Historische Chanukkageschichten VI: Das Chanukka-Fest

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Der sechste historische Text zu Chanukka stammt von Dr. Simon Bernfeld, einem Literaturwissenschaftler, Historiker und Schriftsteller, der, 1860 in Galizien geboren, zu den Vertretern der ‚Wissenschaft des Judentums‘ gehörte…

Heute ist er leider weitgehend in Vergessenheit geraten, und das trotz seines umfangreichen Schaffens, wie es zu seinem 60. Geburtstag in „Ost und West“ beschrieben wurde: „Wer ist Simon Bernfeld? Hier, in Berlin, wo er fast drei Jahrzehnte wohnt, wissen nicht allzu viele von seinem Können und Wirken. Die meisten deutschen Juden haben vielleicht von Bernfeld als jüdischem Publizisten, als Leiter des apologetischen Archivs des Verbandes der deutschen Juden, als Ausschußmitglied der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, allenfalls noch als ehemaligem Redakteur der auswärtigen Politik des „Berliner Börsen-Couriers“, in den letzten Jahren als Redakteur des Gemeindeblattes der Berliner Jüdischen Gemeinde etwas gehört, und wie eine Mär aus fernen Landen ist noch zu ihnen sein Ruf als hebräischer Schriftsteller gedrungen. Den Wenigsten von ihnen ist es klar, daß gerade in der hebräischen Literatur die Wurzeln seiner Kraft ruhen, daß auf diesem Gebiete sein Lebenswerk vollbracht ward und daneben sein sonstiges Schaffen vollends in den Schatten tritt.“ Im vorliegenden Text, der 1901 in „Ost und West“ erschien, beschreibt Bernfeld das Chanukka-Fest in Vergangenheit und Gegenwart.

Das Chanukka-Fest

Von Dr. S. Bernfeld
Ost und West, Heft 12, Dezember 1901

Im jüdischen Kalender sind zwei Feste verzeichnet, die beide an geschichtliche Ereignisse anknüpfen, aber verhältnismässig spät eingesetzt worden sind: Chanukka und Purim. Aus diesem Grunde sind sie eigentlich Werkeltage geblieben, an denen nur ein Festgottesdienst stattfindet. Und da im Judentum die Begrifie Festtag und strenge Feier identisch sind, so konnten sich die beiden genannten Feste nicht in ihrem vollen Werte behaupten. Sie sind Fest-, aber keine Feiertage.

Das Chanukkafest ist eines der heiligsten und erhabensten im Judentum; im gewissen Sinne steht es in einer Reihe mit der Passahfeier, da es ebenialls einer geschichtlichen Erinnerung von grosser nationaler Bedeutung gewidmet ist. Bedeutet das Passahfest die Feier der Erlösung aus materieller Knechtschaft, so erinnert das Chanukkafest an die ruhmreichen Tage der geistigen Befreiung. Gewiss befand sich in der Zeit der Makkabäerkämpfe ein grosser Teil der Judenheit auf nichtpalästinensischem Boden; man kann daher nicht behaupten, dass es sich damals um die Fortdauer des jüdischen Volkes handelte, da diese auch bei dem Unterliegen der todesmutigen Schar gesichert schien. Aber die nationale Eigenart Israels stand dazumal auf dem Spiele. Der Sieg des Volkes unter der Führung der Hasmonäerfamilie bedeutet daher einen Wendepunkt nicht nur in der Geschichte des jüdischen Stammes, sondern auch in der der ganzen Kulturmenschheit. Denn ohne das Judentum, dessen Existenz auf dem Spiele stand, hätte die Kulturentwickelung gewiss eine andere Form angenommen.

