Das wundersame Toleranzverständnis in der fränkischen Gemeinde Ermreuth. 3. Teil – Eine Gemeinschaft fällt auseinander…
Von S. Michael Westerholz, Deggenau
Unzweifelhaft bemerkenswert weil ungewöhnlich in jener dunklen Zeit der psychischen und physischen Vernichtung der europäischen Juden war jenes Kapitel christlich-jüdischer Solidarität, das in den Schreckensjahren ab 1933 bis zur Auswanderung von vier der 1938 noch 19 Juden in Ermreuth geschrieben wurde. Die Geschichte der Toleranz hatte kein Happy End, obwohl Synagoge und Friedhof lange nach dem Krieg instand gesetzt wurden.
Nein, diese Worte sind nie gefallen, aber so hätten sie lauten können: „Jetzt haben die Ermreuther Bummerl trotz Verbots nicht nur Abschied gefeiert mit den Schwarzhaupt, sie haben das Judenpack auch noch per Bahn auf den Bahnhof Nürnberg begleitet und unter Tränen, weiße Tücher schwenkend, ins Ausland verabschiedet, und das im Februar 1939 – erschossen gehören´s alle miteinander!“
Nur – wem hätte Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Johann Oßmann dies erzählen können? Ihm hörte ja niemand zu, weil die meisten Dörfler auf der Seite der Juden standen, mit ihnen feierten, sie in ihre Wohnungen holten, die kluge und eloquente Rosa Schwarzhaupt noch Jahre nach der Machtergreifung und ungeachtet aller Juden-Bestimmungen, Ausgrenzungen,Verbote und Abstrafungen als Schulsprecherin durchsetzen wollten und sich in einigen Fällen um jüdische Immobilien zum wahren Wert bewarben. Nicht einmal die Zerstörung allen Mobiliars in jener schrecklichen Nacht im November 1938 in den jüdischen Häusern hatte Oßmann und seinen Spießgesellen und irgendetwas genützt – im Gegenteil, Hass und Verachtung schlugen ihm entgegen.
Wirklichkeit war leider aber, dass die Nazis bei den Immobilien eine Zugriffsmöglichkeit hatten, die sie weidlich ausnutzten: Zwar wurden die amtlichen Verkehrswerte angesetzt, als die 1933 noch 21 Juden unter 558 Bürgern Ermreuths ihre Häuser verkaufen mussten. Doch die Einzahlungen verschwanden auf Reichsbank-Verwahrkonten, weil angebliche Steuerschulden herbeigezaubert wurden und die geschädigten Juden für alle Lasten der staatlich organisierten „Volkswut“ am 9./10. November aufzukommen hatten. Und wo dann noch ein paar Mark auf Sperrkonten übrig geblieben waren, bürdete man den gewaltsam aus dem Lande geprügelten Juden noch eine „Reichsfluchtsteuer“ auf. Mit einem Wort: Die Juden sahen von ihren Vermögen keinen Pfennig.
Dem Johann Oßmann halfen sein Wissen um die deutschen Realitäten jener Zeit und seine Gedanken darüber nicht weiter. Die Nazis hatten diesen Bauern, den einzigen Eingesessenen unter ihren wenigen Mitgliedern im Dorf, zum Bürgermeister gemacht. Seither plapperte er stets nach, was in Berlin den Deutschen jüdischen Glaubens vorgeworfen wurde. Und er vollstreckte, was das zunehmend diktatorerische Regime gegen die Juden ausheckte: Boykottierte deren Geschäfte erst und schloss sie dann, wie jenes der Schwarzhaupt. Er verbot christlich-jüdische Hochzeiten und intime Freundschaften. Er verwehrte jüdischen Kindern die Schulbildung. Und er trug von Amts wegen die Zwangs-Vornamen Israel und Sara in jüdischen Geburtsurkunden nach.
Aber dann war Wilhelm (Adolf) Schwarzhaupt gestorben. Den Feuerwehrzeugwart hatten alle als „Schepperjuden“ gekannt, weil er mit Blechgeschirr die Fränkische Schweiz bereist hatte. Er besaß überdies eine Landwirtschaft und den Schnittwaren-Dorfladen – und er war geizig nur sich selbst gegenüber gewesen. Wer für ihn gearbeitet hatte, wer unverschuldet in Not geraten war, liebte Wilhelm (Adolf) Schwarzhaupt. Denn er war großzügig, und ein gspaßiger Mensch war er auch gewesen, weshalb seine Frau ihn mal – halb belustigt, halb ratlos – „Saujud“ genannt hatte. Sie, die so manche Dorfhochzeit auf eigene Kosten bekochte, hatte sich über seine Leidenschaft für fränkische (Schweins-)Bratwürstl geärgert, die er bei jeder Kerwa genossen hatte. Bei diesen christlichen Kirchweihfesten hatte er oft ungeniert ausgelassen auf der Straße getanzt und jede Frau, die zufällig des Wegs gekommen war, und alle Deandla mitgerissen. Weder bei christlichen, noch bei jüdischen Mitbürgern hatte es deswegen je Ärger gegeben: „`s is halt unser Wilhelm“, hatten Zeugen seiner harmlosen, lebensfrohen Ausgelassenheit sich amüsiert.
