Leo Holzer, Karl und Anna Maria Brandl-Krotzer, die Toleranz benachbarter Feuerwehrleute und das Wunder der privaten tschechisch–österreichisch-bayerischenVersöhnung…
„VERSÖHNUNG ist die Wiederherstellung eines gestörten Verhältnisses zwischen Mensch und Gott…Die göttliche Liebe aber ersehnt die Umkehr des Menschen und nimmt den reuigen Sünder voll Gnade und Erbarmen versöhnt wieder auf…“ (JÜDISCHES LEXIKON, Band IV/2)
„Die Tragödien der Vergangenheit spielen natürlich eine Rolle, allerdings hauptsächlich für die ältere Generation. Für die Jüngeren auf beiden Seiten (Anm. in Tschechien und Deutschland) ist das, glaube ich, kein Thema mehr. Die Schatten der Vergangenheit schwinden langsam.“ (CZ-Außenminister Karl Fürst Schwarzenberg am 14. Mai 2007 in der PASSAUER NEUE PRESSE)
Von S. Michael Westerholz/Deggenau
1. Teil: Die Vorgeschichte
Vor 25 Jahren setzte sich der pensionierte Ingenieur Leo Holzer (1902 – 1989) in seiner Wohnung in „130 00 PRAHA 3-Vinohradi, Sobeslavska 35“ an den Schreibtisch unter dem großen Fenster seines Wohn-/Arbeitszimmers. Die einstigen Weinberghänge unter der Burg waren vom Schnee leicht angestaubt, der Lärm der Stadt dadurch gedämpft. Mit schwerer Hand im Deutsch der verblichenen k & k Behörden, schrieb Holzer:
Mein lb. Kamerad Stadler!
Vor allem wünschen wir Dir und Deinen Lieben ein frohes, gesundes Neujahr! Ich habe am 21. VII. 85 in Vöcklabruck dem Kameraden Aschenbrenner eine Tsch(echische) Auszeichnung übergeben mit dem Ersuchen, Dir sie zu überreichen. Bitte um Bericht, ob Du bereits die Auszeichnung erhalten hast. Ich habe heute eine Bitte an Dich: Gleich nach dem Kriegsende 1945 sind 2 Transporte (einer zu 1000 Juden, einer zu 500 Juden) vom KZ Terezin nach Deggendorf abgegangen. Sie wurden dort untergebracht, viele von ihnen starben dort. Kannst Du mir bitte mitteilen, an welchen genauen Daten sie dort eintrafen, eventuell Namenslisten von den Eingetroffenen? Im Deggendorfer Tagblatt waren einige Namen veröffentlicht, eventuell nähere Einzelheiten! Ich danke Dir im Vorhinein herzlichst. Es wäre sehr traurig, diese Transporte als verschollen zu betrachten. Bitte mir zu schreiben, es sind doch gewiss Leute – Einwohner in Deggendorf, die sich genau erinnern und Verzeichnisse haben (Gemeindeamt, ev(angelisches) Pfarramt, vielleicht jüd(ische) Kultusgemeinde, ev(entuell) in Cham?).
Leider habe ich noch immer schwere Beschwerden mit meinen Augen von der Gürtelrose! In Vöcklabruck war es sehr schön. Ich erhielt von Kamerad E. P. Bürger und von Präs(ident) Struwe Auszeichnungen, die mich sehr freuten. Hast Du den Artikel über die KZ-Terezin-Feuerwehr gelesen, den ich eingesendet habe?
Herzlichste Grüße Dir und Deinen Lieben, allen Kameraden und deren Familien senden Dir Dein Freund Leo und Frau.Wilma.“
Der Briefinhalt ist rasch entschlüsselt: Der Ehrenpräsident der Feuerwehren der Tschechoslowakei, Leo Holzer, berichtete dem ehrenamtlichen Kreisbrandrat als Chef aller Freiwilligen Feuerwehren im Landkreis Deggendorf und hauptberuflichen Bürgermeister der Marktgemeinde Schöllnach, Ferdinand Stadler, dass es im oberösterreichischen Vöcklabruck ein schönes, internationales Feuerwehrfest gegeben habe; dass er – Holzer – dort von Landesbeauftragten und Spitzenleuten der Freiwilligen Feuerwehren Oberösterreichs öffentlich ausgezeichnet worden sei; dass der Chef der Freiwilligen Feuerwehren im niederbayerischen Landkreis Passau, Josef Aschenbrenner, an dem Fest teilgenommen habe und dass er – Holzer – Aschenbrenner eine tschechische Auszeichnung übergeben habe, die für Stadler bestimmt gewesen sei.