Es war dies eine glorreiche Zeit, wie sie das jüdische Volk selten wieder gesehen hat. Man bewundert die Tapferkeit der Makkabäer, die einen geschichtlichen Ruf erlangt hat. Zur Zeit, als es sich darum handelte, die Juden in Europa zu Bürgern zu machen, erinnerten ihre Fürsprecher und Verteidiger gern an die siegreichen Makkabäer, und sie meinten, die Nachkommen dieser Helden könnten unmöglich so entartet sein, wie ihre Feinde behaupteten. Indessen haben die Juden in späteren Zeiten nicht minder todesmutig gekämpft. Man kann die Thatsache nicht genug bewundern, dass sich das winzige Judäa nicht weniger als vier Jahre mit dem mächtigen, weltbezwingenden Rom herumgeschlagen hat. Und besiegt wurde es nicht so sehr durch, die Uebermacht der Feinde, wie durch Verrat und Zwietracht im eigenen Lager. Was aber die Makkabäerkämpfe so ruhmwürdig auszeichnete, das war der glückliche Umstand, dass das um seine Freiheit ringende Volk grosse Führer im Kampfe gefunden hat.

Die Erinnerungen, die das Chanukkafest in uns wachruft, sind erhebend, wie kaum andere in der Geschichte unseres Stammes. Aber in späteren Zeiten, als der Judenheit infolge der fortgesetzten Verfolgungen und des unerhörten Druckes jede nationale Lebensfreude erlosch, verlor sich bei uns auch das Verständnis für die Chanukkafeier. Es war verhängnisvoll genug, dass die Nachkommen der ruhmreichen Hasmonäer so wenig ihren grossen Ahnen glichen; sie arteten in Herrsch- und Genusssucht aus und setzten sich bald in Widerspruch mit den nationalen Bestrebungen des Volkes. Freilich lag nicht immer die Schuld ausschliesslich auf ihrer Seite; auch die Gegner hatten ein voll gerüttelt Maass Schuld an dem baldigen Niedergang, dem das jüdische Volk einige Jahrzehnte nach den grossen Siegen anheimgefallen ist. Aber dem sei nun wie ihm wolle, die siegreiche Volkspartei (die Pharisäer), die Jahrzehnte hindurch im Kampfe gegen die Hasmonäerfamilie gestanden, trug dazu reichlich bei, dass die Erinnerung an jene Vorgänge im Volk immer mehr schwand. Das Chanukkafest hörte in der Folge auf, ein Makkabäerfest zu sein.

Ein Stück Geschichte, so ruhmreich sie auch für die Judenheit sein mochte, wurde aus dem Volksbewusstsein herausgerissen. Das erste Makkabäerbuch, eins der schönsten Bücher im jüdischen Schrifttum, wurde, obwohl ursprünglich hebräisch verfasst, aus der Sammlung der religiösen Schriften entfernt. Dadurch ging im Grossen und Ganzen das historische Bewusstsein von den Makkabäerkämpfen verloren, und statt seiner erhielt sich nur eine dunkle Erinnerung an sagenhafte Dinge. Man wusste etwas von der Zeit der Gewissensnot, als der wahnwitzige Syrerkönig Antiochos die Juden zum Verlassen des väterlichen Glaubens zwingen wollte. Auch von den Siegen der muthigen Gotteskämpfer wusste man manches. Die Chanukkafeier selbst sollte an das wunderbare Geschehnis erinnern, dass, — nach dem Siege des JudaMakkabäus, — als der Tempel von Jerusalem von dem „entsetzlichen Greuel“, d. h. dem griechischen Götzenkultus, gereinigt und der Gottesdienst zu Ehren des Gottes Israels wiederhergestellt wurde, — sich wunderbarerweise im Heiligtum ein Fläschchen Oel vorgefunden, auf dem das hohepriesterliche Siegel angebracht war, was als Beweis gelten konnte, dass dies heilige Oel durch die Götzendiener nicht profaniert worden sei. Eigentlich konnte dies Fläschchen Oel nicht lange reichen, aber durch ein Wunder genügte es für die Erhaltung des Tempellichtes volle acht Tage. Daher die Lichtfeier, die acht Tage dauert.

Im Laufe der Zeit blieb nur diese Erinnerung, alles andere fiel der Vergessenheit anheim. Unter den unzähligen traurigen Ereignissen der jüdischen Geschichte ist dies vielleicht das traurigste. Ein Volk, dem das ruhmreichste Blatt seiner Geschichte abhanden gekommen ist! — Das Chanukkafest blieb wohl in der Judenheit, es verlor jedoch alle Bedeutung für die nationale Geschichte. Dass es nicht an Innigkeit verlor, dass die Chanukkatage im wahren Sinne des Wortes Festtage der Judenheit wurden, dies lässt sich durch die Eigenart des jüdischen Volkscharakters erklären. In keinem andern Volke der Welt wusste man so ernst fröhlich zu sein; die Freude artete selbst bei den niedrigsten Volksschichten nicht in Ausgelassenheit aus. Man belustigte sich kaum, — man war fröhlich.