Als dieser geschätzte Mitbürger gestorben war, hatte Bürgermeister Oßmann strikt verboten, „den Juden ans Grab zu begleiten“, wie´s früher selbstverständlich gewesen war. Was für ein Ärgernis erregendes Verbot in Ermreuth, wo die Obrigkeit bis heute keinen guten Stand hat und Oßmann gleich gar nie einen gewann. Auch dem verhassten Bürgermeister zum Fleiß, vor allem jedoch, weil der Wilhelm (Adolf) sel. A. ein so beliebter Mitbürger gewesen war, waren´s nahezu alle die zwei Kilometer zum Guten Ort am Berg durch die Obstgärten mitgegangen. Klageweiber hatte es nicht gebraucht, weil die Ermreuther unisono in Tränen aufgelöst hinter dem Verblichenen hergeschluchzt hatten.
Schock auf dem 1711 angelegten, seither zwei Mal erweiterten Friedhof mit seinen damals rund 500 Gräbern: Oßmann hatte ein namenloses Verscharren angeordnet. 1932 war einem verstorbenen Mitbürger noch ein Stein gesetzt worden. Jetzt, 1936/37, hatte der Bürgermeister sogar so etwas verboten.
An diesem Abend verinnerlichten brave Christen von Ermreuth alles, was das Alte Testament über Rache hergab. Oßmann hatte genau das befürchtet. Es war nicht die erste Prügelattacke auf ihn. Mitbürger griffen sich den Ortsgruppenleiter. Buchstäblich jeder schlug zu. Oßmann sah Sterne, wurde grün und blau poliert. Er blutete überall, wusste genau, wer´s gewesen war – und ahnte voraus, was bei dieser ebenso wie bei den vielen anderen von ihm angeleierten Gestapo-Untersuchungen herauskommen würde: NICHTS!
Die soziale Schichtung im Dorf war so: Max Wassermann hatte das erste Telefon, einzig Schwarzhaupt und er besaßen Radios. Olympia in Deutschland, 1936, hörten Jung und Alt Ermreuths vor dem Knatterkasten in Wassermanns Wohnung mit. Vater Jakob Wassermann hatte schon vor 1933 täglich Radio gehört. Er wusste, dass Juden nur das Davonlaufen bliebe. Er hatte dem Schreihals Adolf Hitler schon seit den zwanziger Jahren, erst Recht dem Reichskanzler und „Führer“ seit 1933 genau zugehört. Im Laufe der Jahrzehnte kauften 12,5 Millionen Menschen Hitlers „Mein Kampf“ mit den exakten Vorhersagen seiner mörderischen Politik – aber offenbar niemand las, was er angedroht hatte. Millionen hörten Hitler bei seinen Tiraden auf den Reichsparteitagen im nahen Nürnberg und im Radio – aber sie hörten ihm nicht wirklich zu. Jakob Wassermann indessen verstand und begriff Hitler und zweifelte keinen Augenblick: „Der tut, was er angekündigt hat!“
Im Kreis der Familie sprach der klarsichtige Jakob Wassermann, der geschätzte Prophet in der Familie: „Wo sollen wir hin? Es ist mein letzter Sommer auf Erden. Und hier ist unsere Heimat seit 500 Jahren. Eine andere haben wir gar nicht!“ Alle begriffen: Es eilte, eine neue Heimat zu suchen, wie einst ihre Ahnen, die aus den Städten Frankens vertrieben worden waren und hier vor Jahrhunderten eine gefunden hatten. Sie waren damals willkommen gewesen, während das nahe Bayern noch weit ins 19. Jahrhundert hinein Juden nicht wirklich geduldet hatten, nicht einmal nur durchreisende. Als 1813 auch Juden einen Familiennamen annehmen mussten, hatten sich die Ermreuther Hönlein, Wassermann, Schwarzhaupt, Bauer, Goldner benannt, einige gar Ermreuther – so sehr liebten sie ihre Heimat.
