Die Deggendorfer Gnad – Entschuldung und Wallfahrts-Marketing

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Wie ein Verbrechen religiös verbrämt und 650 Jahre vermarktet wurde, Teil II: Ereignis, Folgen, Entschuldung und Wallfahrts-Marketing…

Von S. Michael Westerholz, Deggenau

„Den Christen war es durch Kirchengesetz verboten, Gelöd gegen Zinsen zu leihen. An dieses Gesetz waren aber die Juden nicht gebunden; sie wurden nun als Geldgeber aufgesucht. Sie nützten die Lage vielfach zu ihren Gunsten aus. Ihr Zinsgebaren, das in sehr vielen Fällen an Wucher grenzte, erregte allgemein den Haß der Massen. Es bildete sich eine Stimmung, die die Geister so verwirrte, daß der Jude als Urheber jeglichen Unglücks verfolgt wurde…“

Diese Sätze sind dem „Deggendorfer Gnadenbüchlein“ entnommen, das im Innentitel als

Geschichtliche Nachrichten
über die

hl. Hostien in der
Grabkirche

z u D e g g e n d o r f

bezeichnet wird. Es handelt sich um das im I. Teil dieser Dokumentation erwähnte Büchlein, welches der spätere Mettener Benediktinerabt Benedict Braunmüller OSB 1879 veröffentlicht hatte. Der Archivar der Stadt Deggendorf und Lehrer am Gymnasium der Abtei Metten, Pater Dr. Wilhelm Fink OSB, hatte es zwar bearbeitet, die ihm wohlbekannten Wahrheiten über die Deggendorfer Ablässe (überwiegend seit 1425 widerrufen!) und „Wunderhostien“ (in Wahrheit nie vorhanden, die zur Verehrung gezeigten allesamt ersetzt!) aber verschwiegen. Er hatte auch die antisemitischen Texte nicht gelöscht und das hetzerische Büchlein 1928, 1953 und 1960 erneut drucken lassen – ein schandbares Werk, dessen Titelbild der Deggendorfer GNAD-Monstranz eine Lüge vertiefte und dessen Bilder eine besonders üble Form des Antisemitismus verbreiteten, der die Texte eine verschlimmernde Wirkung gaben. 15 Jahre nach dem Holocaust zwang das mittlerweile in jedermanns Wissen verankerte Verbrechen des staatlich beschlossenen, im industriellen Maßstab verwirklichten Mordes an sechs Millionen Juden die katholische Kirche, das Büchlein endlich aus dem Handel zu ziehen und weitere Verkäufe und Neuauflagen zu untersagen.

Das Ereignis, das all den im I. Teil genannten Imponderabilien als Basis diente, war, wie berichtet, der Mord an den Juden Deggendorfs am 30. September 1337 oder 1338. Wie viele Menschen den Verbrechern zum Opfer gefallen sind, ist unbekannt, das factum aber unstreitig. Denn am 14. Oktober 1338 siegelte „Wir, Heinrich, von Gottes Gnaden Pfalzgraf zu Rhein und Herzog in Bayern etc.“ eine Urkunde, in der er den Deggendorfern verzieh, dass sie „unsere Juden verbrannt und getötet“ hatten. Und er ließ ihnen sowohl die bare, als auch die materielle Beute und strich auch jene Schulden, die zu zahlen noch fällig gewesen wären. Viel schlimmer – der Herzog versprach für sich und gebot seinen Erben und Beamten,

>> dass irgendwelche Schulden der Deggendorfer bei den ermordeten Juden niemals eingetrieben würden und niemand etwaig noch vorhandene Schuldbriefe und Schuldurkunden den Deggendorfer je präsentieren dürfe;
>> dass die Mörder weder an Leib, noch an Gut je büssen müssen;
>> und dass niemand die Mörder je auf ihre Tat ansprechen oder gar behelligen dürfe.

Die Urkunde lässt darauf schließen,
> dass des Herzogs Stadtrichter Konrad von Freyberg an der Mordtat beteiligt, wenn nicht der Anführer der Mörder war;
> und dass nicht ein einziger Jude dem Feuertod entgangen war.

Zu den in Deggendorf einzig sichtbaren Folgen gehörte der Bau der riesigen gotischen Hallenkirche unter dem Patronat der Apostel Petrus und Paulus. Weitaus schlimmere Folgen zeigten sich im blitzschnellen Fortgang der Judenmorde nach den fast zeitgleichen Verbrechen in Deggendorf und im benachbarten Straubing: In dreizehn Städten, fünf Märkten und drei Dörfern tobten sich der Mob und ihre Anstifter im heutigen Nieder-, Oberbayern und im nunmehr österreichischen Innviertel aus – dort in Braunau! Und es ist die unbestreitbare Grundwahrheit beachtlich, dass der Herzog, den der Mord an „seinen“ Juden in Landshut erheblich reicher gemacht hatte, zumal er ja auch selbst verschuldet gewesen war, in seiner Entschuldungs-Urkunde, in der die Deggendorfer entschuldigte, keine noch so versteckte Andeutung über angeblich geschändete Hostien macht. Unklar bleibt aber die Reaktion der Kirche und ihrer lokalen und regionalen Geistlichkeit: Geißelten sie die Sünde des Mordes? War beim unverzüglich beginnenden Bau der Kirche wirklich von Sühne die Rede? Pater Romuald Bauerreiß OSB weist das in seinem Buch PIE JESU (über die Verehrung der Eucharistie = der vom Priester vollzogenen Verwandlung der Hostien und des Messweines zu Fleisch und Blut Jesu!) zurück: Nichts habe dem Menschen des Mittelalters ferner gelegen als Reue und Sühne.