Das Chanukkafest hatte seine nationale und geschichtliche Bedeutung eingebüsst, aber dafür wurde es ein Volksfest. In den acht Tagen vom 25. Kislew an, also gegen Ende des Herbstes, um die Zeit, wo der Winter in seiner vollen Strenge einsetzt, war man im Ghetto fröhlich.

Und nicht nur das — man durfte in diesen Tagen lustig sein, ohne die Rüge der religiösen Behörde zu fürchten. In früheren Jahrhunderten lag eine religiöse Melancholie über der Judenheit, und das bischen Lebensfreude, die ihr die nicht aufhören wollenden Plackereien nicht raubten, wurde den Bewohnern des Ghetto durch die Sittenstrenge und die griesgrämigen „Parnassim“ genommen. Am Chanukka wurde gestattet, ein wenig die Sorgen und den tiefen Lebensernst bei Seite zu schieben.

Der Hausvater kam abends gehobenen Mutes und freudig erregt nach Hause. Denn in der Synagoge hatte ein feierlicher Gottesdienst, in der Regel unter Musikbegleitung, stattgefunden. Es war dies die einzige Feier in der Synagoge, die alljährlich mit Musikbegleitung abgehalten worden ist. Zu Hause wurden die Chanukkalichter angezündet und religiöse Lieder, die eine gewisse Zuversicht in die Zukunft ausdrückten, gesungen. Alle Hausgenossen sangen fröhlich mit, und man schwelgte in der Erinnerung, dass vor vielen Jahrhunderten die bösen Judenhasser ihre verdiente Strafe erhalten haben. Der jüdische Stamm spielte in der Geschichte fast immer die Rolle des Amboss, und man konnte sich nicht genug darüber freuen, dass er einmal wenigstens den Hammer spielte und tüchtig dreinschlug.

Und nun war der religiösen Weihe Genüge gethan. Man sollte an diesem Abend auch lustig sein, was man so im Ghetto lustig sein nannte. Auch nicht einen Augenblick wich die festlich-ernste Stimmung. Das Mahl, das am Chanukka-Abend eingenommen zu werden pflegte, hielt so ziemlich die Mitte zwischen Wochentags- und Festmahlzeit. Es zeichnete sich durch ein besonderes Gericht aus, durch die sogenannten „Latkes“, die vorzüglich schmeckten. Ich bedauere, in der Kochkunst nicht die genügende Fertigkeit zu besitzen, um den verehrten Leserinnen ein Rezept dieser Speisen liefern zu können. „Latkes“ am Chanukka-Abend war so etwas, was die Fische am Freitag Abend, oder das berühmte „Schalet“ am Sonnabend bedeutete. Freilich ist letzteres durch Heinrich Heine berühmt geworden, während die „Latkes“ im Stillen blühten, aber ihrem Wohlgeschmack that der Mangel an Unsterblichkeit keinen Abbruch.

Nach der Mahlzeit wurde — gespielt. Es war etwas Seltenes in den jüdischen Familien, dass Karten- oder Brettspiele vorgenommen wurden.

Freilich in Italien und im Orient grassierte seit jeher die Spielwut, gegen die oft seitens der Gemeindebehörden mit strengen Maassregeln eingeschritten werden musste. In Deutschland und Polen dagegen war das Kartenspiel bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts streng verpönt. Vom Brettspiel bildete nur das Schach, dieses vornehme und geistig anregende Königsspiel, eine Ausnahme. Am Chanukka-Abend spielte man „Dame“ oder „Ziege und Wolf“. Und da man des seltenen Gebrauches wegen kein Damenspiel zu Hause hatte, so nahm der Hausvater einen Bogen Papier und grenzte mit dem Lineal die Felder ab; für die nötigen Figuren nahm man — Bohnen. So unterhielt man sich mit dem Nachbar oder dem zu Besuch kommenden Freund. Die jüngeren Mitglieder der Familie spielten Karten, aber beileibe keine wirklichen, sondern hebräische! Es waren dies 22 weisse Kartenblättchen, auf denen das hebräische Alphabet aufgezeichnet war. Der erste und der letzte Buchstabe waren die grössten Trümpfe, ferner bildeten der fünfte, der zehnte, der fünfzehnte und der zwanzigste Buchstabe die gewöhnlichen Trümpfe. So spielte man, und man gewann oder verlor einige Heller.

