Leo Holzer und Theresienstadt

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Leo Holzer, Karl und Maria Brandl-Krotzer, die Toleranz benachbarter Feuerwehrleute und das Wunder der privaten tschechisch-österreichisch-bayerischen Versöhnung…

Von S. Michael Westerholz/Deggenau

 FortsetzungII. Teil 

D. Ingenieur Leo Holzer war als jüdischer Österreicher tschechischer Herkunft geboren. Nach dem Zusammenbruch des k & k-Reiches war ihm 1919 ein tschechischer Pass ausgestellt worden. Nach einem erfolgreichen Ingenieurstudium betrieb er mit einem österreichischen Freund eine Firma für Brandschutztechnik im mährischen Neu Kohlin im Kreis Elbogen. Nach dem Einmarsch der Deutschen gelang es Holzer, seine Jüdischheit noch einige Zeit zu verbergen. Auch sein Geschäftspartner verriet ihn nicht. Doch als tschechische Untergrundkämpfer 1940 über jene Straße einen Draht spannten, die der Partner täglich zwei Mal mit dem Motorrad passierte und dessen geköpfter Torso auf die Straße stürzte, tauchte Holzer unter. Er wurde Monate später gefasst und gehörte zu den ersten Häftlingen des im November 1941 eröffneten KZ Theresienstadt.

Dieses KZ, von den Nazis als „Heimstatt der Juden“ und als „Altersheim für Juden“ getarnt, als Vorzeigeghetto zur (erfolgreichen) Täuschung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und anderer Human-Organisationen ausgebaut, dehnte sich alsbald in der Garnison immer weiter aus, während in der sogenannten „Kleinen Festung“ des heutigen Terecin bereits seit 1940 Gestapo-Häftlinge eingekerkert, gefoltert und ermordet worden waren. Besucher sahen eine anscheinend pulsierende Stadt, gut gefüllte Schaufenster, flanierende Senioren, scheinbar glückliche Kinder. Sie begeisterten sich an Theater-, Opern- und Operettenaufführungen erstklassigen Niveaus, hörten Orchester höchster Güte und sahen Solisten aller Kunstarten – alles eine widerliche Show mit geschundenen Menschen und mit realen Waren, die die hungernden, zerlumpten Häftlinge nie verspeisen oder anziehen durften. Regelmäßige Transporte brachten 88 202  Häftlinge oft unmittelbar von der Bühne herunter nach Auschwitz. Nur 4000 überlebten.  

Theresienstadt war Ende des 18. Jahrhunderts auf Befehl Kaiser Josephs II. als Festung gebaut worden. Nun wurden die 7000 Stadtbürger umgesiedelt, waren im Mai 1942 bereits 28 000, im September 58 000 Menschen eingesperrt. Leo Baeck (1873 bis 1956) darunter, der Präsident der Reichsvertretung Deutscher Juden, Regine Jonas (1902 bis 1944), Deutschlands erste Rabbinerin, und Adolfine, eine Enkelin des „Vaters der Psychologie und Psychotherapie“, Siegmund Freud  und zahlreiche Religions-, Wissenschafts-, Kunst-, Finanz- und Wirtschaftsprominente.

Zu den Kasernengebäuden gesellten sich Baracken und Notbauten; denn auf dem Höhepunkt der NS-Macht  vegetierten 141 000 Häftlinge unter unvorstellbaren Umständen im KZ, davon 70 000 Senioren. Von 15 000 Kindern überlebten nur 150. Und als sich das Kriegsende abzeichnete, zwangen die deutschen Verbrecher weitere 13 000 Häftlinge aus anderen KZ im Osten auf Todesmärsche nach Theresienstadt. Dort wurden insgesamt 33 456  Menschen ermordet.

Leo Holzer war seit Dezember 1941 Chef des Häftlingskommandos „Feuerwehr und Luftschutz“ im KZ Theresienstadt. Er bildete zahlreiche Mithäftlinge aus, weil im letzten Jahr vor der Befreiung immer wieder Verschleppungen aus dem Kreis von maximal 65 Feuerwehrleuten stattfanden. Es gelang ihm, Geräte und Schläuche zu beschaffen, die Zisternen mit Wasser zu füllen und den Brandstifterorgien nach Trinkgelagen der SS-Wachmannschaften und der KZ-Chefs standzuhalten. Wiederholt gefoltert und von SS-Schergen nach deren Gusto geprügelt, entging er vielen willkürlichen Mordanschlägen. Holzers Mannschaft bewahrte bei Überschwemmungen an der Eger-Mündung in die Elbe Stadt und Umland von Leitmeritz vor dem totalen Untergang, beseitigte katastrophale Sturmschäden im KZ und im zivilen Umland, rettete Häftlinge, die auf Zwangsmärschen oder an Arbeitsplätzen umkippten vor der sofortigen Ermordung, brachte gefährdete Häftlinge, vor allem Kinder und kranke Senioren, in Sicherheit.