Jetzt, als sie neuerlich vertrieben wurden, fand Schwarzhaupts Haus von 1794 für 5.000 Reichsmark einen Käufer. Tatsächlich zahlte er aber nur 4.000 RM ein, lachte die Schwarzhaupt aus, die ihr Geld verlangten. Als er auf dem Anwesen verdarb, nannten Ermreuther Nazifeinde das eine Gottesstrafe. So selbstverständlich bezogen sie Juden in ihre Gottesnähe ein. Denn die damalige Kirchenlehre, dass Juden Jesus gemordet hätten, missachteten sie. Sie kannten ja ihre Juden, lebten Toleranz in einer Art Frühchristentum, von dem sich ihre lutherische, protestantische Kirche weit entfernt hatte: Ganze Scharen evangelischer Theologen hatten sich bemüht, einen angeblichen jüdischen Einfluss auf ihre Kirche zu überwinden. Und auch katholische Theologen hatten getaufte Juden plötzlich nicht mehr als Christen anerkennen wollen. Zyniker unter solchen Gott vergessenen „Christen“ hatten den irgendwohin in den Osten verschleppten Juden-Christen empfohlen, sich dort missionarisch unter ihren jüdischen Mitbrüdern zu betätigen…
Jeden Freitag vor Sabbatbeginn ging Käthe Tummet in die Synagoge. Die christliche Synagogendienerin zündete die Lichter an, was Juden am Sabbat nicht durften, und Max Wassermann hob sie hoch, weil das Mädchen so klein war. So kam Käthe auch mit Metzger Wassermanns Tochter Bella zusammen, der sie zeitlebens nachtrauerte. Solch eine beste Freundin für alle Mädchengeheimnisse wie Bella hat sie nie wieder gefunden. Zu wissen, dass die so unbekümmerte, immer fröhliche und aufgeschlossene Bella irgendwo in einem für Käthe unerreichbaren Land, nur weil sie Jüdin war, ermordet worden war und dass es nirgendwo ein Grab für sie gab, an dem sie – Käthe – um sie weinen, sich mit ihr unterhalten hätte können, hat Käthe ihr Leben lang belastet. Sie hat später zwei Söhne gehabt und ihnen ihre Erlebnisse in jenen Jahren gerne erzählt. Auch über ihren besonderen Stolz hat sie gesprochen: „Dass auch wir uns immer wieder auf den Sabbat eingelassen und wie viele Nachbarn am Abschiedsmahl für die Schwarzhaupt teilgenommen und sie am nächsten Morgen auf den Bahnhof Nürnberg begleitet haben.“
Fanny Schönberger war, was man in Altbaiern eine Bissgurn nennt. Baierns wichtigster Sprachforscher J. A. Schmeller meint damit einen nicht sonderlich schmackhaften Fisch, der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs assoziiert mit dem Begriff eine zänkische Person, herrisch und derrisch! Kein Schadchen (Schmuser, Heiratsvermittler) hat die an sich ansehnliche Frau unter die Haube bringen können. Wer immer ihr vorgestellt wurde, suchte entweder nach wenigen Sätzen das Weite, oder wurde in die Flucht geschlagen. Darum hatte sich Fanny eine eigene „Familie“ ausgesucht – die des christlichen Dorfmetzgers Trummer, der bei Bedarf unter den Augen eines Rabbis oder Gemeindebeauftragten auch koscher schlachtete. Jeden Abend ging Fanny ´rüber zu den Trummer, nahm ihren Stammplatz im Wohnzimmer ein, stellte (weil sie sich nichts schenken ließ!) die eigene Tasse, Tee und Zigaretten auf den Tisch und war´s zufrieden – die gutmütigen Trummer auch! Nachbarn schauten ihr frohgemut hintnach, wenn Fanny pünktlich wie die Maurer aus ihrer Haustüre heraus über die Gasse zu Trummer huschte, die ihr am Sabbat all jene Arbeiten abnahmen, die ihr selbst nicht erlaubt waren. Und sie lächelten froh: In Ermreuth war eben, wenn alles seinen gewohnten Gang nahm, eine offensichtlich unveränderliche Ordnung. Und die gefiel!