Holzers eindringliche Nachfrage nach den beiden Transporten überlebender Juden des KZ Theresienstadt ist indessen nur eine von mehreren Sensationen im Brief des damals 84-jährigen Holzer:
- Er war Jude und der einzige Überlebende einer einstmals zahlreichen Familie.
- Er lebte hinter dem Eisernen Vorhang in einem der verschlossensten Länder des Warschauer Paktes, durfte aber nach Belieben reisen, auch in den stets so verteufelten „kapitalistischen Westen“.
- Er war jener Feuerwehrchef der jüdischen Selbstverwaltung im KZ Theresienstadt, der kurz vor der Befreiung zahlreichen Häftlingen durch ebenso mutigen wie taktisch geschickten Einsatz gegen ihre SS-Bewacher das Leben gerettet hatte.
- Er hatte ungeachtet seiner Leiden schon wenige Jahre nach dem Krieg erste Kontakte zu Feuerwehr-Kameraden in Österreich und schon in den achtziger Jahren auch nach Bayern geknüpft. „Das war halt die mir am ehesten zugängliche Ebene, mit der Versöhnung zu beginnen“, hat er anlässlich eines bewegenden Treffens im oberösterreichischen Bad Ischl gesagt, und: „Irgendwo musste ich ja anfangen!“
Leo Holzers Schreiben löste hektische Betriebsamkeit aus: Denn nicht nur der ungeachtet seines Alters und seiner schrecklichen Erinnerungen so quicklebendige, zu Zeiten aber auch stille, nachdenkliche, an Gräbern einstiger Leidensgenossen sichtbar leidende Mitmensch Holzer wurde von seinem Freund und Feuerwehrkameraden Stadler über die Folgegeschichten Theresienstadts im DP-Lager Deggendorf informiert. Sondern endlich besannen sich auch Deggendorfer auf das, was sie dort in und um die ALTE KASERNE beobachtet hatten, die zum DP-Lager geworden war.
Exakt 20 Jahre nach dem ihm wohlbekannten Prager Feuerwehr-Technikchef Leo Holzer hat Tschechiens Außenminister Karl Fürst Schwarzenberg in einer bayerischen Tageszeitung die Grundthemen des deutsch-tschechischen Verhältnisses angesprochen: Die deutschen Verbrechen an Tschechien und an Tschechen und jenes der Vertreibung auch absolut unschuldiger Deutscher! Tage vor der Veröffentlichung seines Passauer Interviews mahnte er im Prager Rundfunk, „mit Einsicht und Wahrhaftigkeit eine Basis zu Versöhnung und Vertrauen zu schaffen“.
Der gläubige Jude Holzer rang aus religiöser Überzeugung um die Aussöhnung und ein friedliches Miteinander, Fürst Schwarzenberg aus politisch-pragmatischen Gründen. Und als das „Haus der bayerischen Geschichte“ am 24. Mai 2007 in Zwiesel, unweit der bayerisch-böhmischen Grenze, seine Landesausstellung BAYERN-BÖHMEN – CZECHY-BAVORSKO 1500 JAHRE NACHBARSCHAFT eröffnete, sprach selbstverständlich auch Bayerns damaliger Kultusminister Siegfried Schneider die schwierige Nachbarschaft an, deren wiederholte Harmonieansätze seit dem 11./12. Jahrhundert fast regelmäßig gestört worden waren. Das war ebenfalls religiös und politisch begründet worden, aber in Wirklichkeit mit innenpolitischen Zielen oder aus reiner Gier auf das Vermögen fleißiger Juden geschehen.
Zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten unter jenen, die noch in den dunkelsten Zeiten des Nebeneinander zwischen 1938 und 1945/47 und nach grausigen Erlebnissen zwischen 1940 und 1951 jeglicher Rache abschworen, gehören Leo Holzer und Anna Maria Brandl-Krotzer (1919 – 1998), beide Opfer des NS-Regimes, Brandl auch eines der tschechischen Kommunisten. Ferner Brandls Ehemann Karl Krotzer (1920 – 1994), Studiendirektor für Religion an einem Straubinger Gymnasium und einer der wichtigsten Theoretiker und Praktiker der jüdisch-christlichen Versöhnung in Niederbayern. Krotzer hatte einst die Benediktinerabtei Niederaltaich verlassen, unter anderem aus Protest wegen des Verhaltens seiner Kirche im Streit um die antisemitische Wallfahrt „Gnad“ in Deggendorf. Die war auch dank seiner Proteste vom Regensburger Bischof Manfred Müller abgeschafft worden – leider aber erst 1992!
