Gespräche zwischen Bruno Bettelheim, Dr. Brief und Ernst Federn

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In der mir bemessenen Zeit kann ich nur sehr fragmentarisch darüber berichten, welche Rolle die Psychoanalyse in Buchenwald gespielt hat. Vertreten wurde sie von drei Gefangenen: Bruno Bettelheim, Dr. Brief und dem Berichterstatter. Nur der zweite war ein ausgebildeter Psychoanalytiker, sein Lehranalytiker war Wilhelm Reich gewesen. Er wurde in Brünn bei der Annexion des Sudetengebietes von der Gestapo verhaftet, kam also erst im Frühjahr 1939 nach Buchenwald. Nach Auschwitz überstellt, hat er das Lager nicht überlebt…

Von Ernst Federn
Auszug aus: Ernst Federn: Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. Gießen (Psychosozial-Verlag) 1999

Über Bruno Bettelheim brauche ich nicht zu berichten – er war ein berühmter Mann; doch soviel für hier, daß er damals noch kein Psychoanalytiker war, allerdings eine Analyse hinter sich hatte und an der Behandlung gestörter Jugendlicher interessiert gewesen war. Verhaftet wurde er, weil er Jude war und sich in der Hilfsorganisation des Widerstandes gegen die österreichische faschistische Regierung engagierte.

Was mich betrifft, so habe ich mich einmal als „Psychoanalytiker von Geburt“ bezeichnet. Was meine Ausbildung betraf, so hatte ich damals noch keine, war aber seit 1936 als Sekretär meines Vaters doch sehr an seiner Arbeit beteiligt.

Über das Lager selbst, in dem wir drei zusammentrafen, kann ich hier nicht berichten. Bettelheim und ich waren in Folge der Krise um die Tschechoslowakei von Dachau nach Buchenwald überstellt worden. Dieses Lager, das kurz vorher noch „Ettersberg“ hieß, war zu der Zeit, da wir in Dachau waren, noch ein Vernichtungslager, in dem jeden Tag Juden ermordet wurden. Als der Transport der jüdischen Häftlinge aus Dachau ankam, änderten sich – nach vielen weiteren Opfern – die Verhältnisse im Lager allmählich zu dem eines Arbeitslagers ((Für jene, die über die Nazilager nicht Bescheid wissen, soviel zur Orientierung: Man konnte drei Lagerkategorien unterscheiden: solche, die dazu bestimmt waren, die Insassen zu vernichten, solche, in denen vor allem gearbeitet wurde, allerdings ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Gefangenen, und die reinen Arbeitslager, die die Aufgabe hatten, wichtige Kriegsarbeiten zu verrichten. Buchenwald wurde im Jahre 1942 auf Befehl des Rüstungsministers Albert Speer so ein Lager. Allerdings wurden im Herbst 1942 alle jüdischen Gefangenen mit Ausnahme von 200, die als Maurer ausgebildet wurden, nach Auschwitz gebracht. Mit Ende des Jahres 1944 wurde in Buchenwald ein eigenes Lager für die aus Auschwitz kommenden Gefangenen errichtet. Es waren die Bilder von diesem Lager, die die schrecklichen Zustände zeigten, die dort herrschten. Im alten Lager sah es weniger schlimm aus.)). Zu der Zeit, in der Bettelheim dort war, von September 1938 bis April 1939, waren die Verhältnisse zwar sehr schlimm, aber es bestand eine Möglichkeit des Überlebens, selbst für jemanden, der in praktischen Dingen so ungeschickt war wie Bettelheim. Er verdankt sein Überleben, daß er in der Strumpfstopferei unterkommen konnte, wo er relativ geschützt war. Es half ihm auch sein schon damals sehr schlechtes Sehvermögen, das eine dicke Brille notwendig machte. Aus unerfindlichen Gründen machten Brillen einen gewissen Eindruck auf die SS.

