Historische Chanukkageschichten III: Was ist Chanukka?

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Die dritte historische Chanukka-Geschichte stammt von Mendele Mocher-Sforim („Mendele, der Buchhändler“), einer der wichtigsten Jiddischisten und Begründer der modernen jiddischen Literatur. Geboren 1835 mit bürgerlichem Namen Schalom Jakow Abramowitsch in Minsk, lebte viele Jahrzehnte in Odessa, einem bedeutenden Zentrum der jüdischen Aufklärung Haskala, wo er 1917 starb. Die deutsche Übersetzung dieser Chanukka-Geschichte erschien in den „Neuen jüdischen Monatsheften“, eine nationalliberale Zeitschrift, die zwischen 1916 und 1920 erschien und sich explizit auch an ein nichtjüdisches Publikum wandte, um der „Unkenntnis in jüdischen Dingen entgegenzuarbeiten“…

Von Mendele Mocher-Sforim
Neue jüdische Monatshefte, Heft 3 v. 10.11.1918

„Ein großes Wunder ist mir am Chanukkah geschehen.“ „Warum sagst du ‚mir‘ Schmuel, warum nicht ‚uns‘? Ist es denn nicht ebenso mein Wunder wie dein?“

„Ja, lieber Ignatz, ein großes Wunder ist mir am Chanukkah geschehen, m i r und nicht dir!“

„Geh einer und streite mit einem so alten Bejßmedresch-Juden! Ihr seid ja der Ansicht, daß wir modernen Juden gar keine Juden sind, und daß nur diejenigen, die die Bänke im Bejßmedresch herumdrücken, einen Vertrag mit dem Schöpfer der Welt, eine Art Privileg auf Jüdischkeit haben.“

„Das, was du da sagst, Ignatz, hat damit, was ich dir erzählen will, nicht das Geringste, zu tun. Auch ist heute nicht der richtige Tag für solche Streitigkeiten. Heute gibt es wichtigere Arbeit: Karten spielen, Latkes essen und sich mit seinen Freunden unterhalten. Dazu habe ich dich ja auch eingeladen, Bruder. Da aber die anderen Gäste noch nicht gekommen sind und du diese schwierige Frage berührt hast, muß ich dir eine erschöpfende Antwort geben. Versteh mich doch: wir alle, die Frommen und die Aufgeklärten, die Gottesfürchtigen und die Freigeistigen sind Juden. Ich z. B. verbrachte meine ganze Kindheit in den ‚Gezeiten des Herrn‘, in Chedarim und Jeschiwes, und du besuchtest die städtische Volksschule und hattest gar keine Ahnung davon, was das ‚Joch der Thora‘ ist. Und doch sind wir alle beide Juden. Worin liegt aber der Unterschied? Bei mir sitzt die Jüdischkeit tief im Herzen, im Gehirn und in allen 248 Gliedern; unsereiner hat für jüdische Bräuche einen ganz eigenen Geschmack; uns liegt es in den Knochen, ganz gleich, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Und wenn wir auch vom Wege abirren, wenn wir uns sogar, Gott behüte, taufen lassen, den Geschmack für Jüdischkeit können wir niemals vergessen. Aber Menschen deines Schlages, die sich niemals mit dem Dienst und der Lehre befaßten, reuige Sünder, die das Joch des Judentums von Kind auf nicht kannten,–solche Menschen können niemals den richtigen Geschmack für einen jüdischen Brauch, für ein jüdisches Gesotz haben, und wenn sie noch so fromm und brav werden und alle Gebote mit der größten Inbrunst erfüllen.“

„Hör auf, Schmuel! So reden doch nur die alten Batlonim im Bejßmedresch hinter dem Ofen. Es ist leeres Geschwätz, ein Räsonnieren ohne Sinn und Zweck. So etwas muß man doch erst beweisen…“

„Beweisen? Sehr gerne! Ich kann es mit zahllosen Beispielen und Tatsachen beweisen…“

„Guten Abend! Guten Abend! Was seid ihr so aufgeregt, was ist’s für ein Lärm? Ihr habt euch wohl so sehr in die Kartenwissenschaft vertieft, daß ihr gar nicht gehört habt, wie wir eingetreten sind. Wir haben euch ja schon zweimal guten Abend gesagt!“

„Gesegnet sei, der da kommt, Panje Todres, Panje Sorach, Panje Gimpel, Panje . . .“

