Annäherungen und Begegnungen: Ernst Federns Bücher

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Ernst Federn hat – als Sohn des Freud-Stellvertreters Paul Federn lebendiger Zeitzeuge aus dem unmittelbaren Lebensumfeld Sigmund Freuds – intensiv in der Geschichte der Psychoanalyse und mit der Erfahrung der Gewalt, der Vertreibung gelebt, überlebt… Als die Nationalsozialisten ihn wegen seines ihm zugeschriebenen Judentums sowie seines „illegalen“ antifaschistischen Engagements verfolgten schlossen sie ihn aus der Universität aus. Ernst Federn wurde, aus der Not das Beste machend, 1936 Assistent seines Vaters, erlebte so unmittelbar das Entstehen einiger psychoanalytischer Klassiker, so etwa des von Paul Federn  und Heinrich Meng herausgegebenen „Psychoanalytischen Volksbuches“. Nach seiner Befreiung schrieb Ernst Federn sogleich wissenschaftlich über den erlebten Terror: die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen waren jedoch ungünstig, seine Studien blieben ungelesen, tauchten nur vereinzelt in Fußnoten auf. Ernst Federn ging in die USA, wo es kein Interesse mehr an seinen Studien gab. In einem jahrzehntelangen Arbeitsprozess gab er, gemeinsam mit dem sehr viel älteren Psychoanalytiker Hermann Nunberg, sein „väterliches Erbe“ heraus: die vierbändigen „Protokolle“ der Wiener psychoanalytischen „Mittwochgesellschaft“; zuerst auf Englisch und erst sehr viel später auf deutsch.

1990 publizierte der seinerzeit 76-jährige Ernst Federn auf englisch seine erstes eigenes Buch: Seine Essaysammlung „Wittnessing Psychoanalysis“ – 1999 erschienen sie dann auf deutsch unter dem Titel „Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und zurück nach Wien“. 1994, anlässlich Ernst Federns 80. Geburtstages, war der von Tomas Plänkers gemeinsam mit Ernst Federn erstellte Band „Vertreibung und Rückkehr“ erschienen, 1998 folgte die Sammlung seiner Terrorstudien unter dem Titel „Versuche zur Psychologie des Terrors“.

Nachfolgend werden einige Bücher von und über Ernst Federn vorgestellt und diskutiert.

Vertreibung und Rückkehr. Interviews zur Geschichte Ernst Federns und der Psychoanalyse (1994)

Von Roland Kaufhold

Es hat vielfältige Versuche gegeben, „eine“ Geschichte der Psychoana­lyse zu schreiben. Einerseits und vorwiegend waren diese Geschichtsschrei­bungen biographisch – und hierbei insbesondere an der Persönlichkeit Freuds – or­ien­tiert, wie z. B. bei Jones. Andererseits wurde aus gesellschaftskritischer Perspektive versucht, die Entstehung und Entwicklung der Psychoanalyse im Kontext der gesellschaft­lichen Situationen Anfang dieses Jahrhunderts zu erfassen (vgl. z. B. Parin, Reichmayr, Dahmer).

Die ab 1962 auf englisch und ab 1976 dann endlich auch auf deutsch publizierten Bände der „Mittwochgesellschaft“ markierten eine Wende in der Geschichtsschreibung. Sie sind von Ernst Federn und Hermann Nunberg herausgegeben worden. Im Detail vermochte man nun die Anfänge der Psycho­analyse Anfang diesen Jahrhunderts nachzuvollziehen als einen Gruppenprozess von „Pionier­en“, die sich um Freud gescharrt, aber dennoch sehr eigene Beiträge geleistet haben. Die Psychoanalyse wurde als eine „Bewegung“ (E. Federn) erkennbar, die vielfältige Beiträge zu gese­llschaftlichen, kulturellen und klinischen Bereichen lieferte.

Nun hat sich Ernst Federn, im gemeinsamen Gespräch mit Tomas Plänkers, noch einmal intensiv an die Anfangszeit der Psychoanalyse erinnert, wie er sie als Sohn der Psychoanalytikers Paul Federn (1871-1950) erlebt hat, niedergelegt in dem hier rezensierten Buch. Er markiert in der notwendigen Deutlichkeit das zentrale historische Ereignis der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten als Bestim­mungsgröße, ohne deren Kenntnis die heutige Ausformung der Psychoana­lyse nicht hinreichend verstanden werden kann. Der Titel des Buches „Vertreibung und Rückkehr“ ist jedoch nicht nur allgemein-historisch, sondern zugleich auch konkret-biogra­phisch gemeint: Federns Leben entspricht in einer erschütternden und doch zugleich ermutigenden Parallelität der Geschichte und der Psycho­analyse, da der 1914 in Wien geborene Sozialist als junger Mann sieben Jahre lang von den Nationalsozialisten inhaftiert worden ist, emi­grie­ren musste und später wieder nach Österreich zurück kehrte. 

Das Buch besteht aus fünf Kapitel. Einführend wird die Geschichte der Veröffentlichung der Protokolle der Wiener Psycho­analy­tischen Vereini­gung rekonstruiert. Im zweiten, umfangreichsten Kapitel schildert Ernst Federn einige Pioniere der psychoanalytischen Bewegung (Aichhorn, Bernfeld, Paul Federn, Reich, Meng). Die dichten Beschreibungen erwachsen sowohl aus Ernst Federns unmittelbaren Kindheits- und Jugenderinnerungen als auch aus seiner jahrzehnte­langen Arbeit an den „Protokollen“. Sie sind voll von Episoden und Anekdoten, was ihnen – dank seiner außergewöhnlichen Erzähl­gabe – eine beeindruckende Lebendigkeit und Gegenwär­tig­keit verleiht.

Das dritte Kapitel ist insofern zentrale für das Verständnis von Ernst Federns Lebenswerk, als er sich hierin an seine siebenjährige Inhaftierung in Dachau und Buchenwald erinnert. Federn war in diesen beiden Konzentrationslagern von 1938 – 1945 von den Nationalsozialisten wegen seiner aktiven Widerstands­tätigkeit festgehalten worden. Er überlebte. Nach der Befreiung von Buchenwald durch die Amerikaner emigrierte er gemeinsam mit seiner Frau Hilde nach einem dreijährigen Zwischenaufenthalt in Brüssel nach New York, wohin seine Eltern 1939 geflohen waren. 1972 kehrte Federn auf Einladung der österreichischen Regierung wieder nach Wien zurück und arbeitete dort als psychoanalytischer Supervisor und So­zialtherapeut im Straf­vollzug. Entsprechend beschäftigen sich das 4. und das 5. Kapitel dieser  Interviewsammlung mit Federns Er­fahrun­gen mit der Psycho­analyse in den USA sowie mit der Anwendung der Psy­choanalyse im Strafvollzug.

„Am 24. September 1938 sind wir nach Buchenwald gekommen. Es war ein wunderschöner Herbst und man wusste mit diesen vielen tausend Juden – zweitausend Juden – nichts anzufangen (…) und (wir) haben Ziegel geschupft. (…) Das war unsere Arbeit, und da stehe ich, und neben mir steht auch jemand mit einer großen Brille, und dem werfe ich die Ziegel zu, und der lässt sie alle fallen, und das hat mich furchtbar geärgert (…) und deshalb habe ich gesagt: „Warum lässt du alle Ziegel fallen?“ Und da hat er erzählt: „Sind das deine Ziegel?“ „Nein!“ Also kurz: Ein Wort gibt das andere und ich sage: „Du Niemand! – ein Schimpfwort, und er sagt: „Wer ist denn bei dir ein Jemand? Ich bin Bettelheim!“ – „Und ich bin Federn!“ Und da sagt er: „Federn? Bist du etwa verwandt mit Paul?“ Und da hat sich herausgestellt, dass er meinen Vater gut gekannt hat und meine Schwester – kurz und gut – wir haben uns sehr eng befreundet. Das war Ende September in Buchenwald. Wir blie­ben sehr in Kontakt…“ (S. 150f.)

Diese Episode, in der die erste Begegnung von  Federn mit dem damals noch unbekannten Bruno Bet­tel­heim unter den furchtbaren Lebens­bedingungen von Buchenwald im zeitlichen Abstand von über 50 Jahren geschildert wird, ist repräsentativ für den Gehalt und die Intention dieses Buches: Federn beschönigt nichts, wendet sich nicht von der erlebten gewalttätigen Vergangenheit ab, analysiert diese frei von anklägeri­schem Unterton. Die Vergangenheit wird so vor dem Vergessen, aber auch vor der Mystifizierung bewahrt. Zugleich wird deutlich: Ernst Federn – hier repräsentativ für die Geschichte der Psychoanalyse zu lesen – ist nicht das „Opfer“ des Nationalsozialismus, es gibt für ihn – wie man sich heute ausdrückt – keine „Gnade der späten“ Geburt; er ist Zeitzeuge und Akteur, der sich der Gewalttätigkeit und Destruktivität des Nationalsozialismus bereits in seiner Jugend sehr bewusst war und Widerstand leistete.