Geopolitische Entwicklungen zwischen Böhmer- und Bayerischem Wald
Was heute als Böhmerwald („Sumava“) und Bayerischer Wald geographisch, geopolitisch und politisch-völkerrechtlich unterschieden wird, war bis ins 11. Jahrhundert die Einheit des „Nortwaldes“ gewesen. Seit 1147 wandelte sich die Bezeichnung auch amtlich zu Böhmerwald. Dieser Begriff meint ein Mittelgebirge, dessen Kamm heute auf rund 120 Kilometer Länge die Grenze zwischen Tschechien, (Ober-) Österreich und Deutschland (Bayern) bildet, bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein der undurchdringlichste Teil des Eisernen Vorhangs! Archäologen und Historiker hatten diesen Böhmerwald als undurchdringlich beschrieben, erst im frühen Mittelalter besiedelt – alles falsch: Menschen der Jungsteinzeit, Kelten und Angehörige der Stämme, die in der Völkerwanderungszeit neue Siedlungsplätze suchten, passierten den Wald und siedelten darin, darunter auch Bojer aus dem namengebenden Stamm der Baiern!
Erst nach der Säkularisation in Bayern, die seit 1803 klösterlichen und Kirchenbesitz dem bayerischen Staat eingliederte, wurde zwischen Böhmer- und Bayerischem Wald unterschieden, seit 1829 auch in amtlichen Urkunden. Da zwar der größere Teil des Bayerischen Waldes im heutigen Niederbayern liegt, jedoch ein weiterer Teil nördlich in der Oberpfalz, bürgerte sich auch der Begriff des Oberpfälzer Waldes ein: Der schließt jene Region ein, in der die Grenzstadt Furth im Wald blühte – und dies über Jahrhunderte buchstäblich; denn die langgestreckte Senke im Gebirgskamm unterhalb des Hoher Bogen war die wichtigste, zugleich aber auch umkämpfste Passage für den Handel zwischen Böhmen und Franken und zwischen jüdischen Händlern auf beiden Seiten des Gebirges. Vor allem, seit im Mittelalter die Glasindustrie, Granitgewinnung, die Holzindustrie und der Holzeinschlag im Böhmerwald große Investitionen erforderten, wuchsen die jüdischen Gemeinden vor allem auf der heutigen tschechischen Seite. Kaum ein Glashüttenherr auch auf der bayerischen Seite, der nicht jüdischen Risikofinanziers seine Gewinne zum Beispiel aus dem Glashandel verdankte. Der wurde mit bis zu sechs Pferden bespannten Schwerlastwagen mit extra breiten Eisenreifen auf den Holzrädern mitunter bis nach Kiew ausgedehnt oder auf Donauflößen und –schiffen bis in russische und osmanische Häfen im Donaudelta und am Schwarzen Meer.
Unter anderem mit dem Ziel, dass Mönche dieses bis heute größte zusammenhängende Waldgebiet Europas erschlossen, war zwischen 731 und 741 das Benediktinerkloster Niederaltaich gegründet worden. Vom Donauufer weg, aus dem mauerumringten geschützten Klosterbereich hinaus führten denn auch sehr frühe Säumerpfade durch diesen Wald ins heutige Böhmen. Auf diesen Pfaden trugen Pferde und Menschen Salz nach Böhmen und auf dem Rückweg Güter aus Böhmen an die niederbayerische Donau.
- So war es nur natürlich, dass um 1692 ein Weber Bartholomäus Liebenwein aus dem böhmischen Unterwuldau (später Untermoldau am heutigen Lipno-Stausee) nach Hengersberg umzog – in den Markt, den die Niederaltaicher Mönche im Jahr 997 als Zentralort für ihren Handel in weiten Teilen der heutigen EU gegründet hatten. Schon 1009 hatten sie vom Kaiser das Markt- und Handelsrecht dafür erhalten.
- Auch war es keine Besonderheit, dass Liebenwein dort heiratete, von der Zunft eine Arbeitsgenehmigung bekam und zwei Jahre später bereits als Civis = Bürger von der lokalen und der bayerischen Obrigkeit akzeptiert war.
- Oder dass sich 1705 ein Kantor Jakob Liebenwein aus Budweis im heutigern Südböhmen in Eging am niederbayerischen Rand des Bayerischen Waldes niederließ, dessen Nachfahren bis in die heutige siebte Generation hinein als Maurer und Anstreicher und in anderen handwerklichen Berufen arbeiteten und arbeiten.