„Halt! Am Chanukkah gibt es keinen Panje, am Chanukkah ist es üblich, Reb Todres, Reb Gimpel usw. zu sagen. Aber das ist Nebensache. Es interessiert uns bei weitem mehr, worüber Juden mit solchem Eifer streiten. Vielleicht haben wir euch unterbrochen, Reb Schmuel? Laßt euch nicht stören. Und wenn es ein Geheimnis ist, so wollen wir ins Eßzimmer gehen und der Hausfrau guten Tag sagen.“

„Gott behüte! Es sind gar keine Geheimnisse, womit wir uns hier befassen. Nehmt Platz, Juden, und hört zu. Ich fing eben zu erzählen an, was für ein Wunder mir an Chanukkah geschehen ist.“

„Gut! Erzählt, erzählt, wir wollen gerne zuhören. Zieht es aber nicht allzusehr in die Länge. Heut ist ja Chanukkah auf der Welt, und Juden müssen Karten spielen. Jeder Augenblick ist einen Dukaten wert …“

„Die Geschichte ist gar nicht lang. Das Wichtigste steckt eigentlich nicht in der Geschichte selbst, sondern in den Folgen, die sie für mich später hatte. Darum ist es bei mir Sitte, sie alljährlich am Chanukkah zu erzählen.

„Damals, — vielleicht ist es auch heute noch so —, damals gab es für die jüdischen Jungen, die vom frühen Morgen bis neun Uhr abends im Cheder wie die Hühner im Hühnerstall eingesperrt sind, keine schönere Zeit als die acht Tage von Chanukkah. Das ist doch wirklich keine Kleinigkeit! Der Unterricht fällt aus, man bekommt von Vater und Mutter, von Onkeln und Tanten, von Großvätern und Großmüttern Chanukkahgeld, man spielt, macht allerhand Tauschgeschäfte und fabriziert aus halben Kartoffeln Chanukkahlampen für den Vater, — kurz und gut, man lebt wie Gott in Odessa. Damals, ich kann mich noch gut erinnern, war ich am achten Chanukkahtage in einer besonders gehobenen Stimmung. Die acht Chanukkahlichtchen, die auf der Fensterbank neben der Türe brannten, erschienen mir als die Flammen funkelten wie acht strahlende Sterne. In der Stube ist es hell und warm, die Mutter läßt Gänseschmalz aus, und der Duft der Grieben und Zwiebeln kitzelt die Nase. Der Vater sitzt mit seinen Gästen am Tisch und erörtert Fragen der Thora. Die Leute reden mit allen Gliedern, fuchteln mit den Händen, drehen die Daumen und machen großen Lärm. Es geht echt jüdisch zu . . . Und worüber spricht man? Jeden Augenblick hört man dieselbe Frage: ‚Was ist Chanukkah?‘ Die Leute legen die Stirnen in Falten, schneiden Grimassen und beißen die Bartenden. Es ist klar, daß keiner von ihnen diese schwierige Frage zu beantworten weiß. Einer von der Gesellschaft steht auf, zitiert etwas aus dem Talmud, vertieft sich in das Thema, findet immer neue Auslegungen, predigt mit großer Begeisterung und zeigt seinen Scharfsinn. Von allen den schönen und verwickelten Geschichten verstand ich nur die eine: ‚Heiden hatten den ganzen Vorrat an Baumöl, der sich im Tempel befand, verunreinigt, und als die Hasmonäer sie vertrieben und besiegt hatten, fand man nur einen einzigen Krug Öl, der mit dem Siegel des Hohenpriesters versiegelt war. Der Vorrat konnte nur für einen Tag reichen. Es geschah aber ein Wunder, und das Öl reichte für volle acht Tage.‘ Da ich an diesem Abend sehr aufgeregt war und da das Chanukkahfest zu meinen liebsten Festen gehört, platzte ich heraus, obwohl ich ein kleiner dummer Junge war, in aller Einfalt und ohne Furcht vor dem Vater und den fremden Männern mit langen Barten:

‚Was ist denn dabei? Daß der eine Krug für acht Tage reichte, ist gar kein Wunder. Wenn er für ein ganzes Jahr gereicht hätte, und das Chanukkahfest ein ganzes Jahr dauern würde, das wäre ein Wunder! Dann wäre man den Melamed mit seinen Ohrfeigen und Genickstößen für immer los … ‚

Ich hatte diese Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als mein Vater mir eine mächtige, starke und schreckliche Ohrfeige versetzte.