Im Kapitel „Dachau und Buchenwald (1938-1945)“ (S. 149-178) be­schreibt Federn das Überleben und Sterben in Buchenwald. Er analysiert die Möglichkeiten des Überlebens, sowie die „Privilegien“, die er für sich persönlich in den von ihm ausgeübten Tätigkeiten als Nachtwächter und Maurer sah. Federn schildert mehrere lebensbedroh­liche Situationen, in denen ihm seine psychoanalytischen Kenntnisse hilfreich waren, „um in schweren Situationen durchzukommen“ (S. 152). Deut­lich wird sein ansteckender Optimismus“ (S. 10) im Lager, seine Grundüberzeugung, dass er über­leben werde und die er auch an andere Gefan­gene weiterzugeben ver­mochte: „Für mich war mein Optimismus ganz ent­scheidend für mein Überleben. Ich war völlig überzeugt, dass mir nichts passiert. Und ich habe – das ist natürlich irrational, weil die Wahrscheinlichkeit uner­hört gering war – den Leuten gesagt, mir kann nichts passieren, und da du mein Freund bist, kann dir auch nichts passieren! Und viele meiner Freunde sind auch durchgekommen, natürlich nicht alle. Hier wirkt die Macht der Suggestion, und sie hat den Leu­ten geholfen“ (S. 155).

Federn be­schreibt jedoch auch die Gewalt, die innerhalb von Buchen­wald unter den Gefangenen selbst herrschte. Er war als Trotzkist der Gefahr der Lagerjustiz  mehrfach konkret ausgesetzt, weil die mehrheitlich stalini­stische „Häftlingsselbstver­waltung“ „abwei­chende“ Meinungen nicht zu dulden gewillt war: „Als Begründer der ös­terreichischen Sektion der 4. Internationale war ich im Lager von den Stalinisten her isoliert: Mit einem Trotzkisten war es verboten zu reden.“ (S. 158) Diese Gewalt ging bis hin zu konkre­ten Tötungsversu­chen: „Die kommunistische Lager­leitung sorgte in Buchen­wald sehr bald dafür, dass die allgemeine Volksfrontpolitik durchge­führt wurde. Die Trotzki­sten wurden dabei alle ausgerottet, ich bin der einzige von den Deut­schen, der überlebt hat. Alle anderen Oppositionellen wurden ver­schickt in andere Lager, wo sie umgekommen sind. Nicht einer über­leb­te. Nur bei den französi­schen Häftlingen konnten sie das nicht durch­führen, da die französi­sche Führung des Widerstands sich dagegen aus­sprach.“ (S. 163). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Federn seine traumatischen Erfahrungen in dem Kinofilm „Überleben im Terror. Ernst Federn Geschichte“ der Frankfurter Filmemachers Wilhelm Rösing (1992) dokumentiert hat.

In den Kapiteln über die „Protokol­le“ sowie die „Pioniere der Psychoanalytischen Bewegung“ gibt Federn zahlreiche Anekdoten sowie einord­nende Inter­pretationen von Analytikern der „Anfangszeit“ wieder. Deut­lich wird, dass es nicht die Geschichte der Psychoanalyse gibt, sondern Geschich­ten, die in diesem Fall von einem Wiener erzählt werden. Domi­nierend ist das Bemühen, die geschilderten Persönlichkei­ten nicht zu ideali­sieren, sondern sie möglichst realistisch mit ihren menschlichen Fähig­keiten, Schwächen und Eigenarten, zu porträtieren. Bei den Beschrei­bungen seines Vaters, Paul Federn, wird seine enge Vaterbindung deut­lich. Plänkers bemerkt hierzu im Vorwort: „Wie kein anderer setzt sich Ernst Federn für das wissentliche Erbe seines Vaters ein. Sein enga­giertes Plädoyer für dessen Ich-Psychologie gab mir einen Ein­blick in eine auch im Intellektuellen unverbrüchliche Vaterbindung, die nicht zu­letzt entscheidend zum Überleben der Nazizeit beigetragen haben mag“ (S. 11).    

In dem Kapitel „Erfahrungen mit der Psychoanalyse in den USA (1948-1972)“ beschreibt Federn nicht nur seinen eigenen schwierigen beruflichen Werdegang in den USA, sondern auch  die allgemeine Entwicklung der Psy­choanalyse in den USA hin zu einer „entschärften“ und profitablen Berufstätigkeit (s. Jacoby 1990). Bei der Interpretation von Federns Lebenswerk kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, unter welchen schwierigen Rahmenbedingungen Federn als Überlebender der Konzentrationslager 1950 in den USA beginnen musste. Der größte Teil der europäischen Emigranten hatte zu diesem Zeitpunkt bereits längst eine feste berufliche Position. Einige Passagen – in denen sich Federn in der ihm eigenen Deutlichkeit äußert – mögen zum Weiterlesen anregen:

„Die amerikanischen Analytiker waren damals gar nicht glücklich über die neue Konkurrenz. Vor allem die New Yorker haben sich bemüht, dass die Emigranten so rasch wie möglich weggingen von New York.“ (S. 199)

(…) „Für die Exilanten, die in die USA kamen, war es eine schreck­liche Vorstellung, jetzt Amerikaner werden zu müssen. Der Amerikaner dagegen steht auf dem Standpunkt, dass niemandem ein größeres Glück passieren kann, als Amerikaner zu werden. Sie meinen, wenn einer Ame­rikaner wird und nicht happy ist, dann ist etwas mit ihm nicht in Ord­nung“ (S. 207)  (…) (Die Psychoanalyse) „wurde dort zur Neurosen­therapie und die Neurose war Gegenstand der Psychiatrie. Das hängt sehr mit der amerikanischen Mentalität zusammen: man konnte und durfte über Sexualität nur im Sinne einer Krankheit sprechen. Ein normaler Mensch spricht dort nicht über seine Sexualität. Sexuelle Probleme zu haben gilt schon an und für sich als krank. Die Amerikaner sind ja Puritaner, und zwar von der ärgsten Sorte. (…) Bis heute ist das amerikanische soziale Leben be­stimmt von zwei Dingen – von Religion und Einkommen. Es gibt keine anderen Richtlinien. Die Religion bestimmt das moralische Leben und der Dollar alles andere“ (S. 200f.).

Das abschließende Kapitel „Rückkehr nach Österreich. Zur Anwen­dung der Psychoanalyse im Strafvollzug“ (S. 210-223) ist Federn Wirken bei der Reform des österreichischen Strafvollzug gewidmet. Federn versuchte, seine Erfah­rungen mit Delinquenten und Drogenabhängigen in den USA, aber auch die Methoden seines großen Vorbildes August Aichhorn, in seiner alten Heimat wirksam werden zu lassen. Die gesellschaftlichen Reformbestrebungen jener Zeit bildeten einen günstigen Rahmen für sein Engage­ment. Zu den Grundprinzipien seiner sozialtherapeutischen Arbeit beme­rkt Federn:

„Natürlich habe ich die Prinzipien der Methode Aich­horns beachtet: Vor allen Dingen eine gute Beziehung herzustellen und über das Über-Ich auf das Ich einzuwirken. Das war das Wesentliche meiner Arbeit im Ge­fängnis. Ich hatte dabei durchgesetzt, dass die Beamten in die Behand­lung einbezogen wurde. Ohne sie kann man nicht behandeln. (…) Das zweite war, dass ich mich zum Strafvollzug bekannt habe. Ich bin der Meinung, dass man den Strafvollzug nicht abschaffen kann, dass man für bestimmte Vergehen die Leute einsperren, sie aber gleichzeitig ordent­lich behandeln muss. Und wenn man die Leute ordent­lich behandelt, kann man sehr viele rehabilitieren, natürlich nicht alle. Ein anderer Teil kann wenigstens teilweise in seinem Verhalten beeinflusst werden. Für mich ist jeder Gefangene – egal was er gemacht hat – ein Mensch mit menschlichen Problemen. Mit diesen Grundsätzen habe ich sehr viel be­wirkt“ (S. 211).