  • Doch schon weitaus früher hatte Holzer seinen Pragmatismus aufblitzen lassen, seine Fähigkeit, sich zum Wohle der Mithäftlinge zu behaupten. Der umstrittene Karl Loewenstein, *1887 in Siegen, Seeoffizier im Ersten Weltkrieg, mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse sowie mit dem Hausorden der (seit 1871 bis 1918 auf dem deutschen Kaiserthron regierenden) Hohenzollern ausgezeichnet, hatte durch seine Machtbesessenheit viel Unruhe in die Häftlingsreihen getragen. Der Banker war nach der unsäglichen Nazi-Definition „Halbjude“, evangelisch getauft und stand der „Bekennenden Kirche“ als teilweise widerständiger Kirchenorganisation nahe. Er hat sich als KZ-Häftling in Theresienstadt mit widerlichen Kontakten zu Gestapo- bzw. SS-Verantwortlichen und mit schier unerträglichen Streitereien wider die Leidensgenossen unmöglich gemacht. Dies vor allem, als er die von ihm selbst später im V. Kapitel seines eigenen Rechtfertigungsbuches als „Scheinbare Selbstverwaltung“ geschmähte Organisation an sich zu reißen versuchte. Er erwähnt Leo Holzer, der sich geschickt aus dem Dunstkreis Loewensteins herauszog und nie in den Verdacht der heimlichen Opportunität oder gar der Kollaboration mit den Peinigern geriet.

Im Gegenteil, Holzer, der die Feuerwehr bis 1943 zwar unter Kontrolle des Ältestenrats, aber in eigener Verantwortung führte und dann erst dem Judenältestenrat direkt unterstellt wurde,  bewährte sich mitmenschlich und mit offenbar unerschütterlichem Mut. So, als er im April 1944 dem 40-jährigen Vitezslav Lederer nach dessen Flucht aus dem „Familienlager“ Auschwitz-Birkenau beistand. Lederer hatte entdeckt, dass SS-Rottenführer Viktor Pestek sich in eine jüdische Gefangene verliebt hatte. Weil Lederer dem Aufseher versprach, ihm bei der Rettung des Mädchens zu helfen, besorgte Pestek für Lederer eine SS-Uniform. Die Silberschnur der Sonderdienste an dieser Uniform erleichterte die wagemutige Flucht vorbei an allen Wachen. Den Arm zum „Hitler-Gruß“ erhoben, passierten die beiden ungleichen Männer die Postenkette, auf das Losungswort „Tintenfass“ öffneten sich als Tore. Mit bereitgestellten Radln erreichten sie den Bahnhof Auschwitz und sprangen auf den eben anfahrenden Eilzug in Richtung Prag auf.

Als die Auschwitzer Kommandantur am 6. April 1944 gegen 11:30 Uhr das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin, das Wirtschaft-Verwaltungsamt (WVHA) in Oranienburg, alle östlichen Staats- und Kriminalleitstellen sowie die Grenzwachen alarmierten, waren „Siegfried“ Lederer und Viktor Pestek bereits in Pilsen untergetaucht. Ins KZ einzudringen und Kontakt mit Häftlingen in Theresienstadt aufzunehmen fiel Lederer leicht –  denn er kannte sich dort aus, hatte in der Langestraße 18 gelebt, ehe die Deutschen die Stadt zum KZ machten. Am 19. Dezember 1943 war er als Schutzhäftling“ in Auschwitz eingeliefert worden.

Dreimal schlich er sich in das KZ, traf sich mit Freunden, darunter Leo Holzer, Jirki Petschauer von der Ghettowache und das Mitglied des Ältestenrats, Otto Schließer. Er informierte sie über die Massenmorde in Auschwitz, und sie glaubten ihm – nicht aber die Häftlingsmehrheit: Sie berief sich auf Post von Verwandten, die sie aus Auschwitz erhalten habe, ahnte nicht, dass diese Post zur Täuschung vordatiert war und von der SS nach Gusto verschickt wurde.

