Antisemitismus und Rassenhass bei der Deutschen Wehrmacht

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Vor mir liegt ein großformatiges, in kaffeebrauner Karton-Leinenbindung gehaltenes Buch, schlicht aber solide verarbeitet, äußerlich durchaus seriös wirkend und lediglich mit dem Schriftzug „Wir im Osten“ betitelt. Es stammt aus dem Nachlass des Vaters eines ehemaligen Schulkameraden, eines einstigen Majors bei der Wehrmacht. Ich erinnere mich noch gut an diesen meist gutgelaunten, leicht untersetzten, älteren Herrn, der durchaus über Menschlichkeit und Wärme verfügte. Auch meiner so buntgemischten bayerisch-osteuropäischen Herkunft gegenüber hat er sich niemals abfällig oder ‚von oben herab‘ geäußert oder sonst erkennen lassen, dass er gegen Angehörige anderer Völker irgendwelche Vorurteile hegte…

Von Robert Schlickewitz

„Wir im Osten“ zeichnet den Russlandfeldzug einer ganz ’normalen‘ Wehrmachtsuntereinheit, der Motorisierten (Mot.) Vermeßungs- und Karten-Abteilung 607, in Skizzen, Zeichnungen und Karikaturen nach. Der Band enthält keine Fotos, nur wenig Text, dafür eine Karte und eine reich illustrierte Chronik des Einsatzes dieser Abteilung vom ersten Tag bis zu der Zeit, als der Rückzug ihre Tätigkeit wohl eher als untergeordnet erscheinen ließ. Es handelt sich um den Zeitraum 24. März 1941 bis 31. 12. 1942, also die Periode vor und während des deutschen Überfalls auf die Sowjet Union bis zur sog. „Wende“ im Osten (Stalingrad). Die ausklappbare Karte gibt in Form einer punktierten Linie die in dieser Zeit zurückgelegte Strecke bzw. deren einzelne Stationen wieder: von Tourcoing in Frankreich, nahe der belgischen Grenze, ging es über Kortryk (Kortrijk), Tilberg, Utrecht, Zwolle, Osnabrück, Minden, Hannover, Stendal, Berlin, Landsberg an der Warthe, Schneidemühl, Bromberg, Graudenz, Marienburg in Ostpreußen, Nordenburg, Eydtkau an der litauischen Grenze, Kauen (Kaunas), Jonawa, Zarasai an der litauisch-lettischen Grenze, Rositten (Rezekne), Ludsen (Ludza), nach Russland und dort über Sebesch, Pustoschka, Oporschka, Novorschev, Porchow, Dno bis nach Wereschtschina am Ilmensee, etwa 200 km vor dem damaligen Leningrad.

Das Impressum von „Wir im Osten“ gibt weder einen Ort noch ein Datum an, dafür wird als für Druck und Herstellung zuständig der Druckereizug der Abteilung genannt. D. h. man verfügte selbst über eine hierfür erforderliche Ausrüstung, die man im Lastwagen mitführte und entweder dort oder mobil, an jedem beliebigen Ort, in Betrieb nehmen konnte. Eine handschriftliche Widmung eines Majors Zwack vom 10. Mai 1943 erlaubt es den Zeitpunkt der Drucklegung des Buches relativ exakt auf Frühjahr 1943 festzulegen. Was die Auflagenhöhe anbelangt, kann nur spekuliert werden. Da die Zielgruppe aber sehr klein war, es kommen nur die Vorgesetzten und höherrangigen Angehörigen der Abteilung in Frage, wird man von maximal 20 Exemplaren ausgehen müssen, möglicherweise sogar von weniger. Diese Tatsache, dass man nur für ‚eigene‘ Leute schrieb bzw. illustrierte, kann den Schluss nahelegen, dass man, da man ja keine Rücksichten auf den Geschmack oder die Befindlichkeiten ‚Fremder‘ zu nehmen brauchte, seine intimsten und authentischsten Gefühle, Ansichten, Einstellungen offenbarte.