Wer heute von Ökumene redet und die Suspendierung katholischer Priester erlebt, weil die das lutherische Abendmahl nahmen, mag Margarete Putzner bewundern. Die war soeben vierzehn Jahre alt geworden, als sie ihrer Mutter verkündete. „Ich hab´ mich in den Schabbes eingelassen.“ Sollte heißen, ich habe die Einladung von Hönlein zum familiären Sabbat angenommen. Das Mädchen flocht sein goldgelbes Haar zu Zöpfen, legte das Sonntagsgewand an und ging an der Hand seiner ebenfalls sonntäglich gewandeten Mutter hinüber zu den jüdischen Nachbarn. Die Mutter tat das schon seit Jahren regelmäßig, der Vater wie viele seiner Spezl so oft wie möglich. Alle jüdischen Familien im Dorf hatten solche Schabbesgäste. Aber nur wenige mussten deren Hausdienste als Sabbatgojs bezahlen. Für die meisten hoben sich diese Dienstleistungen mit den Kosten der gemeinsam genossenen Speisen auf.
Frieda Hönlein zündete, kaum kündigte sich die Dämmerung an, die Kerzen des siebenarmigen Leuchters an. Dann verteilte sie in feierlicher Stille mit ausgebreiteten Händen den Segen des Lichts über Zimmer, Haus und alles und alle darin, ehe sie Brot brach und Wein reichte. Margarete, die tolerante Christin, genoss, wessen sie teilhaftig geworden war: Güte, Zuversicht, Gläubigkeit. Sie hat ihren Glauben bewahrt und die jüdische heilige und heimelige Feierlichkeit des Sabbats voller Magie und Mystik nie vergessen.
Weltkrieg, Inflation, Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit trafen auch Ermreuther Juden und Christen, Bauern, Handwerker, Arbeiter, jüdische Händler, Privatkreditgeber. Wohl darum erinnern sich viele Ermreuther bis heute, dass Alma Schwarzhaupt einst in Wilhelms Laden ging, einen Ballen des besten Stoffs aus dem Regal nahm, mehrere Bahnen übereinander rollte und dann abschnitt. Diese Kostbarkeit trug sie zu christlichen Nachbarn, die Konfirmationskleider daraus nähten. Nie hätten sich die Eltern der damit Beschenkten solchen Stoff leisten können. Aber einige von ihnen besaßen Hühner, und Alma fand noch ewig später stets nestwarme Eier auf ihrem Ladentisch.
Beredt war das oftmals verschwiegene Miteinander, beredet werden musste da wenig. Denn Ermreuther in dieser christlich-jüdischen Dorfgemeinschaft waren stetig enger zusammengewachsen, seit Ermreuther Juden 1554 erstmals urkundlich genannt worden waren. Ihre Nennung war darum geschehen, weil sie seinerzeit alljährlich ein Pfund Schießpulver für den (christlichen!) Kirchweihschutz liefern mussten. Sie waren mit ihrem Fleiß, ihrer Verträglichkeit und ihrer strengen orthodoxen Religiosität ein Segen für das Dorf Ermreuth. Ungeachtet dessen mussten 1933/39 unter Zwang fünfzehn jüdische Ermreuther nach Nürnberg umsiedeln und insgesamt sechs nach Amerika fliehen. Es muss ein Schock für sie gewesen sein, als sie im Jahr 1936 entdeckten, dass auf dem Friedhof 19 Grabsteine umgeworfen, einige mutwillig zerstört worden waren. Dass nach dem Krieg auf diesem Guten Ort nur noch 200 Grabsteine gesichert werden konnten und einer darunter ein Kreuz trug, schmerzte die Nachfahren.
Leider war der willige Nazi Johann Oßmann kein Exot unter einander zugeneigten Christen und Juden Ermreuths geblieben. Uniformierte waren immer häufiger durchs Dorf gezogen, Julius Streicher, der später selbst fanatischen Nazis peinliche, nach den „NÜRNBERGFER PROZESSEN“ gehenkte „Frankenführer“, häufig Gast im Schloss gewesen, in dem sich früh schon unter anderem SA breitgemacht hatte. Eines Tages hatte ein bis dahin harmloser Nachbarsbub bei Wassermann das Schlafzimmer gestürmt, Naziparolen gebrüllt und in die Decke geschossen – ein erstes Zeichen, dass die so unverbrüchlich geglaubte Gemeinschaft zu zerbrechen begonnen hatte! Es folgten das Sprechverbot für Christen mit Juden; Terror wurde ausgeübt. Aber unbeirrbar, mutig und nicht ohne eine gehörige Portion ideenreicher Chuzpe im Widerstand von Christen gegen Bürgermeister Oßmann versorgten Nachbarn ihre jüdischen Freunde mit dem