- Und dass ein Teil der riesigen Familie Spitzenberger aus Unterlichtbuchet in Böhmen sich zwischen 1880 und 1900 im Stelzlhof der Gemeinde Hacklberg (heute Stadtteil von Passau), niederließ und Angehörige der böhmischen Familie Weiß aus der Umgebung von Prachatitz sich unter anderem als Zimmerleute im bayerischen Böhmzwiesel ansässig machten.
- Noch 1832 hatte ein bayerischer Braumeister auf die Frage nach seiner Staatsbürgerschaft geschrieben: „Jetzt, da es dazu kömmt, das Bräuanwesen meines Vaters zu übernehmen, fällt mir erst ein, dass ich selbst nicht weiß, ob ich ein Baier oder ein Böhme sei.“ Knapp 100 Jahre zuvor war ein Wittelsbacher böhmischer König gewesen.
So selbstverständlich war solch böhmisch-bayerisches Zusammenleben, dass der schon in Bayern geborene Hacklberger Spitzenberger-Vater 1914 wegen seiner böhmischen Staatsangehörigkeit in die österreichisch-böhmische Armee einberufen worden war. Erst 1924 beantragte er die bayerische Staatsbürgerschaft.
Ansätze zur Verbesserung des im Zeitalter immer radikalerer nationalistischer Strömungen stark abgekühlten Verhältnisses von Deutschen und Tschechen hatte es trotz der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei ab 1938 und des Terrors vor allem der rasch eingesetzten reichsdeutschen Beamtenschaft gegen missliebige Tschechen gegeben: Christliche und Bauernparteien, Wenzel Jacksch und seine sozialdemokratischen Freunde, aber auch „künische (königliche) Freibauern“ in böhmischer Grenznachbarschaft zu Bayern (den russischen Kosaken vergleichbare Grenzschützer der österreichischen Kaiser und böhmischen Könige), hatten mit ihrer Politik des „loyalistischen Aktivismus“ auf Gemeinsamkeiten in jenem Staat gesetzt, der 1918 als Ergebnis des Ersten Weltkrieges und jahrzehntelanger nationalstaatlicher Bestrebungen endlich aus dem implodierten österreich-ungarisch-böhmischen k & k Vielvölker-Kaiserreich hervorgegangen war. Trotz blutig niedergeschlagener Proteste der deutschen Minderheit im Jahr 1919 hatten Vertreter fast aller Mehr- und Minderheiten im Land tschechisch-deutsche politische Gemeinsamkeiten zu definieren versucht.
Die Historie bot Beispiele zeitweise streitfreien Zusammenlebens von Deutschen und Tschechen und friedlicher Nachbarschaft zwischen Bayern und Böhmen seit dem frühen Mittelalter: Der Regensburger Heilige Wolfgang mit seiner seelsorgerischen Kontinuität, der heilige Nepomuk, Patron Böhmens und Bayerns, sind Beispiele dafür. Der Mönch Gunther aus dem reichspolitisch bedeutenden, in Ingolstadt mitbestimmenden, in Österreich und Böhmen begüterten Benediktinerkloster Niederaltaich hatte im 10. Jahrhundert neue Verbindungs- als Handelswege (Säumerpfade, Goldene Steige) zwischen Donau und Moldau angelegt, die beide Regionen im heutigen Bayerischen und Böhmerwald in religiöser und in wirtschaftlicher Hinsicht stärkten. Und wer heute ein kühles Pilsner schätzt, würdigt den Vilshofener Brauer Groll, der es als erster in Pilsen braute. Noch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatten bayerisch-böhmische Investoren und ihre jüdischen Partner Glashütten und die dazu gehörenden Wälder auf beiden Seiten des Gebirges bewirtschaftet. Und als der Hartmanitzer Freibauer, Bürgermeister und Pferdezüchter Franz Seidl 1944 letztmals Pferde beim Regener Brauherrn Falter und bei einem Friedberger/Frymburker Kunden ablieferte, beschwor er die herkömmliche Partnerschaft: „Euer Krieg ist verloren, bald sind wir wieder frei. Aber deshalb werden wir nicht zu Feinden!“ Der tragische Irrtum kostete ihn und Tausende das Leben.