‚Esel! Du denkst nur an Faulenzen. Das könnte dir so passen, den ganzen Tag wie ein Christenjunge müßig herumzulaufen! Du willst wohl als Goj aufwachsen?‘ So schrie mein Vater, und ich hätte sicher noch einen zweiten Schlag ins Gesicht bekommen, aber da geschah mir das Wunder: bei der ersten Ohrfeige fiel mir die Mütze vom Kopfe. Bevor ich mich bücken konnte, um sie aufzuheben, mußte ich mir doch den bloßen Kopf mit dem Schoß meines Rockes zudecken. Inzwischen legte sich aber der Zorn meines Vaters . . . Was lächelst du, Ignatz, du machst dich wohl über mich lustig?'“

„Im Gegenteil! Jetzt sehe ich ein, wie ungerecht ich mit allen meinen Einwänden war, und darum lächele ich.“

„Glaub‘ es mir, mein lieber Ignatz: du bist immer ungerecht, wenn du mir solche Dinge vorwirfst. Und weißt du, warum? Weil du ein reuiger Sünder bist; in jedem reuigen Sünder steckt aber ein Fanatiker, der an den andern stets etwas auszusetzen hat und außer sich vor Freude ist, wenn er an seinem Nächsten, und sei es auch sein Vater, sein Großvater oder sonst jemand von der älteren Generation, einen Makel findet. Niemand gerät wegen jeder Kleinigkeit in solche Aufregung, niemand ist so unduldsam wie ein reuiger Sünder. Und weil ihm jede Nachsicht fremd ist, wird er von allen gemieden, und niemand will mit ihm etwas zu tun haben.“

„Es würde sich aber gar nicht lohnen,“ fuhr Schmuel fort, „jene Ohrfeige zu erwähnen, wenn sie in mir nicht die große Veränderung verursacht und mich nicht auf neue Gedanken gebracht hätte.“

„Laßt doch euren Streit für ein anderes Mal,“ mischten sich die anderen Gäste ein, „und erzählt die Geschichte schneller zu Ende.“

„Kurz, die Ohrfeige, die ich damals vom Vater bekam, blieb nicht ohne Wirkung. Das ganze Gespräch über Chanukkah, der Zorn des Vaters und die unerwartete Ohrfeige, — alles prägte sich tief in meinem Gedächtnisse ein und machte es, daß ich mich seit meiner frühesten Kindheit unausgesetzt mit der Frage beschäftigte: ‚Was ist Chanukkah?‘ Anfangs wußte ich nur, wie alle Jungen, daß man am Chanukkah ins Morgengebet den Absatz ‚Al hanissim‘ einfügt und daß darin folgendes steht: ‚In den Tagen des Mattathias, des Sohnes Jochanans, des Hasmonäers und seiner Söhne, der Priester, erhob sich das böse Reich Jowon gegen das Volk Israel, um es zu zwingen, der heiligen Thora untreu zu werden. Und der Heilige, gepriesen sei Er, tat ein Wunder und überlieferte die Starken in die Hände der Schwachen, die Bösen in die Hände der Frommen, die Mutwilligen in die Hände der Thoratreuen. Dann säuberte man den Tempel, zündete Lichter an und führte die acht Tage von Chanukkah ein.‘ Dieses legte ich mir so aus: die Starken sind die Jewanim, die Schwachen aber — Mattathias mit seinen Söhnen und die übrigen frommen Juden, die Bet- und Lernbrüder, wie die heutigen Melamdim und Rabbiner, die den ganzen Tag im Bejßmedresch hocken und die Thora studieren. Die Gegenpartei zog in den Kampf wohl mit Waffen und Streitrossen, wir aber mit Buße, Gebet und milden Werken. Daß es aber einen Judas Makkabäer und seine Brüder gegeben hat, und daß sie tapfere Helden gewesen, das hatte ich damals natürlich noch nicht gewußt, denn mein Melamed erzählte mir davon niemals ein Wort. Und als ich später hörte, wie bei uns zu Hause wieder einmal die, Frage ‚Was ist Chanukkah?‘ erörtert wurde, sagte ich mir, daß die Geschichte, die im Gebet ‚Al hanissim‘ erzählt wird, nicht ganz klar ist und die Frage jedenfalls nicht erschöpft.

Die Geschichte von dem Krug Öl, das für nur einen Tag reichen konnte und doch für acht Tage reichte, konnte ich unmöglich gelten lassen: wenn es sich wirklich so verhielt, so dauerte das Wunder doch nur sieben Tage und nicht acht; warum feiern wir aber acht Tage? Und ich zerbrach mir solange den Kopf, bis mich der böse Trieb auf den Gedanken brachte, in Bücher über jüdische Geschichte hineinzuschauen. Da gingen mir erst die Augen auf, und ich fand Antwort auf meine Frage. Jetzt, meine Herren, jetzt weiß ich, was Chanukkah ist!“

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