Die neue Kirche konnte zwar ab 1360 zu Gottesdiensten genutzt werden, war aber noch nicht fertig. Offenbar hatten sich die Spendeneinnahmen verringert oder waren die Kosten davongelaufen – jedenfalls musste neuerlich Schwung genommen werden. Vielleicht dazu meißelte ein unbekannter Steinmetz vor 1388 in einen der Pfeiler historische Aussagen ein:

+ ANNO DOMI M CCC XXXVII
DES NACHSDE TAGS
NACH SAND MICHELS TAG
WVRDEN DIE IVDEN ERSLAGEN
DI STAT SIE ANZVNDEN
DO BART GOTES LAICHENAM FVNDEN
DAZ SAHE FRAVEN VND MAN
DO HVAB MAN DAZ GOTSHAVS ZE BAVN AN

Übertragen ins heutige Deutsch: Im Jahre des Herrn 1337, am Tag nach St. Michael (Anm.: also am 30. September!) wurden die Juden erschlagen. Sie hatten die Stadt angezündet (Anm.: aber nun, nach ihrer Ermordnung!) wurde entdeckt, dass sie gesegnete Hostien in ihren Häusern/Wohnungen versteckt hatten. Von diesen Funden überzeugten sich Männer und Frauen. Da begann man mit dem Bau des Gotteshauses!

Zwei Lügen finden sich in dieser Inschrift, die sich bis zu Aufhebung der GNAD im Jahre 1992 hielten. Jener Wallfahrt „zu den heiligen Hostien (von 1337/38!)“ nämlich, die sich aus dem tatsächlichen Mord und der angeblichen Hostienschändung entwickelt hatte: Dass Deggendorfs Juden in der Stadt Feuer gelegt hätten. Und dass sie Hostien in ihren Häusern/Wohnungen versteckt hätten. Keine Rede von Schändungen mit Schusterahle, Dornen, im Feuer und mit Gift. Dass die Deggendorfer „ihre“ bzw. des Herzogs Juden überfallen hatten, denen er für viel Geld seinen Schutz versprochen hatte, dass sie ihre Schulden auf diese mörderische Weise getilgt hatten und der Herzog ihnen verzieh – kein Wort davon. Aber einmal losgetreten, was zu einem fortdauernden, die Stadt und ihre Bürger bereichernden, religiös verbrämten Ereignis mit hohen Gewinnerwartungen werden sollte, setzt nach diesem Spruch jene Werbung ein, die bis vor der Aufhebung der GNAD Kampagnen-Charakter annahm. Nicht nur, dass Ablassurkunden mit päpstlichen Unterschriften und jenen zahlreicher Kardinäle und Bischöfe herangeschleppt wurden: Noch im 18. Jahrhundert gelang es zum Beispiel, die in gemeinen Großbildern verewigte Lügengeschichte auch in der Pfarrkirche von Grassau am Chiemsee zu etablieren. Stolz zeigte man dort seine Tafeln, „welche die wundervolle Geschichte des allerheiligsten Sacramentes zu Deggendorf“ darstellen. Zur Vermehrung der Wallfahrerzahlen trugen auch Besuche von Fürsten und Kirchenhierarchen bei, und selbst freund- und feindliche Heerführer im Dreißigjährigen, im Spanischen und im Österreichischen Erbfolgekrieg verlangten bei ihren durchweg schädlichen Aufenthalten in der Stadt die Hostien zu sehen, die freilich meist rechtzeitig mit allen Kirchenschätzen nach Altötting oder Burghausen in Sicherheit gebracht order irgendwo in der Kirche eingemauert worden waren. Selbst intellektuelle Gegner der GNAD, wie der zeitweise im Pfarrhof Seerbach in der Deggendorfer Nachbarschaft weilende Dichter August von Platen, bescherten der Wallfahrt durch ihre Negativwerbung neugierige Teilnehmer: „Ich bedaure das Volk, dem solche Speise geboten wird“, schrieb von Platen.

In die Gegenwartssprache übertragen, muss den Verantwortlichen aus lokaler, bayerischer und geistlicher Obrigkeit ein unglaublich erfolgreiches MARKETING bestätigt werden. Ein mörderisches allerdings – denn ziemlich genau 600 Jahre nach dem Mord an den Deggendorfer und darauf folgend an zahlreichen Juden in altbayerischen Regionen mündete die glorifizierte Mordtat von 1337/38 in den Holocaust. Und so verbreitete sich die angebliche Heils- und Mirakelbotschaft, die die DEGGENDORFER GNAD zu einer der großen Massenwallfahrten in Altbayern machte:

1388 spätestens war die Lüge von der Hostienschändung in der Welt: Einerseits durch die Inschrift an einem der Kirchenpfeiler (s. o.), andererseits in geschichtlichen Aufzeichnungen vor allem in bayerischen Klöstern. Die meisten dieser Annalen sprechen von Heuschreckenschwärmen und schwersten Schäden sowohl für die bäuerliche Bevölkerung, die ihre Ernten verlor, als auch für deren Herrschaften, die keine Zehentleistungen eintreiben konnten – es war ja nichts vorhanden! Das entschuldigt die Verbrechen nicht, erklärt sie aber als Gelegenheit, sich am jüdischen Vermögen schadlos zu halten.