Plänkers, Tomas/Federn, Ernst: Vertreibung und Rückkehr. Interviews zur Geschichte Ernst Federns und der Psychoanalyse. Tübin­gen (edition diskord) 1994. Kt., 237 S.

Diese Studie ist zuvor erschienen in der Psyche 1/1997 (51. Jg.), S. 80-83. Wir danken der Redaktion und der Verlag Klett Cotta herzlich für die Nachdruckrechte.

 

Von Wien über Buchenwald in die USA und zurück nach Wien

Ernst Federns erinnert sich an die Geschichte der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik…

Von Roland Kaufhold

Ernst Federns umfangreiche historisierende sozialpsychologische Studie „Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald in die USA und zurück nach Wien“ ist 1990 in London bei Karnac Books auf englisch erschienen und ist nun – 1999 – erstmals auf deutsch zugänglich. Sie ermöglicht einen faszinierenden, biographisch inspirierten Blick auf das psychoanalytische Gesamtwerk Federns aus den Jahren 1946 bis heute.

Die 18 Kapitel umfassende Aufsatzsammlung ist in fünf Oberkapitel unterteilt: Sozialpsychologie, Psychologie von Terror und Gewalt, Psychoanalytische Psychotherapie sowie Geschichte der Psychoanalyse. In dem Kapitel „Psychoanalyse in Buchenwald. Gespräche zwischen Bruno Bettelheim, Dr. Brief und Ernst Federn“ erinnert Federn an den „sozialen Ort“ (Bernfeld), an dem sein psychoanalytisches Interesse ungewollt geschult wurde: während seiner siebenjährigen Inhaftierung in Buchenwald, wo er als Überlebensversuch gemeinsam mit Bruno Bettelheim sowie dem von Wilhelm Reich analysierten Otto Brief, welcher später in Auschwitz ermordet wurde, psychoanalytisch orientierte Gespräche führte. Federn hatte Bettelheim in Buchenwald kennengelernt, woraus eine lebenslange, durchaus nicht unproblematische Freundschaft entstand. Gemeinsam beobachteten sie bei zahlreichen Mithäftlingen den von Anna Freud zuvor in einem anderen Kontext – bei Kindern – beschriebenen regressiven Prozess der „Identifizierung mit dem Angreifer“. Federn betont: „Meine psychoanalytischen Kenntnisse und die Fähigkeit, sie leicht verständlich auch einem Ungeschulten zu vermitteln, machten mich im ganzen Lager bekannt. Unter den sogenannten Kriminellen half es mir außerordentlich, da sie offenbar erfahren hatten, dass Psychoanalytiker Kriminelle für krank hielten“ (S. 28f.). In den folgenden Kapiteln zeigt Federn auf, wie er die Psychoanalyse nach seiner Befreiung im Jahre 1945 sowohl in den USA als auch in Österreich auf das „soziale Feld“ anzuwenden vermochte. „Über Sozialpsychologie“ enthält einen bereits 1948 verfassten Beitrag über Psychohygiene sowie Studien über die Bedeutung des Helfens, des Drogenmissbrauchs sowie des Suchtverhaltens bei Jugendlichen. Diese basieren auf seiner familien- und sozialtherapeutischen Tätigkeit in verschiedenen Einrichtungen in den USA. Der dritte Teil bezieht sich unmittelbar auf Federns Erfahrungen als KZ-Häftling, der seine Wehrlosigkeit konstruktiv umzuwandeln vermochte. Enthalten sind darin Beiträge über „Das Ertragen der Folter“ sowie einen differenziert argumentierenden Essay über den „therapeutischen Umgang mit Gewalt“. Federn bemerkt: „Ich habe so lange und so intensiv unter Gewalt gelebt, dass ich ohne ungebührlichen Narzissmus behaupten kann, dass ich etwas von ihr verstehe. (…) Ich weiß, wie es ist, Opfer von Gewalt zu sein, weiß aber auch, wie man sich fühlt, wenn man selbst gewalttätig sein will. (…) Auch nach so vielen Jahren sind diese Bilder in mir noch so lebendig. Und sie haben mich gelehrt, dass man bei genauer Introspektion Versuchungen zu hässlichem, gewalttätigem Verhalten auch bei sich selbst finden kann. Es ist daher wichtig, sich selbst zu kennen. Und um sich selbst zu kennen, müssen Sie lernen, Gewalttätigkeit zu verstehen“ (S. 86). Aus dem vierten Kapitel „Über die Psychoanalytische Psychotherapie“ möchte ich den Beitrag über „die therapeutische Persönlichkeit“ hervorheben, erläutert am Beispiel von Paul Federn und August Aichhorn“, welche für Federn zeitlebens therapeutische Leitfiguren geblieben sind. Insbesondere das Wirken Aichhorns, auf das in der Literatur zwar immer wieder verwiesen wird, zu dem jedoch kaum Sekundärliteratur existiert, wird nachvollziehbar. Federn betont die Notwendigkeit, für einen bestimmten Personenkreis die Behandlungsmethode zu modifizieren. In dem abschließenden fünften Teil zur Geschichte der Psychoanalyse versammelt Federn acht streitbare historisierende Beiträge zur „politischen Dimension“ der Psychoanalyse. So setzt er sich in dem 1967 in den USA erschienenem Essay „Wie freudianisch sind die Freudianer?“ unter Bezugnahme auf einen Freud – Brief vom 27. März 1926 leidenschaftlich für die Laienanalyse ein, womit er sich in den USA viel Feindschaft in analytischen Kreisen einhandelte.

Die knapp 50-seitige biographische Werkstudie „Eine Lebenslange Zusammenarbeit“ ist eine kämpferische Streitschrift für Paul Federns innovative Bedeutung innerhalb der Geschichte der Psychoanalyse. Der abschließende autobiographische Beitrag „Von König Laios und Ödipus: Erinnerungen an eine Kindheit im Banne Sigmund Freuds„, in dem Federn die ihn prägenden familiären Erfahrungen in Wien in sehr persönlicher Weise wiedergibt, knüpft unmittelbar an seine vorhergehende Studie über Paul Federn an. Federn deutet sein frühes sozialistisches Engagement familiendynamisch: „Meine sozialistische Überzeugung war jedoch keine Rebellion gegen meine Eltern, wie das so oft bei Kindern von wohlhabenden Leuten der Fall ist. Denn beide, mein Vater wie meine Mutter, waren überzeugte Sozialisten. (…) Auch mein Vater war von Natur aus ein Rebell. (…) Meine politischen Ideen waren also keine Rebellion, sondern Gehorsam, was, wie ich meine, einer der Gründe dafür war, dass ich selbst die größten Lebensgefahren überlebte und sich selbst heute, im Alter, meine Ideen eigentlich nicht grundlegend änderten“ (S. 323). Ernst Federns „Ein Leben mit der Psychoanalyse“ ist gut und zugleich streitbar geschrieben. Das Buch verschafft einen guten Einblick in die Geschichte und gesellschaftliche Verantwortung der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Pädagogik, für die Ernst Federn als Zeitzeuge mit seiner höchst außergewöhnlichen Biographie steht. Ich stimme Riccardo Steiner zu, dass Federns Schriften uns helfen, „den mutigen und sehr persönlichen Weg zu verstehen, auf dem er während dieser letzten fünfzig Jahre an der Entwicklung der Psychoanalyse und ihrer Anwendung auf weite Teile sozialer und historischer Probleme teilgenommen hat. (…) Federn ist ein Mann von Prinzipien. Schon immer hat er Hypokrisie, kurzsichtige Taktiken und die Akzeptanz oberflächlicher Kompromisse, die die Werte und Überzeugungen, die er zeitlebens vertrat, betrafen, in einem Maße bekämpft, das selbst für einen Psychoanalytiker seiner Generation ganz außergewöhnlich ist.“ (S. 15)

Diese Buchrezension von Ernst Federns Essaysammlung„ Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien“ ist im Jahr 2002 in der Zeitschrift Psyche, 56. Jg., H. 5/2002, S. 493-495 erschienen. Wir danken der Redaktion und dem Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, herzlich für die Nachdruckrechte.