Lebensnotwendigen. Potzner nahmen aus ihrem Außenwandfachwerk ein Stück heraus, Hönlein auf Armlänge benachbart, ebenfalls: Durch die geschickt getarnten Löcher wurden nächtlings Lebensmittel weitergereicht, krochen am Freitagnachmittag Familienangehörige zu den Hönlein ins Haus, um dort wie in friedlichen Zeiten vordem als Sabbatgoj zu helfen, ein hier positiv gemeinter Begriff. Dr. Nadler: „Auch in Ermreuth galt lange ein unausgesprochenes Schweigegebot. Aber die Alten plauderten doch irgendwann aus, was sich hier abgespielt hat. Zum Beispiel, dass ganze Einwohnerscharen an den Hohen Feiertagen zu den jüdischen Nachbarn gegangen waren, offen, im Tageslicht.“
Angeborene Mitmenschlichkeit, ein fränkischer Kopp und vor allem bei helfenden Kindern auch ein bisschen Abenteuerlust waren da im Spiel. Überlebende Juden haben´s den Ermreuthern nie vergessen, kamen deshalb nach dem Krieg zurück, um Freundschaften zu erneuern. Wassermann kamen auch, um Entschädigungen zu erkämpfen. Bundesdeutsche Richter mit NS-Vergangenheit haben sie ihnen damals noch verweigert. Und die ebenso verblüffende, wie niederschmetternde Art, wie eine Mehrheit der Deutschen die in ihrem Namen geschehenen Verbrechen verdrängte, setzte sich auch in Ermreuth durch: Bald bestritten sogar alteingesessene Dörfler ihr Wissen über so bekannte Familien wie Wassermann, Schönberger und Wimmelbacher und deren Häuser. Dass Überlebende auf die alten Freundschaften Wert legten, ehrt sie. Denn ungeachtet aller Solidaritäsbekundungen in den schrecklichen Jahren sind die im Ort gebliebenen Juden vernichtet worden. Eine schockierende Vorahnung dessen, was ihnen blühte, war ihnen aufgegangen, als in der grauenhaften „Reichspogromnacht“ nicht allein die Synagoge zerstört und ihre Wohnungen bis zur Unbewohnbarkeit verwüstet worden waren.
Weitaus schlimmer war, dass Bürgermeister Oßmann in jener Nacht den allseits geachteten Max Wassermann brutal zusammengeschlagen hatte. Dessen Freund und Nachbar Schüpferling hatte sich des damals 46-jährigen Ohnmächtigen angenommen, ihm Erste Hilfe geleistet. Mit Schüpferlings Hilfe verließen Wassermann und seine Familie ihre Heimatgemeinde und zogen in eines der Fürther „Judenhäuser“. Max Wassermann erkrankte Jahre später schwer und starb am 17. April 1942 im Jüdischen Krankenhaus Fürths. Es ist nie geklärt worden, warum Oßmann ausgerechnet ihn so angriff: Waren ihm Gerüchte zu Ohren gekommen oder wusste er gar, dass womöglich er selbst oder Verwandte in Wahrheit Wassermann-Kinder waren? Dass er nach umlaufenden Gerüchten ein Halbbruder Max Wassermanns war?
Die fünfzehn jüdischen Mitbürger, die trotz allen Elends bis 1939 in Ermreuth geblieben waren, wurden schließlich in Nürnberg und in Fürth in „Judenhäusern“ zusammengepfercht. 1942 wurden sie in Konzentrations- oder in Vernichtungslager deportiert und alle ermordet: Laut Listen, die Yad Vashem zur Verfügung stellte, und den Angaben des „Gedenkbuch(es) – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945“ waren dies:
Frieda Dachauer geb. Hönlein, *1913, starb 1943 in Auschwitz,
Juli Goldbach geb. Hönlein, *1880, starb 1941 in Riga oder Stutthof,
Klara Hess geb.Götter,*1875, wurde 1942 in Riga erschossen,
Frieda Hönlein geb. Götter, *1886, wurde 1943 in Stutthof vergast,
Gustav Hönlein, *1882, wurde 1943 in Stutthof vergast,
Hermann Hönlein, *1878, starb in Stutthof,
Louise Hönlein, *1869, starb unbekannt wann und wo, vermutlich in/bei Riga
Martin Hönlein, *1904, starb „am Deportationsort“, Daten und Ort unbekannt.
Sofie Hönlein geb. Erlanger, *1879, starb in Stutthof/Riga.
Therese Neu geb. Bauer, *1875, wurde in Amsterdam/Niederlande gefasst, verschleppt und „Killed by the Nazis in Poland“.
Maria Schloss, *1886,
Betty Strauß geb. Schönberger, *1875,
Clara Teutsch geb. Holzinger, * 1884, aus Augsburg nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz verschleppt, vermutlich im Mai 1944 vergast. Tochter Ruth entkam nach Salt Lake City in Utah/USA.