Annalen des Klosters Windberg unweit Deggendorfs:
„Im Jahre eintausend dreihundert dreimal zehn und acht
Wurde des jüdische Volk dieser Zeit umgebracht,
Als viele Heuschrecken durch die Lande flogen.“

Annalen des Klosters Weihenstephan in der Region Freising/Oberbayern:
„Im Jahr des Herrn 1338 sind anscheinend in den Städten Niederbayerns ohne Zustimmung Herzog Heinrichs alle Juden, die in ihnen wohnten, wegen ihrer Ketzerei, weil sie Gott gekreuzigt haben, verbrannt worden. Aber zuletzt befahl Herzog Heinrich, davon in Kenntnis gesetzt, alle Juden in Landshut zu verbrennen und zu töten, so dass nur wenige entkamen.“

Das jüdische Martyrologium des Mainer Memorbuches:
„Dieses sind die Namen der Blutschuld-Städte, in welchen die Juden getötet wurden (…) in Bayern Deggendorf (und die bereits erwähnten 21 weiteren Orte bis Cham und Braunau – letzteres der Geburtsort Adolf Hitlers im nunmehr österreichischen Städtchen an Inn unmittelbar an der bayerischen Grenze!).“

Abt Johann (+ 1346) von Vikering bei Klagenfurt berichtet in seinem BUCH GEWISSER GESCHICHTEN über die Heuschreckenplage und über Versuche vor allem gewitzter Bauern, deren drastische Folgen abzuwenden. Er schreibt dann: „Es schloss sich eine Verfolgung der Juden an, die in verschiedenen Gegenden (…) um viele Güter gebracht wurden, entweder ertränkt oder verbrannt oder aber ihrer Eingeweide beraubt jämmerlich zugrunde gingen und viele arme Adelige und Bürger durch vernichtete (Schuld-) Urkunden reich machten (…).“ In jener dialektischen Logik, mit der Antisemiten bis heute gerne argumentieren, hatten die Juden ihre Beraubung und Ermordung allerdings auch in diesen Fällen selbst verschuldet, „in dem sie sagten: Sein Blut komme über uns und so weiter, und sich so selbst das Bekenntnis zum Tode Christi laut verkündeten…“

Ähnlich berichtet eine Chronik der Herzöge Bayerns um 1371:
„Im Jahr des Herrn 1338 um das Fest der heiligen Märtyrerin Afra (Anm.: am 7. August!) erschienen in Bayern unzählige Heuschrecken, die aus dem Osten kamen (…) Im selben Jahr entstand der Verdacht und das überaus heftige Gerede oder vielmehr die üble Nachrede über die Juden, dass sie in ihren Synagogen die christliche Eucharistie verspottet und unter anderen Entehrungen mit spitzen Dornen durchbohrt hätten, bis Blut herausfloß. Deshalb sind sie um das Fest des heiligen Michael (Anm.: 29. September!) in allen Städten ganz Bayerns und Österreichs – ausgenommen Regensburg und Wien – vom Volk der Armen jämmerlich und grausam getötet worden.“

Um 1388 entstand eine Sammlung von Gründungsgeschichten der Klöster Bayerns:
„Im Jahre 1338 sind die Juden in Straubing und Deggendorf verbrannt worden. Im selben Jahr waren viele Heuschrecken durch das ganze Land Bayern geflogen (…). Im Jahre 1337 wurde der Leib des Herrrn in Deggendorf gefunden, den ebendort die Juden gemartert haben, die aus diesem Grund verbrannt worden waren im Jahre 1338.“

An diesen Aufschreibungen orientierten sich hernach zahlreiche Schreiber, so um 1410 jener einer KURZE(n) CHRONIK BAYERNS, der Historienschreiber Andreas von Regensburg, Kanoniker Ulrich Onsorg aus Regenburg, der Verfasser bayerischer Chroniken, Veit Arnpeck, der Passauer Domherr Johannes Staindel und ein Regensburger Anonymus – alle tätig im 15. und in den frühen Jahren des 16. Jahrhunderts.

In dieser Zeit entstand auch das erste Gedicht über die Deggendorfer Hostien: In 152 Zeilen knüpft es ein gewaltiges Netz aus falschen Anschuldigungen gegen die Juden, das von Deggendorfer Pfarrern und Laien bis 1992 zusammengehalten wurde. Regensburgs Bischof Rudolf Graber hatte indessen unter dem internationalen Druck gegen die GNAD schon ein Vierteljahrhundert zuvor mit dem neuen Namen der GNAD, nämlich der nunmehrigen Eucharistischen Wallfahrt der Diözese Regensburg Abstand zum antisemitischen Wallfahrtsereignis gewinnen wollen. Er war aber von den lokalen Verantwortlichen gnadenlos ausgebremst worden, wogegen er sich freilich kaum zur Wehr setzte. Das Gedicht spricht vom „großen Mord“, aber nicht dem nachgewiesenen an den Juden, sondern als deren Verbrechen an den Hostien. Es beschuldigt „ain cristenliche fraw“, Juden Hostien verkauft zu haben. Es erwähnt die angeblichen Schändungstaten, ferner, dass unter diesen Taten Jesus in Kindleinsgröße erschienen sei. 50 Bürger hätten sich deshalb unter Führung des herzoglichen Pflegers Hartmann von Degenberg verschworen, den Juden den Garaus zu machen – dieser Hinweis auf den hohen Beamten mit dem Dienstsitz Burg Natternberg war falsch: Zur Zeit des Judenmordes in Deggendorf amtierte dort kein Pfleger. Einen „Hartmann von Degenberg“ hat es nicht gegeben, sondern einen Hartwich. Und die Urkunde, in der der Herzog bald nach dem Mord „seinen“ Deggendorfern verzieh, nennt als deren Anführer seinen Stadtrichter Konrad von Freyberg (vergl. I. Teil!). Auch die Gottesmutter Maria tritt in dem Gedicht auf, nennt die Juden „falsch“ und „blind“ – dabei war sie doch selbst eine Jüdin!. Eine dezidierte Aussage im Gedicht über „zahlreiche Opfer“ einer jüdischen Aktion zur Vergiftung von Brunnen, die in der Stadt und im Landkreis gestorben seien, entlarven die Geschichte als Märchen.

