Historische Chanukkageschichten VII: Chanuka in der Hintergasse

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Die siebte Chanukka-Geschichte erschien im Dezember 1900 wiederum im zionistischen Organ „Die Welt“. Autor ist Philipp Menczel, ein Rechtsanwalt und Journalist aus Czernowitz. Menczel, 1872 geboren, war seit seiner Studienzeit Anhänger des Zionismus und gehörte zu den führenden Zionisten der Bukowina. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte er in die USA emigrieren, wo er 1941 starb. Die vorliegende „kleine Ghettogeschichte“ zeichnet ein düsteres Bild vom Elend der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa und stellt diesem den Zionismus gleich einem Chanukka-Wunder gegenüber…

Chanuka in der Hintergasse – Kleine Ghettogeschichten

Von Philipp Menczel
Die Welt v. 14.12.1900

Was ist die Hintergasse? Das Ghetto im Ghetto. Die Stätte der Armuth, ihr Wirkungsort par excellence.

In der Hintergasse wohnt das jüdische Proletariat. Kommt einmal mit. Wählet selbst. Ein Städtchen Sarmatiens muss es sein, jedoch ein beliebiges. Es kann in Galizien, in Podolien, in Bessarabien oder in Litthauen liegen, meinetwegen darf es auch die Moldau sein. Ehe Ihr die Wanderung mit mir antretet, treffet hübsch Vorbereitungen. Ihr wisst es ja, wie für eine Bergtour. Statt der
Bergschuhe müsset Ihr hohe Stiefel oder tiefe Galoschen nehmen, das Taschentuch presset an die Nase und achtet auf den Pfad. Nun denn in Gottes Namen.

***

Die ersten Schneeflocken fallen zur Erde. Sie versinken in den grünlichgelben Morast und hinterlassen keine Spuren. Des stadtgewaltigen Polizeimanns Sau wälzt sich behaglich im Schlamme, dann erhebt sie sich schwerfällig, trottet zum „Haus“ des Jankel Schmatnik und reibt den borstigen Rücken an dem kleinen Fensterchen, das bis an die „Prispa“ heranreicht. Klirrend fallen die beiden erblindeten Scheiben zur Erde und zersplittern. Jankel Schmatniks Gattin — Schmatnik ist Lumpensammler und Bettler von Beruf — ist jähzornig, sie eilt auf die Gasse, und obgleich sie ein lebendes Wesen unter dem Herzen trägt, hebt sie wuthentbrannt den grossen Kascherstein, der vor dem Ofen liegt, in die Höhe und wirft ihn dem garstigen Friedensstörer an den Kopf.

Vier Wochen später. Es war an einem Donnerstag und der zweite Tag Chanuka. In der grossen Wirtsstube des Schänkers Mendel Wasserstrom sitzt der Polizeimann Jokus, der Allgewaltige, und trinkt immer noch Eins. Schnaps, reinen Schnaps. Er bekommt ihn billig, böse Leute sagen gar umsonst, und seine Nase funkelt, ihm gegenüber sitzt der Wirt, in ehrfürchtiger Haltung, auf einer Kante der wackeligen und schmierigen Holzbank. An einem Fenster hinter dem Schänktisch brennen zwei Wachslichtlein, die an ein Stück Brennholz festgeklebt sind. Jokus ist im Orte geboren, sein Vater war der Hitzil (Wasenmeister) daselbst, und er kennt alle jüdischen Gebräuche. Er spricht den Jargon der Juden mit grosser Geläufigkeit und verwendet nur ab und zu einige ruthenische Worte.

Weisst Du, Mendel“, sagt er, „der Jente Schmatnik habe ich es gut gegeben. Sie hat jetzt schöne Chanuka: weisst Du, mit meinem Schwein die Geschichte kennst Du ja“. Dann lacht er verschmitzt. „Ich habe es ja damals gleich geschlachtet, und die ersten Würste habe ich gestern gegessen.“ Dann schnalzt er mit der Zunge. „Also weisst Du. Mit dem Schwein. Dann habe ich ein Urtheil bekommen auf sie. Drei Tage Arrest, sechzehn Gulden und die Kosten. Gestern habe ich aber gelacht, gelacht .. . krankgelacht. Hat mir der Executor einen Gefallen erwiesen . . . Der Mann, der Jankel Schmatnik, hat gerade das erste Lichtel angezündet, und die Jente liegt in den Wochen. Kommt er schnurstracks herein und nimmt ihr das Polsterl weg, was sie lag darauf. Das kleine Schmatnikel hat gequietscht, und sie fiel in Ohnmacht .. . Aber was bekomme ich für das dünne Polsterl. .. vielleicht drei Gulden .. . Mendel, gib noch ein Achter! . . .“

Freitag. Die Hintertrasse ist belebt. Die Habseligkeiten, als da sind: Bankbettel, Tisch und Backtrog, liegen vor den Häusern auf der Strasse. Frauen in Lumpen gehüllt, das Kopftüchel zurückgeschoben, die abgehärmten Gesichter leicht geröthet, stehen mit Strohwischen in den Händen und scheuern an den Hausgeräthen. Sabbath soll empfangen werden. Jente Schmatnik ist schwer krank, und ihr armes Neugeborenes ist vom Schames schon auf den heiligen Ort getragen worden. Gitale, ihre älteste Tochter, elf Jahre alt, besorgt die Scheuerung. Ihre zarten Fingerchen bluten. Ihre fünf Geschwister sitzen um sie und wühlen im Koth. Herrenlose Hunde, räudige Köter, treiben durch die Hintergasse. Vater ist nicht zuhause. Er ist beim Fleischer, um einige Fleischabfälie für den Sabbath zu erbetteln.

Der Tag rückt vor. Jente röchelt schwer und in ihren Augen glimmt nur noch das Fieber. Sie ruft Gitale herbei und ertheilt ihr mit matter Stimme Weisungen, wie sie das Süpplein kochen solle, wenn ihr die Nachbarin drei Stück Holz leiht und der Vater das Fleisch bringt. Ach Gott, der Tag ist jetzt so kurz, und der Vater kommt noch immer nicht. Die Kinder weinen. Die Mutter hat ein Stück Maisbrot neben sich liegen und vertheilt es unter die armen Würmer. Gierig verschlingen sie die Brosamen.

Die Sachen sind schon reingescheuert und an ihrem Platze. Alle Kinder, auch der Zweijährige, hatten der Gitale geholfen, den Tisch in die Stube rücken. Wo nur der Vater sein mag ? Nur die Mutter spricht nichts, und sie sieht so eigentümlich aus. Sie bewegt nur leise die Lippen. Nun weint auch Gitale . . . Horch sind es nicht Vaters Schritte ? Der Vater kommt! Er stösst die Thür auf, und sein erster Blick fällt auf seine Gattin. Ein markerschütternder Schrei hallt durch das Zimmer. Jente hat ihren letzten Seufzer gethan. Das Fleisch ist der Hand enfallen, und mit heisser Gier schlecken zwei Hunde an der willkommenen Beute.

***

Letzter Tag Chanuka. Jankel sitzt Schiwah. Eine mitleidige Nachbarin hat die drei Jüngsten für einige Zeit zu sich genommen, und die drei Aeltesten haben sich scheu in eine Ecke gedrückt. Ueber Nacht war ein harter Frost gekommen und hatte den Strassenkoth in eine einzige feste Masse verwandelt. Spärlicher Schnee bedeckt gnädig den Schmutz. Jankel sinnt. Worüber ? Nun, er weiss es eigentlich selbst nicht. Ueber Allerlei. Er denkt an sein armes Weib, das nun auf dem Gottesacker ruht, . . . ausgerungen. Wann ihn wohl Gott abberufen wird? Wenn nur nicht die armen Kinder wären. Gitale könnte eigentlich schon einen Dienst bekommen, sie muss aber zuhause bleiben, Mutterstelle vertreten, er aber muss Erwerb suchen. In den sieben Trauertagen haben sich die Nachbarn seiner angenommen. Wie lange noch? Wenn er nur allein wäre. Er ist ja ans Hungern gewöhnt . . . Dann fällt ihm ein, dass heute letzter Tag Chanuka sei. O, er hat an die Lichtlein nicht vergessen. Sie brennen alle, und der Schames leuchtet mit Selbstbewusstsein und Würde . . . Nun wird es vollends Nacht. Dunkle Gestalten huschen am Fenster vorbei . . . Gitale, sieh einmal nach, wohin die Leute gehen. Gitale eilt zur Thür. Nach fünf Minuten kehrt sie zurück. Sie verstehe die Sache nicht recht. In der grossen Synagoge sei eine Feier. Ein Herr, gar ein Doctor, sei aus der Hauptstadt gekommen, um über Chanuka und Erez Isroel zu sprechen. Der Vater sieht sie gross an. Dann sinnt er wieder . . . lange, lange . . . Ein Seufzer entringt sich seiner gepeinigten Brust . . . Vater im Himmel, Herr des Erbarmens, blick auf meine armen Kinder und gib uns Brod, gib uns ein Haus, gib uns ein Stückchen Erde, damit uns unsere Feinde nicht verlachen … Heisse Thränen rinnen über die Wangen, und Gitale starrt ihn mit offenem Munde an.

* * *

Der reiche Cultusvorsteher, ein Geldwechsler selbstverständlich, sprach am nächsten Tage wohlwollend zu dem Doctor, der gekommen war, um über Erez Isroel zu sprechen: „Ja wissen Sie, lieber Herr Doctor. wir können doch nicht Zionisten sein. Kennen Sie den Jankel Schmatnik? Der wird ein Zionist sein.“ Er lachte herzlich.

1 Kommentar

  1. Die ergreifendste Schilderung ostjüdischen Elends kenne ich aus Herzls ALTNEULAND. Ich glaube das gibt es auch bei HAGALIL.

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