Für den Text zeichnete ein Hauptmann H. Hagsbacher, für die Zeichnungen und Verse ein Unteroffizier H.-G. Strick sowie für weitere Illustrationen ein Wachtmeister H. Bittel und für die Karte ein Gefreiter H. Radke verantwortlich.

Dies war für uns Soldatenglück
Daß es uns beschieden war,
auch im Osten dabei zu sein, gegen den Feind,
dessen Flut von Haß und Feindschaft
gegen die Kultur des Abendlandes brandet und dessen
Vernichtungswille vor allem die
Lebensleistung des deutschen Volkes treffen sollte.
Daß wir Anteil haben durften
an der gewaltigen Erprobung, die Rußland
vom Menschen fordert
und sich unsre Kameradschaft
dabei aufs Neue bewährte.

…lauten die Einleitungsworte zum illustrierten Hauptteil von „Wir im Osten“, die bereits den Geist ihrer Autoren und Rezipienten vorwegnehmen. Klingt doch fast so, als handelte es sich beim Russlandfeldzug um einen Abwehr- bzw. Verteidigungskrieg, als leiste man sittlich eine besondere Großtat, als fühle man sich moralisch vollkommen im Recht.

Trotz des inneren und äußeren Zwanges zu Konformität und Gehorsam, zu Übernahme NS-staatstreuer Auffassungen und Haltungen, die in der deutschen Diktatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem beim Militär über Leben und Tod entscheiden konnten, dies sei der Fairness halber angemerkt, hätte man sich auch anders ausdrücken können. Denn dieser deutsche Krieg, der von den Russen heute noch als der „Große Vaterländische“ bezeichnet wird, war nach internationalem Recht ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, den vom ersten Tag an vor allem unschuldige Zivilisten in bis dahin unerreichtem Ausmaße mit ihrem Blut bezahlten. Schätzungen gehen von bis zu 40 Millionen Ermordeter und Toter in der Sowjet Union auf Grund dieses Krieges aus. Und jene deutschen Soldaten, die an ihm teilnahmen, auch solche, die nicht unmittelbar in die Morde und Massentötungen verwickelt waren, haben von den Schandtaten ihrer Landsleute erfahren, ob sie wollten oder nicht. Die Leichen und verbrannten Dörfer waren zu zahlreich, um einfach hätten übersehen werden können. Bedauerlicherweise haben allerdings nur die wenigsten Deutschen daraus die nötige Konsequenz gezogen, wie etwa Hans Scholl oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die beide angesichts der in Russland erlebten Gräuel zu Widerständlern wurden.

Die Federzeichnungen in „Wir im Osten“ halten zunächst, und dies bewusst als Kontrast, einfache aber saubere ostpreußische Bauernhöfe und Dörfer fest, dann immer wieder Einblicke in die eigene vermessende bzw. kartographierende Tätigkeit (ein positives Eigenbild spielte bei den ‚Machern‘ des Buches unverkennbar eine große Rolle), ferner Idyllen aus Natur und Landwirtschaft, Litauer und Letten, Darstellungen von Sowjetmenschen in Zivil und Uniform, die Moschee von Kaunas, russische Kirchen, Friedhöfe und Dörfer, Kriegszerstörungen, demolierte Sowjetpanzer, tote Sowjetsoldaten am Straßenrande, eigene „Heldengräber“, Porträtskizzen von Menschentypen aus dem Baltikum und dem russischen Teil der Sowjet Union, eine Marktszene, Menschen in einem „Durchgangslager“ und drei Illustrationen, die Gruppen von Juden zeigen.

Der zweite Teil des Buches steht unter dem Motto „Trag das Leben mit Humor, so kommt es dir gleich leichter vor!“. Hier karikiert Unteroffizier Strick ‚Freud und Leid‘ des braven deutschen Landsers in Russland. Kurze Bildunterschriften oder Reime dienen dabei zur Erläuterung, Verdeutlichung oder Kommentierung in Form eines heute kaum noch nachvollziehbaren „Humors“.