Ein an das oben erwähnte erste Gedicht angelehntes erschien 1582 in der Straubinger Druckerei seines Verfassers Andre Summer. Jetzt waren es 150 Zeilen, in denen die Juden niedergemacht wurden – auch dieses Gedicht verbreitete sich rasch und weit: Denn im Gegensatz zu der Meinung, die Menschen jener Zeit seien wenig mobil gewesen, gab es durch die Floß- und Schiffahrt auf Isar und Donau, gut vernetzte Kaufleute in der Stadt und den Handelsverkehr auf den überörtlichen Straßen und Säumerwegen zum Beispiel ins quirlige Böhmen Kontakte in die weite – damals bekannte – Welt und bald schon ins neuentdeckte Amerika. Da verwundert es nicht, dass die Schedelsche Weltchronik im Jahre 1493 schrieb: „Das ellend iamerig vnd trostlose volck der ivden hat nach der gepvrt cristi M. CCC. XXXVII. (Anm.. 1337!) iar zv Deckendorff an der thonaw im bayerland“ Hostien gestohlen und geschändet. Darum seien die Juden „mit gepürlicher peen“ – nämlich nach harter Folter, umgebracht worden. Das Buch zeigt auch eine drastische Illustration der Judenverbrennung.

Vermutlich angeregt von dieser Weltchronik aus Nürnberg schrieb in der selben Stadt der Wormser Hans Folz über 100 Meisterlieder, ähnlich jenen des Antisemiten Hans Sachs. Sieben dieser Lieder befassen sich mit der Eucharistie, also dem wichtigsten Geheimnis des katholischen Glaubens. Darin heißt es unter Hinweis auf die so schnell verbreiteten Ereignisse des Judenmordes in Deggendorf und die mittlerweile ausgeformte Hostienlegende: „Jüd, frag Degkendorff (…)! Ich mein, dw finst der frag ein zil…“

Der Aldersbacher Abt Wolfgang Marius schrieb 1518 in den Annalen seines Klosters: „In diese Zeit (Anm.: unterschiedlicher Ereignisse des Jahres 1338!) fiel auch jene denkwürdige Untat, die jenes den Sabbat feiernde Volk der Juden in der Stadt Deggendorf gegen das göttlichste Sacrament gewagt hat (…). Die hebräischen Beschnittenen haben es mit Stacheln und Dornen gestochen, schlugen es alsdann auf einem Amboß mit Hämmern und legten es in einen angeheizten Backofen. Das Sacrament, in der Glut des Ofens aus eigner Kraft in die Höhe gehoben, wurde durch die Lüfte getragen und legte sich schließlich einem gewissen frommen Handwerker auf den Pelz…“ Der Abt spricht dann vom „Mord“ an vielen Juden beiderlei Geschlechts, behauptet, die Hostien seien wunderbar erhalten und würden „dem christlichen Volk, das (…) scharenweise dorthin zusammenströmt, neben den übrigen Heiligenreliquien offen gezeigt.“

Alle diese Schreiber hatten eine Legende stetig weiterentwickelt und verbreitet. Doch der bayerische Geschichtschreiber Johannes Turmair, der sich nach seinem Heimatort Abensberg Aventinus nannte, übertraf sie in seinen Annalen von 1521 weit: Er führte einen „unheilvollen Kometen“ in die Geschichte ein, beschuldigte die Juden als „Hartnäckigste Feinde des christlichen Glaubens“ einer Verschwörung zur Vernichtung aller Christen in ganz Deutschland und entsprechenden Vorarbeiten dazu mit Gift. Und er erweiterte die Verleumdung der angeblichen Hostienschänder. Ihr Pech sei es gewesen, dass bei der Schändung ein verräterischer Blutregen niedergangen sei. Deswegen seien die Deggendorfer in („gerechte“) Raserei verfallen und zur Niedermetzelung der Juden und deren Verbrennung sowie zur Plünderung des jüdischen Vermögens angetreten. Die bösartige Blasphemie Turmairs erweist sich in diesem Satz: „Der Zorn Gottes galt jenen….“ – nein, nicht den Mördern. Denn die seien um ihres Glaubens willen so in Wut geraten, dass keine Obrigkeit sich gegen sie und vor die auf eigene, beträchtliche Kosten eigentlich geschützten Juden zu stellen gewagt habe.

Als nun 1584 der in Straßburg geborene Konvertit Johann Jakob Rabus (= Rabe!) sein Büchlein KURTZER / WARHAFFTER VND GRÜNDTLICHER BERICHT über das mittlerweile schon „hoch und weitberhümbte H. Sacrament zu Deckendorff“ veröffentlichte, war dessen weite Verbreitung schon kalkulierbar – die üble Tat des Mordes an den Deggendorfer Juden und zahlreichen weiteren in der Folge dieses schlimmen Vorbilds in 21 bayerischen Gemeinden hatte die Wallfahrt in Schwung gebracht, die Menschen aus sehr weiten Regionen in die Donaustadt lockte. Welcher Zynismus, dass Rabus auf dem Titelblat Psalm 97 anführte: „Singet dem HERRN ein tröstlich lied / denn er hat Wunder gethan.“