Als die böhmische Königstochter Ludmilla im 15. Jahrhundert Albert Graf von Bogen heiratete, waren Träume von einem bayerisch-böhmischen Territorialstaat nicht völlig abwegig. Doch in einem blutigen Krieg zerplatzten sie. Die Bogener Grafen, Konkurrenten der Wittelsbacher um die Vorherrschaft in einem staatlichen Gebilde, starben 1242 aus und hinterließen Bayern neben einem stattlichen Territorium die weißblauen Rauten im Staatswappen. Und spätestens mit den Rachefeldzügen der Anhänger des Prager Kirchenreformers Jan Hus (1415 während des Konzils von Konstanz widerrechtlich verbrannt) in Teilen Altbayerns sowie mit dem Prager Fenstersturz am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) verschärfte sich das unselige Auseinanderdriften von Tschechen und Deutschen. Es kulminierte in der Vernichtung der Juden in Böhmen durch die Deutschen zwischen 1938 und 1945, die neuerliche Judenverfolgung bald nach der kommunistischen Revolution und in der Hinrichtung des Generalsekretärs der tschecho-slowakischen Kommunisten, Rudolf Slansky (1901 – 1952), sowie der völkerrechtswidrigen Vertreibung von drei Millionen Deutschen und der Wegnahme von 150.000 Eigentumsobjekten auf 24.280 Quadratkilometern. Dabei starben bis zu 250.000 Unschuldige, darunter auch entschiedene NS-Gegner, als Opfer des entfesselten, politisch gesteuerten Mobs, freilich auch als Racheopfer nach der ebenso brutalen Tötung zahlloser Tschechen und der zielgerichteten Ermordung fast aller Juden des Nachbarlandes durch vom NS-Staat gedeckte deutsche Verbrecher.
Es waren hochachtbare Persönlichkeiten aus allen Schichten, die sich ungeachtet grausiger Erlebnisse und der Schrecken des Kalten Krieges um Versöhnung bemühten:
- Wolfgang Aigner, der im Turm der Deggenauer Kirche eine Glocke aus seinem böhmischen Heimatdorf aufhängte;
- Josef Baron Mraz aus Mähren, den seine tschechische Frau an die Benés-Schergen verraten hatte und der trotz langer Haft alsbald seine drei Kinder in der CSSR von Bayern aus finanziell unterstützte;
- der Textilfabrikant Heinrich Kunert, den tschechische Insurgenten 1945 misshandelt und eingesperrt hatten und danach neuerlich folterten. Tschechische Mitarbeiter seines Werks in Warnsdorf befreiten und geleiteten ihn nach Sachsen in Sicherheit. Als die ihm enteignete, nun „volkseigene“ tschechische Firma „Elite“ klamm wurde, beförderte der jetzt Deggendorfer Kunstfaser-Fabrikant Kunert den Absatz der Produkte aus dem heutigen Varnsdorf.
- Ihren persönlichen Frieden mit den Nachbarn schlossen auch Ingenieur Rudolf Kratzmann aus Münchsmünster, als er in den frühen fünfziger Jahren eine Brieffreundschaft in Esperanto mit einem Burschen aus seiner Heimatstadt Tetschen (heute Decin) begann, „Schwarzarbeiter“ (Modeschmuckmeister) Ernst Seidel aus Warmensteinach im Fichtelgebirge, der erstmals 1964 wieder nach Gablonz reiste und dem neuen Eigentümer seines Elternhauses und Ex-Schulfreund bestätigte: „Ich klage mein Eigentum nicht ein; es gehört jetzt Dir. Mal muss ja Friede sein!“ Seither legte er alljährlich bis zu 1500 Kilometer in der verlorenen Heimat zurück. Und Holzgestalter Rudolf Arwed Loquai aus Augustusburg und seine Nachfahren im schwäbischen Pöttmes, die schon wenige Jahre nach der Vertreibung wieder Kontakte in die verlorene Heimat aufnahmen. Die hat Sohn Arwed sen. mittlerweile in seinem privaten, ungemein engagierten Versöhnungswerk quer durch den einstigen „Ostblock“ bis weit nach Russland hinein ausgedehnt.