 

Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn

Der Wiener Historiker und Lehrer Bernhard Kuschey hat in einem zehnjährigen Forschungsprozess eine vulominöse, 1100 Seiten umfassende Studie über Hilde und Ernst Federn und den Mikrokosmos der deutschen Konzentrationslager vorgelegt…

Von Roland Kaufhold

Ernst und Hilde Federn stehen mit ihrer in einer gewissen Weise einmaligen Biographie für die Schrecken, die der nationalsozialistische Terror sowohl individuell als auch kulturell schlug, aber auch für die ungebrochenen Hoffnungsperspektiven, die aus einem Überleben des Terrors in den Konzentrationslagern erwachsen kann. Ernst Federn, 1914 geboren und sozialisiert als Sohn des Psychoanalytikers Paul Federn im Wien der psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung, wurde wegen seines radikalen antifaschistischen Engagements bei den Trotzkisten sowie des ihm zugeschriebenen Judentums inhaftiert, überlebte sieben Jahre Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald, z.T. gemeinsam mit seinem Freund Bruno Bettelheim, und ging dann nach seiner Befreiung durch die Amerikaner für drei Jahre nach Brüssel, um sein politisches und pädagogisch-sozialtherapeutisches Engagement fortzusetzen. Während seiner Haftzeit im Konzentrationslager wurde er von seiner Verlobten, der 1910 geborenen Hilde Paar, spätere Federn, von Wien aus moralisch und – soweit dies die grausamen Umstände zuließen – auch materiell unterstützt. Dieser Hilfe verdankte er sein an ein Wunder grenzendes Überleben. Gemeinsam gingen die Federns 1949 in die USA, arbeiteten dort nach der Aichhorn-Methode als psychoanalytische Sozialarbeit u.a. mit Drogenabhängigen sowie im Strafvollzug und kehrten 1972 wieder nach Wien zurück, wo sie heute noch leben und wirken. Ernst Federn publizierte eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Publikationen über historische, gesellschaftspolitische, klinische, psychoanalytisch-pädagogische und sozialtherapeutische Themen; u.a. war er (zus. mit H. Nunberg) noch in den USA Herausgeber der vierbändigen Gesamtausgabe der Freudschen „Mittwochgesellschaft“, die zuerst in den USA und erst Jahre später auf deutsch publiziert wurde. 1999 erschienen seine gesammelten Schriften zur Psychologie des Terrors erstmals als Buch (Psychosozial-Verlag). Sein Wirken wurde vielfach geehrt: So erhielte Ernst Federn vor zwei Jahren für sein Lebenswerk von der Gesamthochschule Kassel eine Ehrenpromotion; von der SPÖ wurde ihm kürzlich die höchste Auszeichnung, die Victor-Adler Medaille, verliehen.

Bernhard Kuschey, Wiener Lehrer und Forscher, hat in über zehnjähriger Forschungsarbeit, in einem viele Jahre umspannenden kontinuierlichen Austausch mit Hilde und Ernst Federn sowie in einer mühevollen Archivarbeit eine wahrhaft monumentale, 1080 Seiten umfassende Werkbiographie erstellt.

Über die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichten stellt er die Dialektik von totalitären Gewaltstrukturen und den Kampf von Subjekte um ihre Individualität, ihre individuelle Würde her. Es wird eine Verknüpfung zwischen ihren Erfahrungen und Erkenntnissen, deren wissenschaftlichen Interpretation vor dem Hintergrund der Fachliteratur sowie der lagerbiographischen Literatur hergestellt.

Die Kapitelüberschriften mögen die Bandbreite seiner Forschungsarbeit markieren: Herkünfte; Jahre des politischen Kampfes: 1934-1938; 1938: Der Bruch; Vier Monate KZ-Haft in Dachau – Orientierung im Terror; Eintritt in die „Lagergesellschaft“ des KZ Buchenwald (Bd. I); Strukturen des „Lageralltags“ Ernst Federns; Die Wende zur „Endlösung“; Das „Durchgangslager“; Das Ende des Konzentrationslagers; Die Rückkehr in die zivile Welt; Schluss (Bd. II).

Bernhard Kuschey, 41 Jahre jünger als Ernst Federn, betont: „Es gibt wenige Überlebende des Universums KZ und der Shoah, die sich einem derart intensiven kommunikativen Prozess mit einem um Verständnis ringenden Nachgeborenen gestellt haben, wie es in diesem Werk Ernst und Hilde Federn tun.“

Bernhard Kuschey: Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers. Bd. I und II. Gießen: Psychosozial-Verlag 2003 (1080 S., 49,90 Euro)

Diese Rezension ist zuvor in der Zeitschrift für politische Psychologie, Heft 1-3 / 2003.

Links:
https://www.hagalil.com/2010/03/09/bettelheim-ekstein-federn/  
http://buecher.hagalil.com/2010/03/etta-federn-2/
http://buecher.hagalil.com/2010/03/federn/

Von der frühen Anarchie zur Vereinsgründung: Die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung

„Vom Jahre 1902 an scharte sich eine Anzahl jüngerer Ärzte um mich in der ausgesprochenen Absicht, die Psychoanalyse zu erlernen, auszuüben und zu ver­breiten…

Von Bernd Nitzschke

Ein Kollege [Stekel], welcher die gute Wirkung der analytischen Thera­pie an sich selbst erfahren hatte, gab die Anregung dazu. Man kam an bestimm­ten Abenden in meiner Wohnung zusammen, diskutierte nach gewissen Regeln, suchte sich in dem befremdlich neuen Forschungsgebiete zu orientieren und das Interesse anderer dafür zu gewinnen. Eines Tages führte sich ein absolvierter Gewerbeschüler durch ein Manuskript bei uns ein, welches außerordentliches Verständnis verriet. Wir bewogen ihn die Gymnasialstudien nachzuholen, die Universität zu besuchen und sich den nichtärztlichen Anwendungen der Psycho­analyse zu widmen. Der kleine Verein erwarb so einen eifrigen und verlässlichen Sekretär, ich gewann an Otto Rank den treuesten Helfer und Mitarbeiter [. . .] Ich durfte zufrieden sein, und ich meine, ich tat alles, um den anderen zugäng­lich zu machen, was ich wusste und erfahren hatte. Von übler Bedeutung waren nur zwei Dinge, die mich endlich dem Kreise innerlich entfremdeten. Es gelang mir nicht, unter den Mitgliedern jenes freundschaftliche Einverständnis herzu­stellen, das unter Männern, welche dieselbe schwere Arbeit leisten, herrschen soll, und ebensowenig die Prioritätsstreitigkeiten zu ersticken, zu denen unter den Bedingungen der gemeinsamen Arbeit reichlicher Anlass gegeben war. Die Schwierigkeiten der Unterweisung in der Ausübung der Psychoanalyse, die ganz besonders groß sind und an vielen der heutigen Zerwürfnisse die Schuld tragen, machten sich bereits in der privaten Wiener psychoanalytischen Vereinigung gel­tend. Ich selbst wagte es nicht, eine noch unfertige Technik und eine im steten Fluss begriffene Theorie mit jener Autorität vorzutragen, die den anderen wahr­scheinlich manche Irrwege und endliche Entgleisungen erspart hätte [. . .] Gera­de die Psychoanalyse hätte eine lange und strenge Zucht und Erziehung zur Selbstzucht erfordert« (Freud, 1914, S. 63 f.).

Freud sei Dank, möchte man als heutiger Leser der »Protokolle« ausrufen, für die geringe »Zucht und Erziehung zur Selbstzucht«, die jenen merkwürdigen Kreis von Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Juristen, Staats- und Literaturwissenschaftlern, Journalisten, Schriftstellern und Musikern auszeichneten, in den sich auch ein »absolvierter Gewerbeschüler« erfolgreich einführen konnte, weil er ein überzeugendes Referat hielt. Anhänger Freuds, — aus heutiger Sicht »wilder« — Analytiker, wurde man, wenn man nur genügend Interesse und originelle Gedanken vorzutragen hatte. Was Freud im Rückblick auf die »Ge­schichte der psychoanalytischen Bewegung« leidvoll konstatiert — Streitigkei­ten, Rivalitäten, Entfremdungen, Zerwürfnisse —, das hatte auch seine guten Seiten. Die frühe Anarchie, in den »Protokollen« festgehalten, zeigt ein »work in progress«, einen Gedanken-Steinbruch von außerordentlichem Reichtum, ei­ne unorthodoxe Vielfalt stets anregender Ideen und freimütiger Diskussionen, die den heutigen Leser zum teilnehmenden Beobachter an einem Gruppenpro­zess machen, der mehr von der Lebendigkeit, von Suche und Irrtum erkennen lässt, als die aus diesen Diskussionen hervorgegangenen, für die Öffentlichkeit bestimmten, bisweilen geglätteten und gereinigten Publikationen vermuten las­sen. Nein, Langeweile kommt beim Lesen der »Protokolle« niemals auf — und dies, obgleich es sich um Texte handelt, die eigentlich nicht zur Veröffentli­chung bestimmt waren, also die herkömmliche Stringenz und Komposition des Textaufbaus mitunter vermissen lassen. Es handelt sich ja um Gesprächsproto­kolle, die in der Eile des Diskussions-Gefechts entstanden sind. Eben das macht ihren Reiz aus. Ich schicke voraus: Die »Protokolle« gehören in den Bücher­schrank eines jeden, der sich für die Geschichte der Psychoanalyse und für die Genese ihrer Theorie und Technik interessiert. Sie zu rezensieren ist schwierig, handelt es sich doch um eine solche Vielfalt von Beiträgen zu unterschiedlichen Themen (Psychologie, Literatur, Philosophie, psychoanalytische Kasuistik, Technik und Theorie), dass jeder Gesichtspunkt einer Würdigung von vornher­ein eine subjektive Auswahl unter vielen möglichen Gesichtspunkten darstellt. Mit dieser Einschränkung, wonach die »Protokolle« auch ganz anders gelesen werden könnten, möchte ich einigen der mich interessierenden Fragen hier nachgehen.