Immer noch glaubten Menschen, die einst Heimplätze oder Wohnraum in jener Stadt gekauft hatten, die angeblich „Hitler… bzw. der Führer (ihnen) geschenkt“ hatte, was die Nazis ihnen vorgaukelten – die kultivierten Deutschen konnten doch nicht sooo sein, mörderisch, betrügerisch, erbarmungslos! Friedrich Suppliett, aus Cranz in Ostpreußen geflohen und 1945 von US-Soldaten mit der Maßgabe aus dem Kriegsgefangenenlager in Tittling im Bayerischen Wald entlassen, als Helfer in das DP-Lager Deggendorf einzutreten: „Diese unglücklichen Menschen hatten schmerzlich erlebt, dass ihre vorgeblich menschenfreundliche Unterbringung in Theresienstadt und ihr ruhiger, gesicherter Lebensabend dort eine gigantische, mörderische Lüge gewesen war. Und trotzdem wollten sie immer noch nicht wahrhaben, dass die Deutschen nichts Geringeres planten als die Vernichtung aller europäischen Juden!“

Bei einem weiteren Besuch im KZ brachte Lederer Waffen und Bauteile für ein Radio mit. Er schrieb nieder, was er in Auschwitz mit eigenen Augen gesehen hatte und gewann einen Bootseigentümer in Konstanz am Bodensee als Boten, der den Bericht zum Komitee vom Internationalen Roten Kreuz im schweizerischen Genf brachte. Zu irgendwelchen Aktionen, angesichts der von Lederer beschriebenen Fakten weitere Massenmorde zu unterbinden, kam es nicht.

Dann stand Lederer dem Ex-SS-Mann bei, als der seine Freundin Renée Neumannová aus Auschwitz befreien wollte. Der Versuch missglückte, Pestek kam ums Leben. Lederer floh und versteckte sich dort, wo nicht einmal die SS ihn vermutete: In Theresienstadt! Weil es ihm nicht gelang, die Häftlinge von der Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstandes zu überzeugen, und weil er fürchten musste, entdeckt zu werden, floh Ledereer weiter und schloss sich den Partisanen in der Slowakei an. Nach deren Niederlage kämpfte er bis zum Kriegsende in einer tschechischen Partisanengruppe.

Holzers Feuerwehr wurde mit sach- und fachfremden Arbeiten eingedeckt: nach Stürmen herausgerissene Dachplatten von Dächern und teilzerstörte Dachrinnen von Häusern zu bergen; Gräber zu schaufeln; Latrinen auszuspülen; Kranke zu transportieren. Auch zu Wachen und zu ausgedehnten Kontrollen der immer neuen Baracken- und Produktionskolonien in und um Theresienstadt wurden die Feuerwehrleute herangezogen. Nach den stürmischen Anfangs- und Aufbaujahren waren sie in einem eigenem Dienstgebäude zusammengelegt worden: Sie und ihre Angehörigen waren jetzt vor Abtransporten nach Auschwitz sicher. Doch am 28. Oktober 1944 wurden nach vorherigen Ausmusterungen gestandener Feuerwehrmänner die letzten zehn Spezialisten in den sicheren Gastod geschickt. Kommandant Holzer beantragte aus Verzweiflung auch den eigenen Abtransport. Doch die SS teilte ihm zehn Niederländer zu, die aus dem berüchtigten Lager Westerbork herangeschafft worden waren.

Als die SS-Verbrecher kurz vor der Befreiung der Häftlinge Vorbereitungen zu einem finalen Inferno trafen, unter anderem Massengräber ausheben ließen und zahlreiche Brände legten, löschten Holzer und seine Mitverschworenen inmitten alliierten Bomben- und gleichzeitigen Geschosshagels der außer Rand und Band geratenen SS-Wachen. Die hatten unter Führung des SS-Scharführers Heindl auf Befehl des Lagerkommandanten Rahm zum Beispiel am jüdischen Freudenfest „Purim“ ( 28. Februar 1945) an vierzehn Stellen des KZ zugleich gezündelt – im Krankenrevier, unter Baracken, in Magazinen und auf vollbelegten, schwer zugänglichen Dachböden. Solche Brandstiftungen und immerwährende Schießereien, Prügelorgien und Hungertage häuften sich bis zur Befreiung.

Als das IKRK am 6. Februar 1945 rund 1 200 Juden in die Schweiz und am 15. April 1945 die wenigen überlebenden dänischen Juden nach Schweden schaffte, nahmen Holzer und seine Feuerwehrleute den Kampf gegen die SS-Wachen auf: Die hatten ein finale furioso geplant: Kein Häftling sollte lebend in die Hände von Sowjetsoldaten fallen, die das KZ am 8. Mai 1945 befreiten. Leo Holzer: „Wir drohten der SS mit einem Wasser-/Sandgemisch aus allen Rohren, mit Pulver- und Kohlensäure-Handlöschern, Patschen, Äxten, Hämmern und Knüppeln. Sie rückte ab, die Sowjets kamen. Bei einer Hungerrevolte der Mitgefangenen in der Nacht zum 9. Mai mussten wir die Lebensmittelmagazine schützen. Aber dann endlich konnten wir täglich zur Wasser-, Lebensmittel- und Medikamenten-Beschaffung ausrücken, erstmals seit Jahren ohne Angst – wir waren ja daheim und frei!“