Betty Wassermann geb. Wolf, *1893,
Bella Wassermann, *1929, starb in Maidanek
Hugo Wassermann, *1896,
Kurt Joseph Wassermann, *1927, starb in Maidanek.
Max Friedrich Wassermann, *1892, (siehe oben: er starb kurz vor der Deportation 1942 in Fürth, dem einst vielgerühmten „fränkischen Jerusalem“, sechs nahe Angehörige wurden deportiert und ermordet!).
Rosa Wassermann geb. Kohn, *1854,
Werner Wassermann, *1925, starb in Maidanek-Treblinka. Die Daten der Wassermann trug der Bruder Bernard von Bella, Kurt Joseph und Werner Wassermann zusammen. Von der Mutter Betty, der Witwe von Max Wassermann, sowie von Onkel Hugo fand er keine Spur mehr. Bernhard Wassermann entkam nach Baltimore in die USA
Am 4. April 1921 war Lehrer Jakob Gönninger, *1891, mit seiner gesamten Familie an den neuen Schulort Zirndorf umgezogen. Er hatte in der Schule, Synagoge, Gemeinde und als Sekretär sehr engagiert mitgearbeitet. Dieser aus seinem Inneren heraus leuchtende Mensch mit seiner hohen Bildung und Herzensbildung, ein Vorbild für Schüler und Erwachsene, ist samt seiner Frau Lina geb. Veilchenblau, * 1894, und den Töchtern Adele, *1927, Elisabeth, *1924, und Susanne Gönninger, * 1930, deportiert und ermordet worden.
Neonazi-Verbrecher verdunkelt das Bild Ermreuths
Es war eine Lappalie, aber sie zeigt, wie klein und wie primitiv focussiert das Denken eines bis heute in Franken zutiefst verachteten Menschen namens Karl-Heinz Hoffmann ist. 1937 in Nürnberg geboren, Porzellanmaler, Grafiker und Absolvent der Nürnberger und der Münchner Kunstakademie, erwies er sich als bar jeglicher Prinzipien: In der DDR schloss er sich 1952 der „Gesellschaft für Sport und Technik (GST)“ an, einem paramilitärischen Verband kommunistischer Ausrichtung. 1953 floh er in die Bundesrepublik Deutschland, begann eine Reisetätigkeit, die ihn in die Türkei, den Iran und nach Indien führte. 1956 beschlagnahmte deutsche Polizei bei ihm Waffen, sieben Jahre danach flog er in der Türkei als Waffenhändler auf. Im Fasching 1968 trat er in einem Nürnberger Cafe in SS-Uniform auf. Seine 1973 gegründete „Wehrsportgruppe Hoffmann“ wurde erst 1980 als verfassungsfeindliche Organisation verboten – eine politisch-juristische Nachlässigkeit der Deutschen, die im Ausland schwere Ansehens- und Glaubwürdigkeitsschäden anrichtete.
Als am 19. Dezember 1980 in Erlangen der jüdische Verleger und langjährige Kultusvorstand der Nürnberger Gemeinde, Schlomo Levin und dessen Lebensgefährtin Frieda Poeschke, von Hoffmanns Spezl Uwe Berendt erschossen wurden, gab es Indizien für eine Mittäterschaft Hoffmanns: Seine Beretta-Maschinenpistole war die Mordwaffe, eine Brille von Hoffmanns Ehefrau Franziska lag am Tatort – und der Mörder folgte dem zuvor schon geflohenen Hoffmann in den Libanon. Im Kreise radikaler Palästinenser bildeten Hoffmann, Berendt und weitere Deutsche sich in hartem Drill militärisch weiter. Berendt wurde ermordet aufgefunden, andere Deutsche wurden brutal gefoltert, und Hoffmann plante, einen Staatsanwalt ermorden zu lassen. Ein italienischer Neonazi plauderte aus, Hoffmann sei an einem schrecklichen Bombenattentat 1980 in Bologna beteiligt gewesen.
1981 auf dem Flughafen Frankfurt am Main verhaftet, wurde Hoffmann 1984 vom Landgericht Nürnberg-Fürth zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt: Geldfälschung, Nötigung, gefährliche Körperverletzung, Verstöße gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz sowie Fälle von Freiheitsberaubung waren ihm vorgeworfen worden. Schon 1989 wurde er wegen „guter Führung und günstiger Sozialprognose“ aus der Haft entlassen. Er selbst und seine „Wehrsportgruppe“ waren zum Mythos in der Neonazi-Szene geworden – obwohl Hoffmann sich im Prozess und bei Vernehmungen negativ über seine Spezl ausgelassen und den unglückseligen, ihm hörigen Berendt als Haupttäter denunziert hatte.