Per Postkarte hatte Freud 1902 Stekel, Adler, Kahane und Reitler zu sich in die Wohnung gebeten, in der die »Psychologische Mittwoch-Gesellschaft bei Pro­fessor Freud« dann acht Jahre (bis 1910) zusammenkam. 1910 war, was einst als loser Diskussionsclub begonnen hatte, bereits ein eingetragener Verein. Erhalte­ne Protokolle gibt es ab 1906. Bis zum Jahre 1915 sind sie nahezu vollständig er­halten und ausführlich; danach wird ihr Inhalt fragmentarisch oder sie fehlen ganz. Im wesentlichen werden also durch die »Protokolle« gut zehn Jahre abge­deckt — zehn Jahre, die den Übergang der Psychoanalyse von einer »freien« Be­wegung zu einer institutionalisierten Schule kennzeichnen. Dass sie überhaupt erhalten sind, verdankt man der Tatsache, dass Freud sie — kurz vor seiner Emi­gration — Paul Federn überließ. Dieser bestimmte testamentarisch Hermann Nunberg, seinen Lehranalysanden, und Ernst Federn, seinen Sohn, zu mögli­chen Herausgebern. Ernst Federn (1984) hat an anderer Stelle das Publikations­schicksal im einzelnen dargelegt. Er meint, die verzögerte Herausgabe habe auch etwas mit einem Gruppenwiderstand der etablierten Psychoanalytiker zu tun gehabt, denen es u. a. nicht recht angenehm gewesen sei, dem Publikum an­hand der veröffentlichten »Protokolle« vorzuführen, wie kreativ die »Pioniere« waren, die an heutigen Standards der Ausbildungsvorschriften gemessen, alle­samt keine »richtigen« Psychoanalytiker waren (vgl. Leber, 1984). Fürwahr, wer im einzelnen nachvollzieht, was da ohne oder mit nur kurzer Eigenanalyse und bei Fehlen eines Curriculums an schöpferischen Ideen alles möglich war, der könnte leicht sehr kritische Gedanken über die akademisch-institutionalisierte Psychoanalyse entwickeln.

Die zunächst von Rank, nach dessen Einzug zum Militärdienst (1915) dann von Reik angefertigten »Protokolle« zeigen allerdings, dass es von Beginn an gewisse Regeln für den ansonsten freien Verkehr der Worte gab. Dazu gehörte beispiels­weise die berühmt-berüchtigte Urne, in die jeder der Anwesenden einen Zettel mit seinem Namen zu werfen hatte, um zu sprechen, sobald der jeweilige Zettel gezogen wurde. Es herrschte also »Sprechzwang«: Jeder sollte sich an der Dis­kussion beteiligen. Einige der Herren zogen es allerdings offenbar vor, sich so­fort nach dem gehaltenen Referat zu verabschieden, um so dem Sprechzwang zu entgehen. Das führte schließlich zur Abschaffung der Urne. Hinfort war die Diskussion auch hinsichtlich der Beteiligung »frei«. Gute Nerven, zumindest kein mimosenhaftes Gemüt, musste haben, wer sich mit einem Referat vorstellte. Es wurde hart in der Sache und bisweilen auch verletzend für die Person disku­tiert. Freud bemängelt letzteres wiederholt in seinen Beiträgen. Im Hinblick auf die scharfe Sachdiskussion führe ich die erste protokollierte Sitzung vom 10. Oktober 1906 an: Rank spricht über »Das Inzest-Drama und seine Komplikatio­nen« (I, S. 7). Die Bemerkungen der Herren in der anschließenden Debatte sind vor allem kritisch: Rank habe zuviel nach der Methode Freuds gedeutet, soll hei­ßen, zuviel in den Text hineingelegt, um es dann wieder herauszuholen; sein Vortrag sei überhaupt zu wenig ausführlich gewesen; das Wesentliche habe man nicht erkennen können; die Arbeit wiederhole nur, was Freud ohnehin bereits veröffentlicht habe; Adler möchte den Titel des Vortrags überhaupt geändert wissen; und Freud zählt seinerseits eine Reihe von »Fehlern« (I, S. 10) auf. Dies ist untypisch, da Freud sonst die Gewohnheit hat, den jeweiligen Referenten zu­nächst zu loben, bevor er dann zur Kritik übergeht.

In seiner Kritik an Abwesenden ist Freud allerdings bisweilen recht deutlich. Eu­gen Bleulers Buch über »Affektivität, Suggestibilität und Paranoia« (1906) be­zeichnet er als »schwächliche Arbeit« (I, S. 32). Einmal fragt er sich, »woher es komme, dass [Gerhard] Hauptmann ein so unsympathischer Kerl sei« (II, S. 169). Ein anderes Mal äußert er »Widerwillen« gegenüber einem von Sadger vorgestellten Patienten, der an sexuellen Perversionen leidet; dieser Mann sei »ein absolutes Schwein« (II, S. 343 f), meint Freud. Der geschützte Kreis der Gruppe erlaubte unzensierte Äußerungen — nicht nur von Seiten Freuds. Sadger selbst ist ein Gruppenmitglied, das Freud wiederholt zu Rügen Anlass gibt. Freud will wissen, »woher es komme, dass, obwohl Sadger Dinge behaupte, die man für richtig erklären müsse, man doch seine Mitteilungen als befremdend, ja manch­mal als beleidigend empfinde f. . .]« (II, S. 201). Anlass ist in diesem Falle ein Vortrag Sadgers über Heinrich von Kleist. Freud nimmt entschieden Stellung gegen eine nicht einfühlsame herabwürdigende »Analyse« des Dichters. »Mit der Ablehnung solcher Analysen […] habe das Volk recht.« Und: »Mit der tieferen Erkenntnis besonders der unbewussten Phänomene muss ein gewisser Grad von Toleranz Hand in Hand gehen, wenn überhaupt noch das Leben möglich sein soll. Diese Toleranz scheine sich bei Sadger nicht eingestellt zu haben oder er könne sie wenigstens nicht zum Ausdruck bringen. Und diese mangelnde Tole­ranz, die sich in einem sittenrichterlichen Pathos kundgibt, ist das […] absto­ßende Moment« (II, S. 202). An anderer Stelle heißt es in den »Protokollen« ein­mal, wenn alles Neurotisch-Perverse von einer Person abgezogen werde, bleibe nur noch der Philister als Ideal übrig, und das sei wohl nicht Anliegen der Psy­choanalyse. Als Stekel über Grillparzers »Neurose« referiert, um diese mit den üblichen psychoanalytischen Begriffen und Konzepten zu bedenken, fährt ihm Freud in die Parade: »Überdies sei seine [Stekels] analytische Methode zu radi­kal. Alles, was er bei Grillparzer konstatiere, findet sich bei jedem Neurotiker und auch bei allen Normalen. Es genüge nicht, diese Komplexe nachgewiesen zu haben, von denen wir ja wissen, dass sie vorhanden sein müssen [. . .]« (II, S. 9). Dies ist nur eine von vielen Stellen, an denen Freud vehement gegen fertige »Deutungen« Widerspruch einlegt.