Die Juden Tschechiens
Juden in Böhmen – das ist zumindest zu Beginn im 10. Jahrhundert keine Erfolgsgeschichte – obwohl ausgerechnet sie ein enges Miteinander von Juden und Arabern dokumentiert: Denn die Profession dieser frühen jüdischen Böhmen war der Sklavenhandel! Der spanische Reisende Ibrahim ibn Jaqub berichtete nach 960 über seine offenbar ungestörten Reisen in Böhmen, bei denen er gesehen haben muss, wie junge Menschen für die Märkte Arabiens eingefangen wurden. Klar, dass dies und die Verschleppung nicht ohne Wissen der Obrigkeit stattfinden konnte. 1977 kam Dusan Trestik zu dem Ergebnis, dass Böhmens Fürsten lange Zeit die Gewinne aus dem Sklavenhandel als wichtigste Einnahmequelle betrachteten. Sie sprudelte mehr Geld in die Kasse als der Wert ihrer Beute aus beinahe ununterbrochenen Kriegshändeln. Dieser grauenhafte Handel mit eingefangenen Menschen vor allem aus dem böhmischen Expansionsgebieten in Kleinpolen funktionierte bis über die Mitte des 10. Jahrhunderts hinaus.
1091 beschreibt Cosmas von Prag die beiden jüdische Ansiedlungen in Prag sowie deren Bewohner als sehr wohlhabend. Nach einem ersten staatlich organisierten Pogrom in Böhmen im Jahre 1098 wanderten zahlreiche Juden nach Ungarn und Polen aus, deutsche Kaufleute rückten nach und rissen den Handel an sich. Erst im 13. Jahrhundert schuf die Entwicklung neuer Städte in Böhmen die Voraussetzung für eine weitere Ausbreitung jüdischer Ansiedlungen in allen Teilen des Landes. Prag blieb das jüdische Zentrum Böhmens.
Im 12. Jahrhundert, rund 200 Jahre nach der teils gewaltsamen Christianisierung Tschechiens,entwickelte sich im Lande eine besonders widerliche Form des Antijudentums: Juden wurden verfolgt und unter Zwang getauft. Doch verstärkt ab 1253 erhielten Juden weitere Bürgerrechte, die es Christen verboten, Juden zu schlagen, zu taufen oder gar zu töten. Wer Gräber oder Synagogen beschädigte, musste mit Bestrafungen rechnen. König Johann von Luxemburg aber wurde ab 1336 zum Schrecken der Juden: Willkürlich wurden sie eingesperrt und nur gegen Lösegeld freigelassen; ihr Eigentum wurde geplündert, Hoffnungen auf König Karl IV. und seinen an sich großzügigen Judenschutz erfüllten sich nicht ganz – die Kirche zwang ihn zu einer Anordnung, die Juden zwang, sich durch hohe, spitze Hüte jedermann kenntlich zu machen. 1389 wurden 3000 unschuldige Juden getötet, weil laut einem Gerücht im Getto ein Priester ausgelacht und gesteinigt worden sei.
Den heute weltberühmten „Guten Ort“ in Prag genehmigte 1410 König Wenzel IV., der auch die von Ottokar II. verordneten Privilegien der Juden erneuerte und sogar noch erweiterte. Vor allem bestrafte er Übergriffe hart – schob aber die eingezogenen Beträge durchweg in die eigene Tasche, während die beraubten Juden unentschädigt blieben. Zwischen 1420 und 1526 gab es neue antijüdische Gesetze.
Als 1526 Ferdinand I. böhmischer König wurde, hofften die böhmischen Juden auf ein friedlicheres Dasein – und wurden neuerlich enttäuscht: Nicht nur, dass dieser Habsburger sie in ihrer bisherigen Rechtlosigkeit beließ, kam es 1543 nach landesweiten drastisch-brutalen Übergriffen auch noch zu einer Massenflucht der Juden. Nur die Gemeinde Prag blieb erhalten – aber ihre Mitglieder mussten ihre Oberkleidung auf der linken Brustseite mit einem gelben Stoff markieren. Erst als Rudolf II. 1576 König wurde, kam es zu einer Entspannung. Es war die Zeit, als Rabbi Löw segensreich in Prag auftrat.
Der „Prager Fenstersturz“, bei dem 1618 kaiserlich-königliche, also habsburgische Beamte aus einem Obergeschossfenster des Hradschin auf einen darunter liegenden Misthaufen gestürzt wurden, war Auslöser für den folgenden Dreißigjährigen Krieg, der weite Teile Europas verwüstete. Der Aufstand böhmischer Protestanten gegen die Habsburger sah die Habsburger als Sieger – und erwies sich als kurzzeitiger Vorteil der Juden: Die Böhmen verloren sämtliche Rechte, den Juden aber wurde erlaubt, das Ghetto zu verlassen und ihren Handel auszuweiten. Schon zehn Jahre später stiegen aber die Steuern bis in unbezahlbare Höhen. Eine Pestepidemie und das Massensterben im Kriege, dazu die Zerstörung zahlloser Ansiedlungen und Entleerung riesiger Landstriche ließen die überlebenden Juden total verarmen.