Auch die Politik und die Kirchenpolitik spielten mit: Nach der Hussiten-Rebellion und dem Hussiten-Krieg, in dem feindliche Soldaten angeblich bis vor die Mauern der Stadt vorgedrungen waren, sollte Deggendorfs Hostien-Wallfahrt eine Art Gegenpol gegen böhmische Bemühungen wider die Kirche bilden. Tatsächlich gehörten zu den zahlreichen Wallfahrern auch noch im 19. Jahrhundert fromme Böhmen. Und Heimattümler wie der genannte Franz Kuchler (vergl. I. Teil!) forcierten auch deshalb die Verbreitung der sogenannten Deggendorfer Knödelsage, laut der eine Deggendorfer Hausfrau einem nach wochenlanger Belagerung neugierig über die Stadtmauer schauenden böhmischen Soldaten einen heißen Knödel ins Gesicht geschleudert habe. Worauf die Belagerer resigniert und sich zurückgezogen hätten. Auch das reine Fantasterei; denn Historiker wissen, dass die Böhmen nie an die Stadtmauer herangekommen sind. Ungeachtet dessen werden bis heute Deggendorfer Knödel als „für die Donaustadt typisches Gastgeschenk“ (Oberbürgermeisterin Anna Eder, CSU!) hergestellt und verteilt, gerne auch an die neuerdings wieder häufiger in Deggendorf anwesenden Gäste aus böhmischen Nachbarregionen!

Der Tiefpunkt einer Schreiberei, die sich aus einem Gerücht zu einer von politisch und geistlich Verantwortlichen wider besseren Wissens zu einer Tatsachenbehauptung entwickelt hatte, sich aber aus stetig erweiterter Abschreiberei speiste, wurde erreicht, als 1604 der Theologe Johannes Sartorius (um 1577 bis 1630) auf Kosten der Deggendorfer Pfarr- und „Grabkirche“ sein von einem Verwandten in Ingolstadt gedrucktes Buch MEMORIA MIRABILIUM DEI veröffentlichte. Dieses „Gedächtnis an die Wunder Gottes“ beginnt so: „Wie die Juden zu Deckendorff damals das H. Sacrament bekommen / vnnd mit einer scharpffspitzigen Aal durchstoßen / darauß Blut geflossen.“ Juden waren ihm wegen der Passion Christi und weil sie unschuldige Kindlein ermordeten und deren Blut tranken, verhasst. „Etlichen Naswitzigen“ versicherte er, dass Dornen sich sehr wohl zur Hostienschändung eignen, dies habe sich ja schon mit der Dornenkrone erwiesen, die Jesus aufgesetzt worden war. Garstige Schweine mit einem gottlosen Rachen war ihm die Gesamtheit der Juden, kurzum: Der schier endlos gewordene Faden einer Lügen- und Sündengeschichte war nun zu einem besonders dicken Knäuel aufgerollt. Das grausige Märchenbuch wurde bis 1728 noch mindestens drei Mal neu aufgelegt, zuletzt im Auftrag des Deggendorfer Stadtpfarrers Tobias Wischlburger. Es folgten weitere Schriften ohne wirkliche Indiviualität, bis der bereits genannte Pater Benedict Braunmüller OSB (vergl. I. Teil!) dann mit seinem Deggendorfer Gnadenbüchlein im Jahre 1879 den Antisemitismus, der mittlerweile im Deutschen Reich auch schon politisch institutionalisiert war, auf die Spitze trieb.

Was wirklich entsetzt, ist die Erkenntnis, dass in Sartorius´ Buch bereits alle Anschuldigungen enthalten waren, die Adolf Hitler zur Grundlage seines Verbrechens an sechs Millionen Juden machte: Verblendete, verstockte, bishafte, bösartige, blutsaugende, raffgierige, betrügerische, manipulierende, alle anderen Religionen verspottende, schalkhaftige, mitleidlose Juden – alle diese Beschimpfungen waren dem Oberösterreicher mit der Herkunft seiner Ahnen aus dem niederösterreichischen Waldviertel sehr geläufig, gab es ja dort GNAD-Wallfahrer nach Deggendorf, ins benachbarte Pulkau in Niederösterreich und ins oberösterreichische Pfarrkirchen und befanden sich in erreichbarer Nachbarschaft ja weitere Anti-Juden-Wallfahrerziele.

Bis heute feiern Katholiken trotz der Androhung einer Ex-Kommunizierung unter Leitung des Priesters Melzer (Bad Hall) das Andenken des Anderle von Rinn: Der Bub war vor 500 Jahren angeblich von zwei oder drei Nürnberger Handelsjuden gekauft, ermordet und ausgeblutet worden. Papst Benedict XIV. hat ihn 1752 seliggesprochen, der zuständige Bischof Reinhold Stecher 1989 den Kult als Lüge, die Kirchenbeteiligung daran als schwere Sünde gebrandmarkt und beendet. Das Kultverbot musste 1994 vom Innsbrucker Bischof neuerlich bestätigt werden. Auch bei diesen, im deutschsprachigen Raum zahlreichen, noch in der Nazizeit mit weiteren angeblichen Ritualmorden an Kindern bekräftigten Lügen spielten Hostien eine Rolle. Dass all dies den Zusammenhang zwischen frühen Pogromen und sich stetig weiter ausbreitendem Antisemitismus und dem Holocaust herstellt, ist jedoch umstritten. Der in Deggendorf lebende Historiker Robert Schlickewitz (Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“, Eigenverlag, Sept. 2007) schrieb dazu in der JÜDISCHE ZEITUNG, Nr. 10/2008: „“Der jüdische Professor an der Münchner Hochschule der Bundeswehr, der Historiker Dr. Michael Wolffsohn, äußerte öffentlich, der Holocaust sei ´in keiner Weise Konsequenz einer antijüdischen christlichen Theologie`, denn ´der Gedanke an eine Auslöschung der Juden sei erst mit dem Wegfall religiöser Bindungen in der Moderne entstanden.`Von einer ´christlich-theologischen Vorgeschichte` des Judenmordens könne man keineswegs sprechen!“