Die Kritik fast der gesamten Gruppe zieht Wittels auf sich, als er einen von ihm selbst in der Fackel publizierten Aufsatz über »Weibliche Arzte« zur Diskussion stellt. Deutliche Misogynie — auch dem Weininger-Verehrer Karl Kraus nicht ganz fremd — kennzeichnet dieses Pamphlet, mit dem Wittels gegen die medizi­nische Berufsausbildung von Frauen Stellung nimmt. Sie kompensierten damit nur sexuelle Komplexe, meint Wittels. Wenn schon, dann müsse man auch auf »die geile Perversität vieler männlicher Ärzte« (I, S. 1.84) hinweisen, meint Fe­dern lakonisch. Es gehe auch nicht an, alles nur unter dem Aspekt der Sexualität, die Welt »aus der Vögelperspektive« (I, S. 185) betrachtend, zu analysieren, setzt Hitschmann hinzu. Und er meint, aus Wittels Aufsatz den »Schrei des überbrünstigen Hirsches« (I, S. 186) herauszuhören. Bei dieser Diskussion im Jahre 1907 sind die »Herren« noch unter sich. Eine erste Frau erscheint in der »Mittwochs-Gesellschaft« erst im Jahre 1910 als ständiges Mitglied: Margarete Hilferding, Ärztin, Ehefrau des marxistischen Theoretikers und späteren Fi­nanzministers der Weimarer Republik. Nur ein Jahr später tritt sie allerdings im Zusammenhang mit den Querelen um A. Adler wieder aus der Vereinigung aus. Die Beispiele zeigen, welcher Geist in der Gruppe etwa um 1906/07 herrschte: ein Geist des Aufbruchs, des Bemühens, sinnvoll mit der neuen Lehre umzuge­hen, wobei es allerdings immer wieder zu »Durchbrüchen« von Vorurteilen kam, die nur mit psychoanalytischen Begriffen drapiert wurden. Freud versuchte den Rossen Zügel anzulegen, sie auf der eingeschlagenen Bahn zu halten. Wie­derholt forderte er zu einem toleranten Umgang mit der psychoanalytischen Me­thode auf. Was die Lektüre so spannend macht, ist u. a. aber auch das Moment von Ungezähmtheit: Die »Väter« der Psychoanalyse — später oft zu Ideal-Ge­stalten stilisiert — erweisen sich als Menschen von Fleisch und Blut, die um Er­kenntnis ringen und denen »Irrtümer« nicht fremd sind, wobei gerade die ver­meintlichen Irrtümer bisweilen die Diskussion entscheidend vorantreiben. Was waren das für Männer, die sich um Freud geschart hatten? Hermann Nun­berg schreibt im Vorwort zum ersten Band, sie seien genauso zerrissen gewesen wie die Welt, in der sie lebten. Sie repräsentierten — so Nunberg weiter — einen Querschnitt der Intelligenz um die Jahrhundertwende. Mehr oder weniger be­wusst sei ihr Bemühen, die Psychoanalyse zu studieren, vom Bedürfnis nach Selbstheilung motiviert gewesen. So realistisch Nunberg die Dinge im Vorwort auch sieht, so parteilich fallen viele seiner kommentierenden Fußnoten aus, die aus der amerikanischen Ausgabe der »Protokolle« in die deutsche übernommen worden sind. Immer wieder meint Nunberg, abweichende Meinungen im Lichte einer späteren Kanonisierung psychoanalytischen Wissens kommentieren zu müssen. Das gilt insbesondere für viele Beiträge Adlers, soweit sie Freud wider­sprechen. Nach meinem Eindruck ist Nunberg weniger tolerant als Freud selbst, der es bis kurz vorm endgültigen Bruch fast niemals unterlässt — bei allem Insi­stieren auf den Differenzen —, originelle Beiträge Adlers auch zu loben. So misst er etwa Äußerungen Adlers über die Organminderwertigkeit »große Bedeutung bei«; sie hätten seine (Freuds) »Arbeiten um ein Stück weitergeführt« (I, S. 42), heißt es einmal. Die Kommentierungen Nunbergs werden durch Ernst Federns, des zweiten Herausgebers, zusätzliche Fußnoten in der deutschen Ausgabe der »Protokolle« ergänzt, wobei Federn deutlich mehr Verständnis für »Dissiden­ten« aufbringt. So gesehen wird das Gleichgewicht wieder einigermaßen herge­stellt. Soweit ich Gelegenheit hatte, den Inhalt der Kommentierungen sachlich zu überprüfen — sie sind recht ausführlich, für das Verständnis der Zusammen­hänge meist sehr hilfreich und bisweilen von geradezu detektivischer Sorgfalt, soweit entlegene Zusatz-Informationen geliefert werden —, habe ich kaum sachliche Mängel feststellen können. Eine Ausnahme sei erwähnt: Otto Gross wird einmal als ein Mann vorgestellt, der 1919 Selbstmord begangen habe (II, S. 163, Anm. 4). Das ist falsch; offenbar wurde Gross hier mit Tausk verwech­selt. Otto Gross starb 1920, rauschgiftabhängig und verarmt, in Berlin. Sachliche Differenzen und persönliche Streitigkeiten beeinträchtigen um 1908 die Arbeitsatmosphäre mehr und mehr. Man versucht, der Beziehungsdynamik per Antrag und Dekret beizukommen. Eine neue Arbeitsordnung ist gefragt. Bei dieser Gelegenheit fordert Paul Federn auch die Aufhebung des »geistigen Kom­munismus« (I, S. 282). Das heißt: Sollte hinfort jemand Gedanken, die in der Diskussion geäußert wurden, in einer Publikation verwenden, sei deren Urheber zu nennen. Das ist noch ein vergleichsweise einfaches Problem. Schwieriger ist Sadgers Antrag zu realisieren, »persönliche Ausfälle und Übergriffe sollen vom Vorsitzenden, dem die Macht hierzu einzuräumen sei, sofort unterdrückt wer­den« (I, S. 283). Freud wendet ein, Ruhe und Ordnung in der Versammlung seien schlecht per Machtbefugnis herzustellen, wenn »die Herren sich unterein­ander nicht ausstehen können«. Seine »Gewalt« reiche allenfalls aus, die Ord­nung wieder herzustellen, »wenn einige durch Unterhaltung die Rede stören« (I, S. 248). Dem Bedürfnis nach mehr Struktur kommt 1908 ein deus ex machina in Gestalt des Berliner Sexualforschers Magnus Hirschfeld entgegen. Der hatte sich an die Wiener Seelenforscher mit der Bitte gewandt, man möge ihn bei einer Fragebogenaktion zum Problem des Sexualverhaltens unterstützen. Die Anfrage bietet Gelegenheit, die Gruppe organisatorisch zu festigen; ein neuer Name — »Psychoanalytische Gesellschaft« — ist Zeichen dafür, auch für die Öffentlich­keit. 1910 gibt man sich schließlich Statuten und Paragraphen; und man lässt sich als »Wiener Psychoanalytische Vereinigung« ins Vereinsregister eintragen. Ein Obmann wird auf Vorschlag Freuds bestimmt; er heißt Adler. Sein Stellvertreter wird Stekel — beide Mitglieder der Pionier-Gruppe von 1902, und beide »Dissi­denten«, die kurze Zeit später der Vereinigung den Rücken kehren. Genau ge­nommen beziehen sich also die »Protokolle« auf eine Gruppe, die zwischen 1902 und 1910 drei verschiedene Namen trägt, von denen der letzte schließlich den »Protokollen« übergreifend zugeschrieben wird.

Ich habe bisher versucht, ein wenig von der Atmosphäre der Gruppe, von der schwierigen Stellung Freuds und von der Art der Diskussionsstile transparent werden zu lassen. Damit verbunden war eine Skizzierung der allmählichen or­ganisatorischen Verfestigung der Gruppe. Ein ganz anderer Gesichtspunkt, die »Protokolle« zu lesen, wäre es, das Schicksal einzelner Ideen zu verfolgen. Wel­che Ideen werden ausgeführt, welche bleiben am Rande liegen, um vielleicht — bisweilen Jahrzehnte später — doch noch im (veröffentlichten) Werk Freuds wieder aufzutauchen? Wann tauchen bestimmte Begriffe und Konzepte auf, wie differenzieren sie sich, welche Einwände oder Zusätze werden vorgebracht? Wer die »Protokolle« so lesen will, kann sich des umfangreichen Gesamtregisters bedienen, das von Ilse Grubrich-Simitis für die deutsche Ausgabe gründlich be­arbeitet worden ist. Ich kann diesen Gesichtspunkt hier nur anhand einiger aus­gewählter Beispiele erörtern, wobei allerdings auch deutlich wird, dass Freud nicht nur der Gebende war, vielmehr auch von seinen »Schülern« zahlreiche An­regungen erhielt:

1907 etwa referiert Stekel äußerst anregende Gedanken zum Thema der Angst­neurose. Er kommt dabei auf die »Verschmelzung von Sexualität und Tod« — »Eros und Thanatos« — zu sprechen: »Isolierte Triebe gebe es nicht. So erschei­ne der Geschlechtstrieb immer in Begleitung zweier Triebe: des Lebens- und des Todestriebes« (I, S. 166; Hervorhebung von mir, B. N.). Etwa anderthalb Jahr­zehnte später greift, wie wir wissen, Freud den Begriff des Todestriebes systema­tisch auf, um ihn für eine Revision der Trieblehre zu verwenden. Reik referiert 1911 über »Tod und Sexualität« (III, S. 297 ff.). In der sich anschließenden Dis­kussion meint Tausk, eine völlige Hingabe an die Liebe sei vielleicht niemals möglich. Sabine Spielrein stimmt ihm zu: Die Angst vor der Auflösung des Ichs, vor »der Verwandlung in eine andere Persönlichkeit« (III, S. 303), stehe dem schrankenlosen Verlangen womöglich im Wege. Sabine Spielrein selbst hält kur­ze Zeit später einen Vortrag, in dem sie sagt, der »Sexualinstinkt« enthalte viel­leicht immer »eine destruktive Komponente« (III, S. 314). Was die Lektüre der »Protokolle« — vor allem der Diskussionsbeiträge — unter dem genannten Ge­sichtspunkt so interessant macht, ist, dass Gedanken ohne Zwang zu strenger Sy­stematisierung geäußert werden können. Wie man einerseits aufgefordert ist, zum teilnehmenden Beobachter der Gruppe zu werden, so fühlt man sich ande­rerseits stimuliert, die mehr oder weniger freien Einfälle und ungeschützten Ge­danken selbst assoziativ anzureichern oder sie mit dem zu vergleichen, was man gleichsam als psychoanalytisches Standardwissen inzwischen verinnerlicht hat. Dabei brechen manche Gedankenschablonen wieder auf.

In diesem Sinne anregend ist auch ein Vortrag von Margarete Hilferding »Zur Grundlage der Mutterliebe«. Die Referentin meint, es gebe »keine angeborene Mutterliebe«, diese werde vielmehr erst durch den — wie ich es aus heutiger Sicht ausdrücken würde — beginnenden Dialog zwischen dem Körper der Mut­ter und dem des Kindes initiiert: »Es habe den Anschein, dass durch die körperli­che Beschäftigung zwischen Kind und Mutter die Mutterliebe ausgelöst werde« (III, S. 114). Dem Sexualempfinden des Säuglings entspreche dabei ein Korrelat auf seiten der Mutter, die ihrerseits sexuelle Bedürfnisse bei der Säuglingspflege befriedige. Unbefriedigte, von ihren Männern enttäuschte Frauen hielten ihr Kind zu lange fest, um es als »Sexualobjekt« zu erhalten. Interessant wäre es, so fügt die Referentin — im Lichte der neueren Debatten über die Rolle des Vaters betrachtet: modern — hinzu, wüsste man besser über die »Modalitäten« der »Loslösung des Kindes« von der Mutter und über die Bedeutung des »Vaters« (III, S. 115) hierbei Bescheid. In der anschließenden Diskussion meint Grüner, »die Liebe der Mutter zu ihrem Kinde sei die Reproduktion ihres eigenen kindli­chen Verhältnisses zu ihren Eltern« (III, S. 116). Freud bemerkt, bei der Säug­lingspflege erwache ein Stück der infantilen Sexualität der Mutter wieder, die Mutterliebe bedürfe »eines] Stück[s] Regression« (III, S. 119) — im Dienste des Kindes, so füge ich hinzu. Federn äußert den interessanten Gedanken, die Ab­neigung der Mutter gegenüber dem Kinde könne etwas mit der Sexualabneigung infolge der Kulturentwicklung zu tun haben. Adler meint schließlich, wer von der Mutterliebe rede, müsse immer auch den Mutterhass beachten. Die oft be­merkten feindseligen Reaktionen der Neurotiker auf Liebe (Nähe) könnten et­was zu tun haben mit der frühen — leidvollen — Beziehung zur Mutter, mit der Angst vor Abhängigkeit.

Ein Vortrag von Häutler über »Mystik und Naturerkennen« bringt anregende Gedanken über das »Einheitsgewalt« (I, S. 139), die sehr viel später im Werk Freuds im Kontext der Erörterung des »ozeanischen Gefühls« (1930) wieder auftauchen. Hitschmann äußert in der Diskussion von 1907 eine Meinung, die sich dann in der genannten Schrift Freuds wiederfindet: »Das Sich-eins-Fühlen mit der Welt sei ein Gefühl, wie es die erste Liebe auch hervorbringe. Auch Mu­sik erzeuge eine ähnlich weltfremde Stimmung« (I, S. 140). Und Sadger be­merkt, ekstatische Zustände seien »mit dem Gefühl beim Koitus« (I, S. 143) ver­wandt. Vielleicht also ahmt das religiöse Gefühl das orgiastische nur nach. Zur Debatte steht ein primitiver Gefühlszustand, der auch im Licht der neueren Nar­zissmus-Diskussion zu betrachten wäre.

Von den vielen Bemerkungen Freuds in den »Protokollen« will ich nur drei be­merkenswerte Beispiele auswählen: So entwickelt Freud im Kontext einer De­batte über die Psychologie des Landstreichers eine Typologie, die deutlich an je­ne erinnert, die Balint sehr viel später mit den Begriffen »Philobatie« und »Oknophilie« kennzeichnen sollte. Freud meint, der eine Typus zeichne sich durch eine extreme Tendenz zur Flucht vor dem Objekt aus, während für den anderen genau das Gegenteil, die Anklammerung an das Objekt, charakteristisch sei (I, S. 102). Als Freud dem Plenum »Über einen besonderen Typus der männ­lichen Objektwahl« (II, S. 214 ff.) vorträgt — später (1910) unter leicht verän­dertem Titel publiziert —, führt er viele Gedanken aus, die — aus welchen Gründen immer — die nachträglich veröffentlichte Schrift nicht mehr enthält. Unter Hinzuziehung des Sachwortverzeichnisses können die »Protokolle« im Einzelfall also auch benutzt werden, um Freuds fertige Schriften mit früheren Stadien seiner Gedankenentwicklung zu vergleichen. Das gilt etwa auch im Hin­blick auf das allmähliche Auftauchen des Narzissmus-Begriffs, der wesentlich durch Beiträge Adlers mitgeprägt worden ist, der schon frühzeitig von Ehrgeiz, Ichsucht, Minderwertigkeitsgefühlen, Kompensationsbedürfnissen, von Wut und Scham sprach. Ein drittes Beispiel, das Freuds Gedanken gleichsam in statu nascendi zeigt, sind Bemerkungen über die Therapie. Das »Ausfüllen der Gedächt­nislücken«, heißt es da, laufe eigentlich auf dasselbe hinaus wie die »Beseitigung der Widerstände« oder der »Ersatz des Unbewussten durch das Bewusste« (I, S. 95). Das frühe therapeutische Paradigma, das in den »Studien über Hysterie« (1895) vorgeführt wird, scheint für Freud selbst nicht unvereinbar mit dem we­sentlich später vorgelegten zu sein, bei dem die »Übertragung« (ebd.) bereits ei­ne Rolle spielt.