Kaum 50 Jahre nach dem Krieg starben 3500 Prager Juden in einer weiteren Pestepidemie, und 1689 vernichtete ein Großbrand 318 jüdische Häuser und elf Synagogen in der Prager Altstadt. Neue Matrikel mit erschwerten Zuzugs- und Niederlassungsbestimmungen veranlassten Juden ab 1724 zur erneuten Flucht nach Westungarn und Polen. Und weil Maria Theresia den Krieg um Schlesien gegen Preußen verlor, ließ sie in einem innenpolitischen Schachzug im Dezember 1744 alle Juden aus Prag und Böhmen ausweisen. Das verordnete sie auch den Juden in jenen Teilen Schlesiens, die in ihrer Macht geblieben waren – ein kapitaler Fehler: Die Wirtschaft des Landes brach dermaßen ein, dass die herrische Kaiserin und Königin jetzt rasch umschwenkte und Juden auf zehn Jahre befristete Aufenthalte in Schlesien und Böhmen gewährte – verbunden mit derartig überhöhten Steuern, dass selbst die geschäftlich erfolgreichsten Unternehmer sich hoffnungslos verschuldeten, mit ihnen die Prager Gemeinde, die auch noch von einem weiteren Brand erheblich geschädigt wurde.
Ein „Toleranzpatent“ des Kaisers Joseph II. verschaffte den Juden eine teilweise Religionsfreiheit. Doch in der Zeit der Aufklärung und unter großem herrschaftlichen Druck, aber auch Anfeindungen der christlichen Nachbarn sahen sich die jüdischen Untertanen des Kaiserhauses gezwungen, bürgerliche Namen anzunehmen. Die für die Registrierung zuständigen Beamten machten sich vielfach einen üblen Spaß daraus, unseren Ahnen teils lächerlich, demütigende, sogar Wut und Ekel auslösende Namen anzuhängen. Noch fanatische Nazis und ihre willigen Helfershelfer ergötzten sich daran, auch in der Gegenwart wirken sie hier und da nach – bis hinein in kaum kaschierte antisemitische „Judenwitze“!
Dennoch ließen sich vor allem in Prag große jüdische Persönlichkeiten nieder: Herz Homberg (1749 – 1841), der 1812 sein Buch: „Bne Zion. Religiös-Moralisches Lehrbuch für die Jugend israelitischer Nation“ veröffentlichte, Drucker, Verleger und Lexigraph Moses Israel Landau (1788 – 1852), der Vertreter der jüdischen Aufklärung („Haskala“), Peter Beer (1758 – 1839), und viele andere.
Alle die eigenen Ängste und Bedrückungen, aber auch jene ihrer Ahnen waren den Prager Juden so gegenwärtig, dass viele von ihnen Drahtverhaue aufstellten, als die Mauern des Ghettos eingerissen wurden: Diese Mauern, von ihren christlichen Erbauern als Zwangsmaßnahme gegen die Juden gedacht, als ein großes Gefängnis, hatten den Juden Schutz gesichert und das Zusammengehörigkeitsgefühl in den wiederkehrenden Zeiten der Not und Gewalt gestärkt.
Mit dem Revolutionsjahr 1848 begann auch die Befreiung der Juden. Bald fiel der Ghettozwang, 1850 wurde der jüdische Teil Praqs als fünfter Stadtteil „Josefstadt“ angegliedert. Seit 1871 wurde Prag zu einem Zentrum der Schriftsteller und Künstler, während Brünn, Olmütz, Leitmeritz, Lobositz, Budweis und viele kleinere Städte wie Pilsen, Klattau und das weltweit bekannte Hopfenanbaugebiet um Saaz, ja sogar Dörfer in der Umgebung der zahlreichen Burgen und Schlösser des Landes aufholten: In Teplitz-Schönau begannen die Karrieren zahlreicher Schauspieler, die nach ersten Erfolgen dort bald nach Prag, Wien und Berlin auf weltweit angesehene Bühnen wechselten.
Laut Volkszählungen erreichte der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung Böhmens ab 1846 nur maximal 1,8 Prozent, in Mähren 2,2 Prozent. In dem Maße, wie Juden sich emanzipierten, stieg aber auch der Stern der Antisemiten. Karl Kraus hat in seiner „Fackel“ dagegen angeschrieben, unter anderem im Streit mit dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844 – 1910). Aber es war bezeichnend, dass bei antideutschen Unruhen 1920 in Prag das sogenannte „Jüdische Rathaus“ gestürmt und das Inventar weitgehend zerstört wurde.