Die Jugend hatte an diesem Abend ihre besondere Freude; Chanukka war überhaupt das Fest der Jugend. Man wurde an diesem Tage wohl nicht „bescheert“, wie es heute heisst, aber doch beschenkt, und zwar merkwürdigerweise immer mit Geld. Kinder wohlhabender Familien sammelten am Chanukka-Abend so manches Sümmchen von den Eltern und Familienangehörigen ein. Das Geld wurde oft zu wohlthätigen Zwecken verwendet, da sich die jüdische Jugend sehr früh im Wohlthun zu üben pflegte. Indes mussten die lieben Jungen auch ihren Zeitvertreib haben, und den fanden sie im — „Dredel“. Wer von den Lesern oder Leserinnen hat je ein „Dredel“ gesehen? Wird ein solches in irgend einem Kunstmuseum aufbewahrt? Verdient hätte es dies gewiss, denn Jahrhunderte hindurch bildete es das grösste Ergötzen der jüdischen Jugend im Ghetto.

Es war dies ein zierliches Ding, aus Blei kunstvoll gegossen. Eine Art Häuschen, nach unten zugespitzt, oben auf dem flachen Dache mit einer Stange in der Mitte versehen. An den äusseren Wänden waren die hebräischen Buchstaben angebracht: n. g. h. sch., deren Bedeutung strittig ist. Es sollen dies vielleicht die Anfangsbuchstaben des Satzes sein: „Nes gadol haja scham“ (damals gab es ein grosses Wunder). Genug, man stellte dies Bleihäuschen auf die Spitze und nahm die Stange zwischen die Finger und drehte. Das Häuschen drehte sich einigemal, nachdem es losgelassen worden war, und fiel dann um; es kam nun darauf an, auf welchen Buchstaben es gefallen war. Man sieht, es handelte sich um eine Art Würfelspiel, dem die Jungen fröhnten.

Das Chanukkafest war im wahren Sinne des Wortes ein Lichtfest für die Juden in früheren Zeiten. Wer nicht selbst in seiner Jugendzeit das Fest in einem frommen jüdischen Haus gefeiert, kann sich die festliche Stimmung am Chanukka kaum vorstellen. Man bedenke, die jüdischen Feiertage legen sonst so viele Beschränkungen auf, die am Chanukka wegfielen. An keinem „gebotenen“ Feiertage konnte man sich früher so gut „amüsieren“.

Diese Art von Chanukkafeier ist freilich geschwunden, aber erfreulicherweise nimmt dieses Fest in der modernen Judenheit immer mehr einen ernsten, nationalen Charakter an; es kommt somit zu seinem Rechte. Das Chanukkafest wird hoffentlich bald das sein, was es von jeher hätte sein sollen: ein Tag der glorreichen Erinnerung und des hoffnungsreichen Ausblickes in die Zukunft. Man klagt heutzutage so viel über den Rückgang des Judentums, und doch ist die Chanukkafeier erst in den letzten fünfzehn Jahren „ein Tag der Freude“, ein wahres Fest in Israel geworden. Das darf uns als ein Beweis dafür gelten, dass das Judentum noch immer lebenskräftig ist und bleiben wird. Mag manches fallen, das wir als unwesentlich, als die Schale betrachten dürfen, das Judentum als religiös-sittlicher und nationaler Kern wird erhalten bleiben. Es hat die Hellenisirungswut mit allen ihren Schrecken überlebt und wird auch die Nivellierungswut unseres blasirten Zeitalters überleben. In diesem Sinne feiern wir jetzt Chanukka — dieses Licht erhellt die ganze Judenheit in der Diaspora!