Ich traf Bettelheim beim „Ziegelschupfen“ wenige Tage nach unserer Ankunft in Buchenwald. Wir standen nebeneinander, ohne uns zu kennen. Bettelheim ließ jeden Ziegel fallen. Dies war mit zwei Gefahren verbunden: Man konnte sich verletzen, und man konnte von einem SS-Mann dafür geschlagen werden. Ich machte dementsprechende Bemerkungen, worauf die Antwort kam: „Sind das deine Ziegel?“ Im folgenden Wortwechsel nannte ich mein Gegenüber „ein Niemand“. „Wer ist bei dir ein Niemand, bist du ein Jemand? Ich bin Bettelheim.“ „Ich bin Federn“, sagte ich. „Bist du verwandt?“ „Ich bin der Sohn.“ Große Begrüßung. Seit dieser Stunde sind wir Freunde, und zwar besonderer Art, wie ich glaube, denn mich hat Bruno Bettelheim niemals angeschrien.

Mein Zusammentreffen mit Dr. Brief war ohne Dramatik. Er kam in meinen Block, und wir stellten einander vor. Was ist nun bleibend von diesen anekdotenhaften Ereignissen?

Es war Bettelheim und mir aufgefallen, in welchem Maße der Abwehrmechanismus der „Identifikation mit dem Angreifer“ im Lager zu beobachten war. Wem von uns es zuerst aufgefallen war, kann ich nicht mehr sagen, aber es war eine sehr wichtige Beobachtung. Was Anna Freud bei Kindern sehr genau beschrieben hat und jede Kindergärtnerin bestätigen kann, trifft auch auf Erwachsene zu, und ganz bestimmt auf solche, die auf frühe Altersstufen regrediert sind. Das heißt, Bettelheim und ich und später Brief konnten zwei psychoanalytische Erkenntnisse im Detail bestätigt finden: daß unter schwerem seelischen Druck Menschen regredieren und daß sie kindliche Abwehrmechanismen entwickeln. Weder Bettelheim noch ich selbst haben diese Abwehrmechanismen für uns selber benützt. Bettelheim konnte sich, wie gesagt, verkriechen und wurde dann bald entlassen. Meine Abwehr war komplizierter, gehört aber nicht zum Thema. Bettelheim ließ seine Erfahrungen in eine Arbeit einfließen, die ihn sehr schnell bekannt machte ((Bettelheim, Bruno (1943): „Individual and Mass Behavior in Extreme Situations“.)). Wie sehr seine Erfahrungen im Lager auf seine spätere Arbeit mit psychotischen Kindern eingewirkt haben, hat er ja selber in seinen Büchern beschrieben.

Brief leistete mir Hilfe; seine Rolle bestand darin, daß er sozusagen mein Supervisor war. Ein dramatischer Fall soll veranschaulichen, wie das vor sich gegangen ist: Nach der Besetzung der Niederlande kamen etwa 100 jüdische Gefangene aus Amsterdam in unseren Block. Sie sollten bis zum letzten Mann ermordet werden, aber das wußten wir nicht, als sie ankamen. Einer von ihnen wurde eines Tages vom Blockältesten ((Ein Blockältester war ein Gefangener, der einem Block vorstand und Macht über Leben und Tod seiner Untergebenen hatte. Nach dem 31. Januar 1939 hatten alle jüdischen Baracken einen jüdischen Gefangenen als Blockältesten.)), der seit 1933 in Haft war und der mich sehr gerne hatte, beschuldigt, Brot gestohlen zu haben. Er wurde verprügelt, und es wurde ihm gesagt, daß er beim nächsten Mal ein toter Mann sei. In der Nacht darauf urinierte er im Schlaf zwischen zwei Betten, nicht in das Bett. Große Aufregung und neuerliche Drohungen, ihn umzubringen. Nun war mir aufgefallen, daß er zwischen die Betten und nicht in das Bett uriniert hatte. Es war also kein Bettnässen, sondern offenbar eine Symptomhandlung. Außerdem hatte das niederländische Wort, das er gebrauchte, für mich die Bedeutung des „Wegwaschens“. Jedenfalls erbot ich mich, diesen Fall in Ordnung zu bringen. Es wurde mir erlaubt. Und ich hatte ein Gespräch mit dem Mann, in dem ich ihm erstens erklärte, daß ich ihm glaube, daß er nicht gestohlen habe, und daß ich für ihn bei dem Blockältesten intervenieren werde, und zweitens, daß er uriniert hätte, um seine Anschuldigung „wegzuwaschen“. Damit war sein Fehlverhalten vorbei. Dr. Brief meinte, es wäre nicht die Deutung, sondern meine Intervention gewesen, die ihm die Angst genommen hätte. Wie dem auch sei, mein Ruf als Psychoanalytiker war gemacht.

Diesen Ruf, von der Psychoanalyse etwas zu verstehen, hatte ich im Januar 1939 erstmals erworben. Ich war mit zwei vom Frost gangränösen Händen schließlich doch in die Ambulanz des Spitals gekommen. Dort arbeitete ein Wiener Arzt, Dr. Verö, als Pfleger, während ein langjähriger Häftling, der von Beruf Zimmermann war, als Chirurg tätig war. Jener war nämlich Jude, dieser „Arier“ aus dem Rheinland und bereits sechs Jahre im Lager. Er war besonders geschickt. Während ich auf die Behandlung wartete, sagte Dr. Verö: „Da sitzt der Sohn eines berühmten Mannes, dem Psychoanalytiker Paul Federn.“ Darauf sah mich der Mann an, dessen Namen, nicht aber dessen blitzende blaue Augen ich vergessen habe. Im harten rheinischen Deutsch fragte er: „Verstehste Du auch etwas davon?“ Ich bejahte. „Erkläre mir den Ödipus-Komplex.“ Ich tat es. „Das hast Du gut gemacht, ich werde Dich operieren.“ Niemals bekam ein Psychoanalytiker ein solches Honorar, denn es rettete meine Hände und mein Leben.

Meine psychoanalytischen Kenntnisse und die Fähigkeit, sie leicht verständlich auch einem Ungeschulten zu vermitteln, machten mich im ganzen Lager bekannt. Unter den sogenannten Kriminellen half es mir außerordentlich, da sie offenbar erfahren hatten, daß Psychoanalytiker Kriminelle für krank hielten. Da ich einen der begehrtesten Posten hatte – ich war drei Jahre lang Nachtwächter -, bewahrte mich mein guter Ruf davor, meinen Posten auf die einfachste Weise, nämlich ermordet zu werden, zu verlieren. Ein Jude war zwar nichts wert, aber ein Psychoanalytiker offenbar etwas mehr als nichts. Mein Posten als Nachtwächter, der wegen möglicher Luftangriffe mit Beginn des Krieges von der Lagerleitung angeordnet worden war, brachte es notwendigerweise mit sich, während der Wintermonate das Feuer im Ofen am Brennen zu halten. In den langen Wintemächten mußten viele Gefangene in der Nacht zur Toilette raus und blieben gerne auf dem Rückweg ins Bett noch ein bißchen mit mir beim Ofen stehen. Dabei kam es zu interessanten Gesprächen, in denen Erinnerungen an zu Hause, aber auch gegenwärtige Ängste, natürlich sehr berechtigte angesichts der ständigen Todesgefahr, ausgesprochen wurden. Wohl die schwierigsten Augenblicke waren es, wenn in der Nacht, von der ich wußte, daß es ihre letzte sein würde, ihre Todesängste zur Sprache kamen. Ich glaube, daß meine Fähigkeit, diese Gespräche zu führen und persönlich so zu reagieren, daß meine Partner vielleicht doch noch ein bißchen Erleichterung finden konnten, durch meine psychoanalytische Einstellung stark unterstützt wurde – sie half mir, ihnen zu helfen. Was bis dahin dem Klerus vorbehalten war, Trost in den letzten Lebensstunden zu spenden, haben Psychoanalytiker erst viel später begonnen, in ihr Interesse aufzunehmen.

Ein weiteres Feld, bei dem mir die Psychoanalyse zugute kam und über das ich hier berichten will – nicht alle Anwendungsbeispiele konnte ich in meine Darstellung aufnehmen-, waren meine Vorträge. Diese fanden an den ungewöhnlichsten Plätzen statt. Manchmal vor einem, ein anderes Mal vor mehreren Zuhörern. Daß man immer auf der Hut sein mußte, nicht von einem SS-Mann beim „Müßiggang“ erwischt zu werden, war den erfahrenen Lagerinsassen allzeit bewußt, soll aber doch nicht unerwähnt bleiben. Nur sonntags hatten wir Freizeit, und hin und wieder sprach ich an solchen Tagen – mit Hilfe eines Dolmetschers, der leider nicht überlebt hat – zu Marcel Beaufrere alias Fernand, einem französischen Widerstandskämpfer. Dieser war von meinen Ausführungen so beeindruckt, daß er davon David Rousset erzählte, der darüber in einem Artikel in einer Nummer der Temps Moderne berichtete, der 1946 erschien. Er machte viel Aufsehen, und ich wurde in dem Leserkreis dieser Zeitschrift in Brüssel so etwas wie eine Berühmtheit.

So schließt sonderbarerweise mein Bericht in Paris, wo ich zum ersten Mal in 40 Jahren – etwas verspätet, aber doch – einiges von den Randereignissen der Geschichte der Psychoanalyse mitteilen durfte ((Vortrag auf der ersten Tagung der „Internationalen Vereinigung für die Geschichte der Psychoanalyse“ (AIHP), im Jahre 1987 gehalten.)).

Literatur

Bettelheim, B. (1943): Individual and Mass Behavior in Extreme Situations. In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 38, October: S. 417–452. Deutsche Fassung: Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen. In: Bettelheim (1960), S. 47–57.
Bettelheim, B. (1964): Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M. (Fischer).
Bettelheim, B. (1980): Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. München (dtv).
Federn, E. (1985): Weitere Bemerkungen zum Problemkreis „Psychoanalyse und Politik“, in: Psyche, 39. Jg., H.  4/1985, S. 367-374.
Federn, E. (1996): Rezension von:  Lohmann, H.-M.: Psychoanalyse und Nationalsozialismus, in: Psyche, 40. Jg., H. 5/1986, S. 463-466.
Federn, E. (1992): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Bemerkun¬gen eines Zeitzeugen. In: Luzifer-Amor: Hitlerdeutungen, Nr. 9, S. 43–47.
Federn, E. (1993): Zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Kaufhold (Hg.) (1993): S. 70–78.
Federn, E. (1994): Bruno Bettelheim und das Überleben im Konzentrationslager. In: Kaufhold (Hg.) (1994): S. 125–127, sowie in Kaufhold (Hg.) (1999): S. 105–108.
Federn, E. (1999a): Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Kaufhold (Hg.) (1999), S. 35–75.
Kaufhold, R. (Hg.) (1993): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld. psychosozial Heft 53 (I/1993), 16. Jg.
Kaufhold, R. (1993a): Zur Geschichte und Aktualität der Psychoanalytischen Pädagogik: Fragen an Rudolf Ekstein und Ernst Federn. In: Kaufhold (1993), S. 9–19.
Kaufhold, R. (Hg. 1994): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mainz (Grünewald) (nur noch beim Autor für 12 Euro erhältlich: roland.kaufhold (at) netcologne.de)
Kaufhold, R. (Hg.) (1999): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen (Psychosozial-Verlag). http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=47
Kaufhold, R. (1999a): Material zur Geschichte der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik: Zum Brie¬fwechsel zwischen Bruno Bettelheim und Ernst Federn. In: Kaufhold (1999), S. 145–172 (auf englisch, 2008: Documents Pertinent to the History of Psychoanalysis and Psychoanalytic Pedagogy: The Correspondence Between Bruno Bettelheim and Ernst Federn. In: The Psychoanalytic Review , (New York), Vol. 95, No. 6/2008, S. 887-928).
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Mit einem Geleitwort von Ernst Federn. Gießen (Psychosozial-Verlag). http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=1069
Kuschey, B. (2003): Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers. Band I und II. Gießen (Psychosozial-Verlag).

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