Die Besetzung der Tschechoslowakischen Republik durch die Deutsche Wehrmacht und die Gründung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ bedeutete den Untergang der Juden des Landes: Nur rund 11.200 von einst 82.000 überlebten. Heute sind viele jüdische Friedhöfe im Lande wieder zugänglich, nahe der bayerisch-böhmischen Grenze in Gutwasser (Dobra Voda) befindet sich ein kleines, feines jüdisches Museum.
Diese Filiale des Jüdischen Museums in Pilsen ist eine Gedenkstätte für 110 vernichtete Gemeinden in Westböhmen. Es ist das Haus der Familie Adler, die hier einen Laden und ein Gasthaus in dem katholischen Wallfahrtsort betrieb, dessen Heilquelle der oben genannte Benediktiner Pater Gunther aus Niederaltaich entdeckt hatte. Der Sohn Simon Adler als begabter Schüler wurde Rabbiner, zuletzt an der Hohen Synagoge zu Prag, Gelehrter und Übersetzer. Er wurde nach Theresienstadt verschleppt und schließlich in Auschwitz ermordet: Seinem Bruder war die Flucht nach Palästina gelungen, sein kleiner Sohn überlebte und ließ sich ebenfalls in Israel nieder. Das Familienhaus in Gutwasser/Dobra Voda wurde nach der Wende 1989/90 von tschechischen Soldaten geräumt und mit Zustimmung der in Israel lebenden Erben zu einem Museum ausgebaut, das sowohl Lebensart und Lebensumstände der Familie Adler, als auch das religiöse Leben der Juden Westböhmen dokumentiert.
Der Mord an Rudolf Slansky, in Pilsen als Salzmann geboren, in die Sowjetunion geflohen, war ein Verbrechen des Kommunistenchefs Klement Gottwald. Der räumte so einen vermeintlichen Rivalen um die Macht im Lande unter allesamt falschen Anschuldigungen aus dem Weg. Er warf ausgerechnet dem Juden Slansky zum Beispiel eine Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern vor, ferner Spionage für die Westmächte. Gefälschte „Beweise“ sollten einen angeblichen Hochverrat belegen. Der Schauprozess gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten Slansky und vierzehn Mitangeklagte, darunter elf Juden, der mit der Hinrichtung von elf in Wahrheit loyalen Regierungs-, Partei- und Wiederaufbau-Verantwortlichen endete, war zugleich ein weiterer Nachkriegspogrom in Europa, in dem binnen weniger Jahre sechs Millionen Juden ermordet worden waren. Otto Fischl, Mordechai Oren, Josef Frank, Ludwig Freund, Otto Katz (der sich Andre Simone nannte) hießen jüdische Gefährten Slanskys, Gelehrte waren darunter, die Franz Kafka, Egon Erwin Kisch und andere Geistesgrößen jener Zeit zu ihren Freunden zählten. Dank des Prozesses mit den vorformulierten Urteilen und einer grausligen Propaganda im Lande waren Juden, die sich in den neuerstandenen Staat mit all ihren Kräften und Fähigkeiten hatten einbringen wollen, fortan aus Führungspositionen ausgeschlossen.
Gegenwärtig leben nur noch rund 5000 Juden in Tschechien, d. h. in den beiden Landesteilen Böhmen und Mähren. Wahrscheinlich ebenso viele, die im Lande leben, bekennen sich nicht mehr, teils aus den Schrecken der Verfolgung begründet, als sie G´tt vergeblich anriefen. Teils auch aus rein pragmatischen Gründen, endlich einmal in Frieden leben zu können – wenn auch unter Verlust jener jüdischen Identität, die die von den Römern aus ihrer Ur-Heimat vertriebenen Juden zwar über die ganze Welt verstreut, ihnen dort aber im engen religiösen Zusammenhalt ein Überleben sogar in Notzeiten gesichert hatte. . Die berühmte Synagoge in Pilsen wurde saniert und restauriert, und in Prag entwickelte sich eine lebendige Gemeinde mit Annäherungen an die ruhmreiche Vergangenheit der Juden im einst „goldenen Prag“, so dass vor der Dämmerung des Sabbats Juden in Kaftan und Fellmütze auf dem Weg in die Synagoge zu sehen sind, auch hier und da mitten am Tage zu den traditionellen Gebetszeiten.