Die „günstige Sozalprognose“ – ein bitterer, zynischer Schmarrn: Hoffmann, den man in Ermreuth stark heruntergekommen in Erinnerung, machte sich nach der deutschen Wiedervereinigung als Unternehmer in der Ex-DDR zu schaffen, häufte mit Haussanierungen, Immobilien- und Antiquitätenhandel in Nürnberg und München einigen Reichtum an – und blieb in der Neonazi-Szene aktiv: Am Rande der NPD, mit einem Spezl, der mittlerweile nahe Ingolstadt Tretminen, Granaten und Maschinenpistolen gehortet hatte, am Rande der Republikaner und der Rechtsradikalen „Freien Kameradschaften“. In Ermreuth zeigte ihm eine couragierte Frau seine Grenzen auf und die Armseligkeit seiner intoleranten Primitivität.
Die Synagoge ohne Kultusgemeinde – Ermreuths Glück mit Dr. Rajaa Nadler
Seit rund zwanzig Jahren ist Dr. Rajaa Nadler in Ermreuth, eine Islam- und Semitikwissenschaftlerin, Autorin, Mutter zweier Töchter, angestellt beim „Zweckverband Synagoge und Museum Ermreuth“. Der war im November 1989 vom Landkreis Forchheim zur Sanierung und Erhaltung des Bauwerks gegründet worden. Bewundernswert, was sie, öffentliche Geldgeber und ihre Nachbarn erreicht haben: Die Restaurierung der Synagoge, die seit 1994 wieder G´ttesdienstraum ist, zugleich Museum, ein Gebetshaus ohne Kultusgemeinde freilich. Jugenderinnerungen einst jüdischer Mitbürger und ihrer ehemaligen Nachbarn waren in die Wiederherstellung miteingeflossen.
Der Zerstörung entgangen waren und erst bei der Sanierung gefunden wurden Schätze aus der Genisa dieser Synagoge: Die war auf dem Dachboden in einem dunklen Winkel den Naziverbrechern entgangen. Nun gab sie ihre Schätze preis, die seither in einer Dauerausstellung auf der Empore und im Treppenhaus präsentiert werden: Urkunden, Textilobjekte, Bücher, die einerseits den hohen Bildungsgrad Ermreuther Juden enthüllen, andererseits deren frommen Sinn und Wohlstand, ihre Spendenbereitschaft und ihre weit über die Region hinausgehenden Kontakte. Dr. Nadler und ihre Helferinnen und Helfer haben überdies viele religiöse und profane Erinnerungsstücke sowie Fotos zusammengetragen, die das Leben und Wirken der untergegangenen jüdischen Gemeinde beeindruckend dokumentieren.
Karl-Heinz Hoffmann hat hier und da gelauert – er war neugierig, wie ein jüdisches Haus, der Mittelpunkt einer einst blühenden Gemeinde, wieder auferstand. Anscheinend hatte er sich handwerkliche Grundfähigkeiten angeeignet, als er in Thüringen bei Sanierungen und Restaurierungen Auftraggeber gewesen war. Jedenfalls sprach er Dr. Nadler an: Elektroleitungen seien unfachmännisch verlegt worden; sie könnten brandgefährlich werden. Und dann hatte er anklingen lassen, dass er sich an der Synagoge gerne nützlich machen würde.
Dr. Nadler war nicht erbaut. Und dann unterlief Hoffmann der widerwärtigste Fehler seiner Ermreuther Gegenwart: „Sie sind eine nachgerade sympathische Jüdin“ , hat er Dr. Rajaa Nadler angesprochen und so das letzte bisschen rein mitmenschlichen Ansehens verspielt, das Dr. Nadler ihm entgegengebracht hatte, ihm, dem gemeinen Menschen, der fast ein Jahrzehnt hindurch unter den Augen der bundesdeutschen Ordnungskräfte Schrecken und Angst in weiten Teilen Frankens verbreitet hatte: „Was die Leitungen betraf, hatte er Recht, vielleicht das erste Mal in seinem Leben“, sagt die quirlige Frau mit der Vision von der jüdisch-christlich-islamischen Ökumene. „Aber mit seiner Menschenkenntnis ist´s nicht weit her!“ Und so hat sie ihm geantwortet: „Wie wenig Sie doch wissen: Ich bin Jüdin, sondern eine Katholikin aus Syrien.“ Ihr unüberhörbares Selbstbewusstsein mag Hoffmann gezeigt haben, dass er unerwünscht war – und wie!