Wann aber lösten sich die religiösen Bindungen „in der Moderne“? Die DEGGENDORFER GNAD und weitere antisemitische Wallfahrten, die ebenso wie die NSDAP in Bayern gegründete antijüdische THULE-Gesellschaft, die Passionsspiele in Oberammergau, deren judenfeindliche Textsequenzen erst vor Jahrzehnten gelöscht wurden (und die quer durch Bayern, darunter auch in Deggendorf judenfeindliche Vergleichsspiele hatten!), ferner die in Bayern gegründete DVU und die REP könnten als Widerlegung der Wolffsohn-Aussagen verstanden werden. Denn bis auf die REP des bayerischen TV-Moderators und SS-Mannes Franz Schönhuber aus Trostberg in Oberbayern und die DVU des Chamers Dr. Gerhard Frey beriefen sich alle anderen Institutionen bzw. Laienspielträger auf teils pseudoreligiöse Wurzeln. Und das in Bayern noch Jahrzehnte nach dem Holocaust die Bindungen der Gläubigen an ihre Kirche – die katholische in Altbayern und die evangelische, teils pietistisch strenge in Franken – eng waren, ist eine nirgendwo bestrittene Tatsache.

Den Wust des mittlerweile so dicht verfilzten Lügengespinstes um die Deggendorfer GNAD machte dann 1655 in München (erneute Auflage 1716 in Regensburg!) der Schreiber Peter König noch ein bisschen umfangreicher. Er mischte eigene Fantastereien mit jenen des Sartorius und nahm einige Sätze vorweg, die in den Bayerischen Annalen neuerlich zu lesen waren: Die erschienen 1622 unter dem Namen des bayerischen Kanzlers Johann Adlzreiter. Was der Deggendorfer Stadtpfarrer Josef Pommer noch 1984/85 ungestüm verbreitete, war die Quintessenz aus all diesen Veröffentlichungen, freilich in jenen Teilen abgemildert, die dem Pfarrer eine Anklage wegen Volksverhetzung hätten eintragen können.Wortlaut der Aufschrift auf jener Schallplatte mit geistlicher Musik, die Pommer pressen ließ:

„Im Jahre 1337 wurde in Deggendorf das Mirakel aufgefunden, das sind jene zehn Hostien, welche sich auf wunderbare Weise durch die Jahrhunderte erhalten haben. Ebenso hat sich in Deggendorf die Verehrung des Heiligen Altarsakramentes seitdem in besonderer Weise durch die alljährlich abgehaltene ´Deggendorfer Gnad`bewahrt. (…) Die ´Deggendorfer Gnad`hat sich allen Widerwärtigkeiten, Nachstellungen und Kriegszeiten zum Trotz durch Gottes Fügung und den selbstlosen Eifer der Menschen erhalten. Sie ist in unserem Jahrhundert sogar wieder gestärkt aus allen Böswilligkeiten hervorgegangen.“

Von Pommers willigen Vollstreckern im Kirchenvorstand und Pfarrgemeinderat wurden die absurden Aussagen des Geistlichen noch dadurch auf die Spitze getrieben, dass nun die Behauptung verbreitet wurde, dank der Hostienverehrung sei Deggendorf von einem Bombardement aus alliierten Bombern bewahrt worden – die Maschinen seien bereits in der Luft gewesen und auf unerklärliche – also wunderbare! – Weise unmittelbar vor Erreichen des Stadtgebiets umgekehrt. Der langjährige Deggendorfer Stadt- und Bezirksrat Georg Haberl (CSU), hat in seinem bisher unveröffentlichten Buch über Nazi- und Kriegszeit in der Region Deggendorf nachgewiesen, dass es keinen Angriffsbefehl gegeben hat: Unter anderem der spätere Deggendorfer CSU-Stadtrat Franz Xaver Stangl und ein späterer Gymnasialdirektor Mader hatten mit Todesmut dafür gesorgt, dass die Aufforderung der Alliierten erfüllt wurde, eine weiße Fahne zu hissen. Noch Tage vor der Besetzung der Stadt waren Bomben auf die Innenstadt und auf den Hafen im heutigen Stadtteil Deggenau gefallen.

Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass 1960 der katholische Wissenschaftler und Priester Franz Rödel als Leiter des Judaeologischen Institus in München GNAD und Hostienlegende verworfen hatte. Noch wurden seine Vorschläge zur Umgestaltung der Wallfahrt nicht beachtet. Doch die Wandlung zur Eucharistischen Wallfahrt der Diözese Regensburg sieben Jahre später war sicher eine amtskirchliche Antwort. Pommers Schallplattentext allerdings wurde von Bischof Flügel als „Unbedachtheit“ verworfen, was Pommer bei dem Aussprachetermin in Passau (vergl. I. Teil!) mit drastischen Gesten der Missachtung dieses Bischofs abtat. Der war da schon einige Wochen emeritiert.