 

Leo Holzer ging heim nach Prag, fand aber keine Überlebenden seiner Familie vor. Er wurde der landesweit führende Feuerwehrtechnik-Ingenieur, verweigerte den Parteieintritt, überstand die bürgerlich-kommunistischen Wirren und entging antisemitischen Staatsverbrechen in der CSSR. Er heiratete eine jüdische Studienrätin, die ebenso wie er als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hatte. Vor allem sie arbeitete aktiv in der jüdischen Gemeinde, bei der Kindererziehung und in Sozialprojekten mit.

Monarchen und Staatschefs aller europäischen Länder in West und Ost, aus denen Menschen nach Theresienstadt verschleppt und dank Holzer gerettet worden waren, hatten diesen für seinen Mut im KZ ausgezeichnet. Und da er an den Höfen in Den Haag, London, Brüssel, Oslo und in den Residenzen vieler Staatschefs jederzeit willkommen war, begann er alsbald, um Versöhnung zu werben. Ich selbst habe ihn im Sommer 1986 in Brüssel getroffen. Wie selbstverständlich ging er unangemeldet ins Schloss zu König Baudoin I., nahm mich mit und saß Minuten nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Chef der Wachen und einem königlichen Sekretär dem König gegenüber. Der hatte auch gegen einen unangemeldeten Begleiter Holzers nichts einzuwenden – „er ist ja ein Freund unseres geschätzten Leo Holzer!“ Im Gespräch zeigte sich eine wunderbare Vertrautheit der beiden Männer.

Die sonst so unansprechbaren, harschen Prager Kommunisten ließen Holzer gewähren, obwohl seine brieflichen und persönlichen Kontakte unter anderem zu Feuerwehr-Historikern in aller Welt auch Themen der jüngsten Geschichte berührten: Zum Beispiel, wie Staatsgremien in die eigentlich unpolitischen Feuerwehren hineinwirkten. In NS-Deutschland waren dies SS und Wehrmacht gewesen, in den Oststaaten waren es vor allem Staatssicherheits-Organisationen oder Volkspolizeien. Holzer:  „Meine Rolle als Demokratie-, Menschenrechts- und Weltoffenheits-Feigenblatt der CSSR-Führung halte ich aus!“

Ab dem vollendeten 65. Lebensjahr wurde ihm seine österreichische Rente aus den frühen Arbeitsjahren in der k. & k.-Monarchie zugesprochen. Mangels entsprechender Überleitungsverträge wurde das Geld aber auf ein Sperrkonto in Österreich überwiesen. Es reichte den Eheleuten Holzer für jährlich einige Urlaubswochen im einst kaiserlichen Bad Ischl. Bereits in den sechziger Jahren weitete Holzer seine Kontakte zu Feuerwehrkameraden in den östlichen Ländern erst zu österreichischen, dann zu bayerischen in Altbayern und Franken aus. Der mittlerweile pensionierte Passauer Kreisbrandrat Josef Aschenbrenner: „Mich sprach er bei einem Feuerwehrfest in Oberösterreich an. Sein Ziel trotz seiner von Deutschen verschuldeten Leiden, des Verlustes seiner gesamten Familie und trotz seines Elends als verfolgter Jude war die Versöhnung zwischen Tschechen, Österreichern und Deutschen. Er war tolerant, klug, mutig. Ich habe ihn privat in Prag besucht und war stolz, dass er mich mit in seine Synagoge nahm.“

Sein langjähriger Freund Ferdinand Stadler, trotz dessen Vollzeitbelastung als Bürgermeister der prosperierenden Marktgemeinde Schöllnach auch ehrenamtlicher Kreisbrandrat in Deggendorf, war von  Holzers Anfrage zum Verbleib der überlebenden Häftlinge aus dem KZ Theresienstadt in Bayern überrascht: Auch diese dramatische Geschichte, die sich ab Mai 1945 in der „Alten Kaserne“ Deggendorfs abgespielt hatte, war in der Donau- und Bayerwaldstadt total verdrängt worden.. Das Lager mit maximal 1600 überlebenden Juden wurde von der US-Armee und von der UNRRA; einer Unterorganisation der UNO, betreut. Dieses DP-Lager wurde im Juni 1949 aufgelöst. Weil Stadler nun unverzüglich Unterlagen über das Lager sammelte, geschah ein kleines Wunder.

–> Fortsetzung

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