Dr. Nadler hat Hoffmann stehen lassen. Sie hat ihn schlicht nicht mehr zur Kenntnis genommen. Sie hat so viel Arbeit gehabt: Bilder, Briefe, Mobiliar der Ermreuther Juden zusammenzutragen, die Synagoge zu betreuen und die Gäste, die aus aller Welt anreisen, um sie zu sehen. Sie hat Interessenten betreut, die die Geschichte der untergegangenen jüdischen Gemeinde erforschten und auch selbst Schriften veröffentlicht.
Sie weiß, dass die meisten der seinerzeit zugezogenen Nazis nach dem Krieg aus dem Dorf weggezogen sind. Andere, die mit NS-Hilfe jüdische Häuser meist zu Spottpreisen erworben haben und Gewinner der unverzeihlichen „Arisierungen“ gewesen waren, bezeichneten sich noch vor wenigen Jahren ungefragt und ungeniert „Arier seit Generationen“ und lehnten Gespräche über die Geschichte „ihrer“ Häuser strikt ab. Unter ihren Nachfahren scheint sich Nachdenklichkeit zu entwickeln. Ex-Bürgermeister Johann Oßmann verbüßte insgesamt drei Haftjahre. Er starb vor 16 Jahren. Außer seiner Familie ging ihm niemand ans Grab. Dr. Nadler: „Würde Schwarzhaupts Haus doch noch abgerissen, wäre das ein später Sieg der mörderischen Nazi-Ideologie, die 0ßmann so brutal vertreten hat!“
QUELLEN:
Dr. Rajaa Nadler/Ermreuth in ausgedehnten Gesprächen und ihren Veröffentlichungen zur jüdischen und zur Synagogengeschichte. – S. M. Westerholz, „Für den braunen Bürgermeister setzte es Prügel“ in DER SONNTAG, Beilage zum DONAUKURIER in Ingolstadt, 8./9. 11. 2003. – Yad Vashem: Personen- und Daten der Ermordeten. – WIKIPEDIA: Ermreuth (landespolitische und jüdische Historie). – Zweckverband Synagoge Ermreuth: Sämtliche Veröffentlichungen zur Synagoge, Schule, Friedhof, Mikwe, Armenpflege. – WIKIPEDIA: Karl-Heinz Hoffmann (Neonazi). – Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden: Führer (sic!) durch die Jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932 – 33. – Jüdisches Leben in der Fränkischen Schweiz, Erlangen, 1997. – Gerhard Philipp Wolf, Ländliches Judentum im Raum zwischen Nürnberg, Bamberg und Bayreuth (Landjudentum in Oberfranken, Band 2, 1995, Beitrag von Eva Groiss-Lau, Bd.3, 1999, herausgegeben von Klaus Guth), hier II. Ermreuth. – Falk Wiesemann / Baruch Ophir, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 – 1945, München/ Wien, 1972.G. Melzer, ANDERLBOTE, Bad Hall, 2007. – Searchlight 11/98 und trend online 12/1998: Österreichische Faschisten pflegen antisemitischen Kult. – Faruk Sen / Hayrettin Aydin, Islam in Deutschland, hier: Vom Beutetürken zum Mitbürger, Verlag Beck München, 2003. – WIKIPEDIA, Beutetürken. – Hartmut Heller, Carl Osmann und das Türkenmariandl, DIE ZEIT, 04. 09. 2003.
Lieber Herr Westerholz,
vielen Dank für ihre kleine Artikelserie. Ich fand sie sehr informativ und wirklich gut geschrieben. Mensch war lesend bei den Ereignissen dabei. Lassen Sie sich bitte nicht irritieren, wenn bei den Kommentaren hier etwas dabei ist, dass Ihrer Vorstellung von guter Erziehung widerspricht.
Wenn sich – sagen wir mal –  „IsraelistTerrorist“-Befürworter mit „IsraelsMordesindG-ttesWille“-Anhänger auch anlässlich Ihrer Artikel beharken, hat dies weder mit diesen noch mit Ermreuth zu tun.
Ich hoffe, noch mehr von Ihnen zu lesen.
Bereits nach dem erstrn Teil dieser Dokumentation hat es Reaktionen gegeben, die ich teils als hilfreich, weil weiterführend empfunden habe, die teilweise aber auch  zu heftigen Auseinandersetzungen geführt haben. Ich bin für jeden Diskussionsbeitrag dankbar, nehme gerne auch Verbesserungsvorschläge, Ergänzungen oder – vor allem – Hinweise darauf an, wie das Schwarzhaupt-Haus in Ermreuth gerettet werden kann. Ich bitte aber dringend um Sachlichkeit: Beschimpfungen entsprechen weder meinem Naturell, noch sind sie hilfreich.
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