Ich will abschließend noch auf eine Angelegenheit zu sprechen kommen, hin­sichtlich deren die »Protokolle« ein unvergleichliches Dokument sind, da sie den Ablauf der Geschehnisse unzensiert wiedergeben: das Zerwürfnis zwischen Freud und Adler. Die Rekonstruktion dieses Ereignisses ist ohne Lektüre der »Protokolle« — also nur anhand der späteren Äußerungen der Beteiligten — nicht möglich. Abermals muss in diesem Zusammenhang die Jones-Biographie bemängelt werden, da eine Äußerung wie die folgende in keiner Weise gerecht­fertigt werden kann. Zum Ausscheiden Adlers bemerkt Jones nämlich, so wenig jemand, der behauptet, »die Erde sei eine Scheibe«, »Mitglied der Royal Geo­graphie Society« (1962, II, S. 164) bleiben könne, so wenig Anspruch habe Adler darauf gehabt, Mitglied der »Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« zu blei­ben. Das ist in jeder Hinsicht ein maßloser Vergleich, zumal, wenn man Adlers Thesen im Lichte der neueren psychoanalytischen Narzissmus-Theorien würdigt. Zwischen Freud und Adler war es im Laufe der Jahre immer wieder zu sachli­chen Differenzen gekommen, wobei Freud wiederholt zum Ausdruck brachte, Adlers Ideen seien einfallsreich und nützlich. Die Hauptgefahr, die von ihnen auszugehen schien, sah Freud in einer Abkehr von der Psychologie des Unbe­wussten, von der Triebtheorie. Am 16. November 1910 schlug Hitschmann schließlich vor, Adler solle anhand eines Grundsatzreferats aus seiner Sicht ein­mal die Differenzen aufzeigen, die er mit Freud habe. Adler erklärte sich einver­standen. Ein erstes Grundsatzreferat (III, S. 103 ff.) führte zu einer nicht allzu aufgeregten Diskussion, bei der sich Freud überhaupt nicht zu Wort meldete. Ein zweites — »Der männliche Protest als Kernproblem der Neurose« (III, S. 139 ff.) —, das schon im Titel eine Provokation enthielt, denn immerhin war man sich bis dahin einig, im Ödipuskomplex das »Kernproblem« zu sehen, führ­te dann allerdings zur Explosion. Adler deklarierte den Ödipuskomplex als bloße »Teilerscheinung einer überstarken psychischen Dynamik« (III, S. 143). Liest man seine Ausführungen im Kontext und im Zusammenhang mit all dem, was er über die Jahre hinweg zur Diskussion beigetragen hatte, so ergibt sich — wenig­stens bei mir — der Eindruck, als habe Adler wesentlich eine — heute so ge­nannte — »narzisstische« Problematik angesprochen, deren Genese präödipaler Natur ist, eine Störung, für die die »Sicherungstendenz« (Adler) wichtiger sei als das sexuelle Bedürfnis, soweit man dieses nicht selbst als Ausdruck eines Bin­dungsverlangens des Kindes ansehen will. Freud muss den Eindruck gewonnen haben, seine gesamte bisherige Theorie werde von Adler in Frage gestellt. Adlers Ausführungen wurden von Freud als »Oberflächen-« und »Ichpsychologie« (III, S. 145) zurückgewiesen: »Die ganze Darstellung ist vom Ich aus gesehen und vom Ich aus betrachtet, so wie die Neurose dem Ich erscheint. Es ist Ichpsycho­logie, durch die Kenntnis der Psychologie des Unbewussten vertieft. Darin liegt die Stärke und die Schwäche der Adlerschen Darstellung. Die Dinge, die wir bisher studiert haben, kann man auf diese Weise niemals sehen« (ebd.). Es sollte noch einige Zeit dauern, bevor die »Ichpsychologie« — hier eher pejorativ ge­braucht — zur Etikettierung einer herrschenden Schulrichtung der Psychoanaly­se werden konnte. Die »Ichpsychologie« brach damals ihrem entschiedensten Vertreter, Adler, das Genick. Freud war nun offenbar bereit, den Bruch aktiv herbeizuführen. Er forderte die Gruppe auf, offiziell und per Abstimmung fest­zustellen, dass Adlers Lehren mit der Psychoanalyse Freuds nicht mehr vereinbar seien. Zum erstenmal leistete die Gruppe nun offenen und entschiedenen Wider­stand; die Mehrheit widersprach Freud und entschied, Adlers Ansichten seien weiterhin mit der Psychoanalyse vereinbar. Andererseits erhielt auch Freud Ge­nugtuung: Adler hatte — vielleicht etwas übereilt — seinen Vorsitz als Obmann zur Verfügung gestellt; Freud wurde per Akklamation zu seinem Nachfolger ge­kürt. Es war offenbar diese Kränkung, die Adler nunmehr veranlasste, vom März 1911 bis zum Mai (dem Ende des Arbeitsjahres) in der Gruppe zu schweigen. Nur noch einmal, kurz vor der Sommerpause, ergriff er das Wort. Er erinnerte daran, »dass der wissenschaftliche Standpunkt, den er vertrete, in keiner Weise in Gegensatz stehe mit den Forschungen anderer Autoren, insbesondere Freuds« (III, S. 254). Immerhin wurde ihm das per Abstimmung bestätigt, während Freud entschieden anderer Meinung blieb. In der Sommerpause verließ Adler dann die Vereinigung. Als die Gruppe erneut zusammentrat und Freud nun auch noch verlangte, dass keines der Mitglieder hinfort an den Treffen der Adler-Gruppe teilnehmen dürfe, ohne die Mitgliedschaft im Freud-Kreis aufs Spiel zu setzen, traten weitere Teilnehmer der »Mittwochs-Gesellschaft« aus. Der Bruch war de­finitiv. Er gab das — schlechte — Vorbild für viele spätere Abspaltungen ab, die die Geschichte der Psychoanalyse kennzeichnen. Freilich erhielt Lou Andreas-Salome, um diese Zeit bereits eine Lieblingsschülerin Freuds, das Privileg, Vor­lesungen sowohl bei Freud wie auch bei Adler zu hören.

Der vierte Band der »Protokolle« enthält ein relativ ausführliches »Nachwort«, verfasst von Leupold-Löwenthal, der auch »die von Analytikern geschriebenen« »Darstellungen« der Geschichte der Psychoanalyse, die »dem Bedürfnis unterla­gen, etwa die Einmaligkeit Freuds, der frühen Psychoanalytiker und anderer idealisierter Imagines zu belegen« (IV, S. 325), relativiert. Relativiert wird auch die »phantasierte Ablehnung einer als weitgehend feindlich erlebten akademi­schen Umwelt« (IV, S. 326), auf die die frühe Psychoanalyse gestoßen sei. Wäre diese Behauptung richtig, hätte es die Gruppe um Freud — fast alle waren Aka­demiker — niemals gegeben. Kritisiert wird der »nicht immer wissenschaftliche Diskurs, den Gegner auch dadurch zum Verstummen zu bringen, dass man seine Ansichten als neurotisches Sympton `entlarvte´« (FV, S. 327). Hervorgehoben wird noch einmal die gewiss nicht einfache Stellung Freuds in der Gruppe, sein großes Bemühen, das schlingernde Schiff auf Kurs zu halten, ohne zu viele Mit­glieder der Mannschaft zu verlieren. Kritisiert wird die spätere Professionalisierung und Institutionalisierung der Psychoanalyse »in enger Anlehnung an Medi­zin und Universität«, was der Psychoanalyse »keineswegs förderlich« gewesen sei (IV, S. 336). Den Hauptteil des Nachworts bilden Skizzen zum jüdischen und Wiener Milieu, in dem die Psychoanalyse herangewachsen ist. Wer sich die »Protokolle« zunächst nicht vollständig zulegen will, der kann, um einen ersten Eindruck zu gewinnen, auf eine wohlfeile, von Ernst Federn her­ausgegebene Taschenbuchausgabe zurückgreifen, die unter thematischen Ge­sichtspunkten ausgewählte Protokolle aus allen vier Bänden enthält. Kapitel 1 enthält Auszüge, die der Herausbildung der »Organisation« gewidmet sind. Ka­pitel 2 macht den »Konflikt mit Adler« nachvollziehbar. Den »Beiträgen von Freud« ist Kapitel 3 gewidmet. »Soziale Fragen« — auf die ich in meiner Bespre­chung kaum eingegangen bin (zum Beispiel äußert sich Freud an einer Stelle auch ausführlicher zum »Kommunismus«) — werden im Kapitel 4 thematisch zusammengefasst. Und Kapitel 5 bringt schließlich Protokolle »Über Kunst und Literatur«. Am Rande sei erwähnt, dass die von Ernst Federn in der Einleitung zu diesem Kapitel aufgestellte Behauptung, Adlers »letzte Sitzung« vor seinem »Ausscheiden« sei am 22. Februar 1911 gewesen (S. 61), unzutreffend ist. Die letzte Sitzung, an der Adler teilnahm, fand am 24. Mai 1911, also etwa ein Vier­teljahr nach dem großen Disput mit Freud, statt. Schließen wir mit Federns Be­merkung über Adler, er sei ein »hervorragendes Mitglied der `Mittwoch-Gesellschaft´« (S. 61) gewesen.

Besprochene Bücher:

Nunberg, Herman, und Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener Psychoanalyti­schen Vereinigung. Band 1: 1906—1908, 385 Seiten. Band 2: 1908— 1910, 537 Seiten. Band 3: 1910—1911, 347 Seiten. Band 4: 1912—1918 (mit Gesamtregister). Frankfurt a. M. (Fischer) 1976—1981. Kt., 495 Seiten, Gießen (Psychosozial Verlag). :

Federn, Ernst (Hg.): Freud im Gespräch mit seinen Mitarbeitern. Aus den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt a. M. (Fischer). Kt., 314 Seiten.

Diese Studie ist zuvor erschienen in der Psyche, 40, 1986, S. 922-931. Wir danken dem Autor, der Redaktion und der Verlag Klett Cotta herzlich für die Nachdruckrechte.

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