaTûr“, „spähen“. Der Wochenabschnitt hatte mit dem Sendungsbefehl begonnen: „Und der Herr sprach zu Moses: Entsende für Dich (Schelach-Lecha) Männer, die das Land Kanaan, das ich den Kindern Israel geben will, ausspähen sollen (Jaturu, Num 13, 1).  Das gleiche Stichwort kehrt am Ende des Wochenabschnitts in der angeführten Erklärung der Schaufäden wieder: „Damit ihr (…) nicht nach eurem Herzen und euren Augen späht (Taturu, Num 15, 41). Diese Stichwortverbindung deutet an, dass die Bibel dieses Unternehmen als Eigenmächtigkeit missbilligt. Eben diesen Verdacht erhärtet der Rechenschaftsbericht des Propheten im 5. Buch Moses (Deut 1, 22 – 41). Diesem Bericht zufolge ging die Initiative zur Spionageaktion gar nicht von Gott, sondern vom verängstigten Volk aus und wurde von ihm nur zugelassen (Deut 1, 22 – 23). Die jüdischen Bibelerklärer hörten die Missbilligung Gottes bereits aus dem genauen Wortlaut des Sendungsbefehls am Anfang unseres  Wochenabschnitts im 4. Buch Moses heraus. Dort heißt es nicht etwa „Entsende!“, sondern „Entsende für Dich!“ (bSot 34b, Raschi z. St.). Aus der Sicht Gottes war die Vorsicht des Volkes Glaubensschwäche. Obwohl er das Volk durch die Wüste getragen hatte „wie ein Vater sein Kind“ (Deut 1,31), besaß es immer noch „kein Vertrauen zu Gott, der“, wie es im 5. Buch Moses weiter heißt, „(dem Volk) auf dem Weg voran zog, um ihm einen Ort zur
Lagerstätte zu erspähen
“ (Deut 1, 32 – 33).

Vielleicht ging es aber noch um etwas anderes als Glaubensschwäche. Immerhin waren die Kundschafter die Besten ihres Volkes (Num 13, 3). Man lese nur einmal die Liste ihrer sprechenden Namen. Für den Stamm Ruben ging Schamua ben Sakur, zu Deutsch: Erhörter Sohn Eingedenks usw. Womöglich nagten an den Edelleuten moralische Zweifel. Denn ihren Bericht über die Uneinnehmbarkeit des Landes schlossen sie mit dem bemerkenswerten Satz: „Wir kamen uns selbst wie Heuschrecken vor, und so kamen wir auch ihnen vor“ (Num 13, 33). Dass Eindringlinge in den Augen von Einwohnern Heuschrecken gleichen, versteht sich, dass sich die Eindringlinge aber selber wie Heuschrecken vorkommen ist doch eigenartig. Waren diese edlen Seelen vielleicht zu zartbesaitet? Glichen sich den heutigen jüdischen Antizionisten, die heute im gewaltigen Chor der Israelkritiker einstimmen? Die Kundschafter durchreisten das Gelobte Land wie Touristen – der Gleichklang des hebräischen Wortes „Tur“ und des Wortes „Tourismus“ ist aber rein zufällig – und brachten beeindruckende Souvenirs mit (Num 13, 23) – wohnen bleiben wollten sie aber sicherheitshalber in der Diaspora (Num 14, 23).

Wenn aber das Verbot „nach (unseren) Herzen und (unseren) Augen zu spähen (Lo Taturu)“, die furchtsamen Herzen und die ängstlichen Blicke der Späher meint (Raschi zu Num 15, 39), dann bekommt das Gebot der Schaufäden einen ganz anderen Sinn, als wir ihm gewöhnlich beilegen. Ihr Zweck wäre nicht, den religiösen Menschen zurückzuhalten und zu skrupulösen Betrachtungen anzuregen, sondern, ganz im Gegenteil, ihn aus unfruchtbaren Zweifeln zu erlösen und ihn im Vertrauen auf Gott und seine Sendung zum Aufbruch zu bewegen. Die Knotenschnüre wären nicht Zügel am Seelenwagen, sondern Taue am Seelensegel.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr