Der letzte Chanukka-Text stammt von Manfred Swarsensky. Swarsensky, geboren 1906, war promovierter Philosoph und Sprachwissenschaftler und wurde im Alter von 26 Jahren zum Rabbiner ordiniert. Damit war er 1932 der jüngste ordinierte Rabbiner im Amt. Nach 1933 entschloss er sich, seine Gemeinde in Berlin nicht im Stich zu lassen und bis zum letzten Moment, gleich seinem Vorbild und Lehrer Leo Baeck, auszuharren. Schließlich wurde er für drei Monate im KZ Sachsenhausen interniert. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Berlin zurück, bis er schließlich 1940 über England in die USA emigrieren musste. Dort gründete er die Gemeinde Bet El in Madison, der er bis 1976 als Gemeinderabbiner vorstand. Rabbiner Manfred Swarsensky starb 1981 in Madison. Der vorliegende Text erschien im Dezember 1934 in der von Julius Goldstein gegründeten Zeitschrift „Der Morgen“ und ist ein eindringliches Dokument der Reaktionen des deutschen Judentums im Angesichts des aufsteigenden Nationalsozialismus …
Vom Recht der Wenigen
Von Manfred Swarsensky
Der Morgen – Monatsschrift der deutschen Juden, Dezember 1934
Chanukka ist und bleibt der stärkste Erweis für die Wahrheit und Wirklichkeit jener einzigartigen Paradoxie, unter der das Schicksal der Juden steht: die Ältesten und doch die Jüngsten, die Schwächsten und doch die Starken, die Wenigen und doch die Bleibenden zu sein.
Jüdisches Schicksal in der Welt ist immer das Schicksal der Wenigen gewesen. Diese Erkenntnis ist nicht von dem Wunsche bedingt, aus der Not eine Tugend zu machen und einem vielfach anormalen und überwindenswert erscheinenden Dasein eine nachträgliche jüdische Rechtfertigung zu geben. Die Gewißheit wächst vielmehr aus der Einsicht in die Richtung des Weges, den das Judentum von Urbeginn an ging.
Seit den Tagen, da Abraham sich von seiner heidnischen Umwelt löste, um seinen eigenen einsamen Weg zu gehen, ist der Weg aller Geschlechter aus Abrahams Samen immer ein Weg der Wenigen und darum auch der Einsamen gewesen. „Nicht, weil ihr zahlreicher seid als alle Völker, hat der Ewige euer begehrt und euch erwählt, denn ihr seid die Wenigsten von allen Völkern“ (5. B. M. VII, 7). Als ein gestaltendes und formendes Prinzip ist dieses Gesetz der Wenigen dem jüdischen Schicksal unlöslich eingeschmolzen.
Der jüdische Begriff der Wenigen ist jedoch ein grundsätzlich anderer als der aus neuzeitlichen Ideen geborene politisch-säkulare Begriff der „Minderheit“. Das jüdische Minderheitsprinzip ist vielmehr ein inneres, wenn man will ein soziales oder vielmehr ein metaphysisches. Das äußere Schicksal hat die Weltanschauung mitgeformt, und von der Weltanschauung her wurde das äußere Schicksal als sinnvoll empfunden. Was Geschick von außen her war, wurde zu einer starken schöpferischen Kraft, die die Richtung des jüdischen Glaubens und der jüdischen Ideen bestimmt hat. So ist von der Sklavenzeit Ägyptens her nach der Auffassung Moses, der Propheten, Esras, der Chassidäer, der Pharisäer und der Rabbinen des Talmud, die den Ideengehalt des Judentums geprägt haben, alles Recht stets ein Recht der Wenigen und Schwachen, alles Soziale immer das Gebot der Gerechtigkeit den Schwachen und Wenigen, darum dem Armen, der Witwe, der Waise und dem Fremdling gegenüber gewesen. Ja, das charakteristische Mitleiden des Juden mit jedem Leidenden, das Mitfühlen mit jedem Einsamen und Schwachen, das selbst in dem Juden lebt, der sich sonst schon weit vom Judentum entfernt hat, ist noch der Restbesitz einer großen verpflichtenden Erbschaft aus vergangenen Tagen, die, wenn sie verlorenzugehen droht, immer wieder durch das äußere Schicksal lebendig erhalten wird.
Schicksal und religiöse Weltanschauung in gleicher Weise haben darum im Judentum nie den Glauben an die Zahl, an die Masse, oder — was das gleiche ist — an die Macht aufkommen lassen. Aus ihnen ist im Gegenteil das Vertrauen zur Macht der Ohnmacht geboren, der Glaube an die Mächtigkeit des Geistes und der Idee. Als Juda der Makkabäer seine Getreuen zum Kampf gegen die heidnischen Syrer aufrief, zu jenem Kampf, der kein politischer Machtkampf war, sondern ein heiliger Krieg um das Leben einer Kulturidee, sprach er zu denen, die sich vor der feindlichen Übermacht fürchteten: „Es ist wohl möglich, daß Viele in die Hände Weniger gegeben werden; für den Himmel macht es keinen Unterschied, durch Viele oder Wenige Hilfe zu schaffen. Denn der Sieg beruht nie auf der Größe des Heeres, sondern vom Himmel kommt die Kraft.“ (1. B. Makk. III, 18—19). Ja, das eigene Schicksal ist zu allen Zeiten eine Bestätigung der religiösen Gewißheit gewesen, daß Gott „nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch seinen Geist spricht“ (Secharja IV, 6).
Darum sind die Wenigen die Schwachen nur im irdischen Verstand. In Wahrheit sind die Wenigen die Starken, die Bleibenden, weil beim Vergehen aller äußeren Macht nur dem Geist Dauer gegeben ist. Hätten die Juden zu den Vielen unter den irdischen Mächten gehört, sie wären untergegangen wie alle anderen. Weil sie die Wenigen und Schwachen waren, haben sie sich erhalten. Auf der Seite der Wenigen zu stellen ist stets eine Sache größeren Mutes, als sich in den Reihen der Vielen, in der Sicherheit der Masse geborgen zu wissen. In diesem Mut, der oft ein Mut zum Leben gegen den Tag ist, liegt der eigentliche Heroismus des Judentums.
Auch wir wissen zu erzählen von dem Durchbruch der menschlich verständlichen Sehnsucht, den Vielen und scheinbar Glücklicheren anzugehören. Von den Zeiten der „Hellenisten“ mit ihrer Forderung: „Laßt uns doch mit den Völkern rings um uns eins werden, denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, hat uns viel Unglück betroffen!“ (1. B. Makk. I, 11) bis zu den „Hellenisten“ modernster Prägung waren solche Epochen stets Zeiten des Abfalls. Aber immer dann, wenn die zentrifugalen Kräfte stärker als die zentripetalen zu werden drohten, wurde das Gesetz der Auslese sichtbar, das die gesamte jüdische Geschichte von den Anfängen an durchwaltet. Waren erst die dürren Zweige vom Baum abgefallen, dann grünte der Stamm um so frischer. Stets in der Polarität von Abfall und Treue stehend, hat das Judentum immer gelebt aus dem „Rest, der zurückkehrt“.
Haben wir Heutigen ein Recht, das jeder materialistischen Deutung spottende ewige Schicksal des Judentums mit säkularen Kategorien umzudeuten, nur weil diese unserer Zeit und ihren Menschen leichter eingehen? Chanukka verbietet es, dieses Fest, das für immer zeugen wird von den Ältesten, die die Jüngsten, von den Schwächsten, die die Stärksten, von den Leidenden, die die Glücklichsten, von den Wenigen, die die Bleibenden sind.