Die totale Gnadenlosigkeit der GNAD enthüllt eine Litanei, die spätestens 1734 vollinhaltlich ausgebildet war. Eine Litanei ist ein Wechselgebet mit einer Reihenfolge von Bitten. Sie beginnt stets mit Anrufungen und Lobpreisungen Gottes in der Dreifaltigkeit des einen Gottes nach katholischer Grundaussage. In Deggendorf fuhr die sogenannte Judenlitanei dann unerbittlich fort mit Anrufungen/Bitten, die ein Priester oder Vorleser ausriefen. Sie sind hier in den heutigen Sprachgebrauch umgeschrieben:

„Hochheiliges Mirakel, (die Gläubigen antworten nach jeder Bitte: Erbarme dich unser!)
Hochheiliges Mirakel, von einer Christin den gottlosen Juden für ein versetztes Kleid verkauft,
von den boshaften Juden mit einer (Schuster- oder Sattler-)Ahle bis auf das Blut durchstochen,
von den tyrannischen Juden bis auf das Blut mit spitzen Dornen zerkratzt,
von den schalkhaften (Anm.: hier zu verstehen als hämische, spöttische!) Juden in einem Backofen zu verbrennen versucht, aber unversehrt geblieben,
von den verblendeten Juden auf einem Amboß mit Hämmern geschlagen,
von den hartnäckigen Juden vergeblich zu schlucken versucht,
Hochheiliges Mirakel, aus dem sich Jesus in der Gestalt eines liebreichen Kindes gezeigt hat,
Hochheiliges Mirakel, dessen grausame Marterung allhier
(Anm.: in Deggendorf!) die Jungfrau und Mutter (Maria!) beweint hat,
Hochheiliges Mirakel, der du dich durch hellen Glanz wunderbarer Weise bemerkbar gemacht hast,
Hochheiliges Mirakel, der du dich selbst
(Anm.: aus dem heute noch vorhandenen GNADBRUNNEN) in die Luft erhoben und so der andächtigen und mutigen Bürgerschaft Deggendorfs die Möglichkeit eröffnet hast, dich zu retten,
Hochheiliges Mirakel, der du dich nach der entsetzlichen Marter dennoch unversehrt offenbart (und bis heute!) erhalten hast…“

Ein Spross aus der Ahnenliste des den Nazis ergebenen Schauspielers Alexander Golling (DAS ERBE VON BJÖRNDAL u. a.), nämlich Deggendorfs Stadtpfarrer (von 1785 bis 1794) Johann Baptist Heinrich von Golling, entsetzte sich über die Litanei wie überhaupt über die GNAD. Neun Jahre nach der schändlichen Verbannung des Pfarrers aus Bayern schrieb der Münchner Hofbibliothekar Johann Christoph Freiherr von Aretin in seiner 1803 in Landshut erschienenen „Geschichte der Juden in Bayern“: „Daß auch eine Litanei, die voll von fanatischen Beschimpfungen der Juden war, jährlich in Deggendorf gehalten, und der Pfarrer Golling, der sie abstellen wollte, durch die damalige Inquisition unglücklich gemacht wurde, ist ohnehin bekannt.“ Leider hat von Aretin Details zur Tragödie Gollings verschwiegen – er hätte ja mindestens die Münchner Hofcamerilla angreifen, womöglich den Kurfürsten selbst und Bischöfe und Pfarrherren bloßstellen müssen. So schreibt er auch kein Wort über Pfarrer Gollings Vorschlag einer neuen

„Litaney,
welche von dem heiligst- und wundervollen Sacrament
zu Deckendorf gebethet wird“,
nahm aber unmissverständlich Abstand von den Märchenerzählungen, dass in der Kirche „geschändete Hostien von 1337“ verehrt würden. Juden erwähnte er mit keinem Wort. Deggendorfs Bürger widersetzten sich. Mitte April 1793 reisten vier Abgesandte zum Hofrat nach München. Sie verlangten, „die althergebrachte Litaney auf das dortige heiligste Miraculose Sacrament noch ferner betten zu dörfen.“ Des Kurfürsten engster Vertrauter, Johann Caspar von Lippert, bat den Kurfürstlichen Geistlichen Rat um Informationen. Die lauteten: „Die von einigen Gemeindegliedern mit ihrer einseitig geführten Klage eingeschickte alte Litaney ist wirklich sehr unanständig und nicht zuläßig!“ Gollings Neufassung sei auch vom Regensburger Bischof bestätigt worden. Vor allem der Bischof sei zu loben und zu unterstützen. Der Kurfürst entschied deshalb: „Schluss mit der alten Litaney!“ Vergeblich jammerte der Händler Franz Felix Grielmayr, die Wallfahrt sei damit am Ende, „mehr als 1000 ihres Brods beraubt und in Gefahr gesetzt, den leidigen Bettel zu ergreifen, der doch verbothen ist.“

Dass Grielmayr letztendlich verlor, half dem armen Pfarrer nichts. Von dem Händler als „Religionsspötter“ und „Freidenker“ denunziert, geriet er ins Fadenkreuz der Hofbeamten. Die waren von der Revolution in Frankreich aufgeschreckt worden und von den Geheimbündlern des Illuminatenordens, zogen die Zügel hart an – und ließen den Pfarrer verhaften. Nach einiger Zeit im Münchner Neuturm wurde der Geistliche 1794 entlassen und des Landes verwiesen. Er fand Hilfe bei der Fürstenfamilie Palm in Wien, starb 1802 als Seelsorger in Znaim/Mähren. Da der Landesverweis 1799 aufgehoben worden war, kämpfte er um seine Pension, die er aber nicht bekam. Dennoch teilte er einem Deggendorfer Freund mit, dass er seinen Peinigern verziehen habe. Die GNAD indessen ging weiter, wenn auch mit Änderungen. Seine Gegner demütigten den aufrechten Priester von Golling mit einer üblen
„litaney
Zu den freygesínten titl. Herrn Pfarrer zu Deggendorf,
aber seine heilige Weyhe ist höchstens respectiret und
auf die Seite gesetzet, den 24. April 1793.“

Sie enthülllte, dass sich an der zutiefst antisemitischen Grundhaltung der Bevölkerung nichts geändert hatte: die unglückselige GNAD mit ihren gnadenlosen Gebeten wider die Juden hatte sich tief im Unterbewusstsein der Gläubigen verankert. Gedanken oder gar Vorhaltungen über die Sündhaftigkeit solcher Einstellungen drangen folglich nicht durch. Der Wortlaut der Litanei:
„Du freygesinter Pfarrer – erbarm dich unser und deiner armen Seel,
Heinrich Gollinger – erhöre uns,
Baptist Gollinger – erhöre uns,
Du Vater der abtrinigen Kirche Gottes – weich von uns,
Du Sohn, ein Erlöser der unzufriedenen Juden –
Du dreyfache Geißl deiner katholischen Pfarrkinder –
Du scheinheylige Maria –
Du Gebährer aller Uebel –
Du Liebhaber deiner halbgekleideten Meerfräulein –
Du Seelen Liferant –
Du Prokurator der Hölle –
Du Vorsteher der Freygeister –
Du Verführer deiner Pfarrkinder –
Du vom Teufl geschickter Engl –
Du eingefleischter Teufl –
Du Folter der Einrichtung der Kirchen –
Du umgekehrter Paul in Saul –
Du ungläubiger Thomas unseres höchsten Guts –
Du förmlicher Herodes –
Du grausam geldgieriger Judas –
Du von der Höll geschickter Templstürzer –
Du seltsamer Gast in unserem Gnadenort –
Du Zuflucht der Juden –
Du Gastgeber der Juden –
Du Tröster der Juden –
Du jüdischer Beitlfeger
(Anm.: meint die Geldbeutel unter Anspielung auf die von Juden erhobenen Schuldzinsen!) –
Du falscher Judasbruder –
Du scheinheiliger Israelit – weiche von uns;
Von deinem unzüchtigen Höllengeschwader in deinem Pfarrhof – erlöse uns,
O bewahre uns von dieser jüdischen Bruth – wir wollen nichts mehr hören von dir;
O dass du uns deinen jüdischen Namen nicht anhängst –
O dass du dich von den Juden nicht mit Geld und Kleydung bestechen lassest –
O dass du die Juden nicht mehr in die Kasten sperrst –
O dass du deine lutherische Litaney nicht mehr bethest – wir wollen nichts mehr hören von dir!“

(…) – ausgerechnet dieses höllische Gebet bezeugt, dass der Pfarrer die widerwärtige Wallfahrt völlig umgewandelt hatte – leider vergeblich. Er hatte die Verleumdung der Juden beendet, die Gebete gesäubert, eine neue Basis geschaffen, anstößige Bilder und sonstige niederträchtige Darstellungen der Juden in der „Grabkirche“ ausgeräumt. Sogar ein strafwürdiges, auch kirchenrechtlich unhaltbares Verhältnis zu seiner Base und ein liderliches Leben im Pfarrhof wurde ihm unterstellt.

Neu waren solche Beschimpfungen eines GNAD-Kritikers nicht: Schon Rabus und Sartorius (s. o.), die laut Dr. Steub „Offenbar selbst nicht mehr alles glaubten“, schimpften in ihren Werken „die zweiffelig- und scrupulirenden Gesellen, die nasewitzigen Clamanten, die Schänd- und Lästerteufel, die in verstockter Bosheit die Wundergeschichte bekritteln wollen.“ Doch die Amtskirche nutzte auch diese Gelegenheit nicht, dem einsichtigen, mutigen Pfarrer Golling beizuspringen und dem antijüdischen und dem Hostienwunder-Spuk ein Ende zu bereiten. Als 1866 der Schriftsteller und Jurist Dr. Ludwig Steub in der ALLGEMEINEN ZEITUNG (zu Augsburg!) unter anderem die Rinner Anderle-Wallfahrt und die Deggendorfer GNAD verwarf, reagierte das Erzbischöfliche Ordinariat in München erbost mit einer Verteidigung des ganzen Lügengebäudes inklusive der „jüdische(n) Wuth und Verblendung“ wider die „consecrirten Hostien“. Jetzt setzte Dr. Steub nach und griff die Wallfahrt bzw. die Amtskirche an, zumal „der a n g e b l i c h e große Judenmord doch etwas mehr als angeblich war.“ Unter Hinweis auf fast alle erreichbaren Veröffentlichungen wies er die zahlreichen Legenden-Wandlungen nach. Was in Deggendorf erzählt und praktiziert werde, sei „nicht arm an kleineren, aber ziemlich reich an großen Widersprüchen.“

Trotzdem wurde nach altbewährter Methode der Autor Dr. Steub von der Amtskirche niedergemacht – und die einträgliche Wallfahrt ging weiter!

Fortsetzung folgt …

2 Kommentare

  1. Rob. Schlickewitz hat Recht: Ich habe übersehen, dass Prof. Michael Wolffsohns zutreffend zitierte Aussage nicht aus einem Brief VON Schlickewitz stammt, sondern aus einem Brief AN diesen Historiker: Schlickewitz hat in der JÜDISCHEN ZEITUNG 09/2008 einen Leserbrief veröffentlicht. Diesen Brief hat ein -leider nirgends genannter JZ-Leser unter anderem mit dem Wolffsohn-Zitat beantwortet.

  2. Ohne meinem verehrten Kollegen S. Michael Westerholz zu nahe treten zu wollen, und bei aller Wertschätzung seiner vorliegenden Arbeit, muss ich ihn in einer mich betreffenden Angelegenheit korrigieren.
     
    Die von ihm zitierte Ausgabe der Jüdischen Zeitung (10/2008) enthält zwar einen Beitrag von mir, jedoch zu einem ganz anderen Thema, nämlich zum Wahlkampf der NPD in Deggendorf, auch nachzulesen unter:
    http://www.j-zeit.de/archiv/artikel.1478.html
     
    Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr Westerholz,  daher diese Quelle noch einmal zu überprüfen und richtig zu stellen.
    Robert Schlickewitz, Deggendorf

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