Nicht eine der Illustrationen in diesem Buch zeigt einen als Nichtdeutschen erkennbaren Menschen, sei es ein Balte, Russe oder Jude, in vorteilhafter Pose, oder gar mit Sympathie erheischender Physiognomie, Gestik oder Mimik. Das ‚Ausländische‘, ‚Fremde‘, ‚Fremdartige‘, wird ausnahmslos verzerrt dargestellt – „Untermenschen“ eben. Nirgends drückt sich auch nur eine Spur von zwischenmenschlicher Solidarität, von Respekt oder Achtung vor Menschen anderer Kultur, anderer Herkunft, anderer Sitte und Art aus. Lediglich Schmutz, Armut, ‚Dummheit‘, Primitivität, Verschlagenheit, Faulheit, Brutalität spiegeln sich in den Gesichtern und Gestalten der Balten und Russen wider.

Juden, die Arbeiten in einem Steinbruch verrichten, werden als hoffnungslose Tölpel, als linkisch, als für körperliche Arbeit Ungeeignete, als feine ‚Pinkel‘, als korpulente Wohlstandsbürger, als hochnäsige Individuen, die sich eines Besseren dünken, zeichnerisch überzogen festgehalten, woanders Juden als Wirtsleute in der Art wie sie der „Stürmer“ am liebsten karikierte – mit Hakennase, „minderbemittelt“, unreinlich, lächerlich. Selbst auf dem Bild von den Juden, die verhaftet und von bewaffneten Schergen der Deutschen durch die Straße getrieben werden, kommt beim Zeichner kein Mitgefühl, kein Mitleid, ja überhaupt kein menschliches Gefühl für die hier ihrer Vernichtung Entgegengehenden auf – im Gegenteil – mit seinem Kommentar „Tage der Vergeltung für bolschewistischen Terror – Judenverhaftungen“ schließt er sich ohne Not der offiziellen deutschen Ideologie vom Juden als dem Bolschewisten, Partisanen und „natürlichem Feind der Arier“ an.

Als Deutscher von heute kann man nicht anders, man blickt mit Scham und Abscheu auf diejenigen eigenen Vorfahren, die Menschen, Ihresgleichen vor der Schöpfung also, auf die oben geschilderte Weise abbilden und damit verhöhnen konnten, aber auch auf jene in der ‚Heimat‘, für die „Wir im Osten“ in zweiter Linie gedacht war, die über derart widerliche Produkte primitiv-deutschen Rassismus‘, dumm-deutscher Arroganz und abartig-deutschen Hasses Stolz empfinden, oder schmunzeln, lächeln, gar lachen konnten.

In die Zeit der Entstehung der Zeichnungen und Karikaturen für diesen Band fallen die schlimmsten Judenmassaker des Russlandfeldzuges:
Die Errichtung des Ghettos im litauischen Wilna und der Beginn der Ermordung von etwa 35 000 Juden durch Deutsche in Ponary ab 1941; viele, viele weitere Opfer sollten noch folgen.

Die Verbrennung von Hunderten von Juden in der Synagoge in der Rigaer Gogolstraße im Sommer 1941. Die Ermordung Zehntausender lettischer Juden durch Deutsche und einheimische, von den Deutschen angewiesene oder angeworbene, Handlanger bis Oktober 1941. Die Erschießung Zehntausender Juden des Ghettos von Riga im nahen Rumbulawald. Russland – von den 5, 25 Millionen Juden der UdSSR ermorden Deutsche und ihre Helfer drei Millionen.

Diese Fakten vor Augen erscheint es vollkommen ausgeschlossen, dass die Herren Strick, Bittel und Hagsbacher, die für den Inhalt von „Wir im Osten“ Verantwortlichen also, nichts von den Massenmorden, gleichsam um sie herum, erfahren hatten, auch wenn sie selbst Angehörige einer nichtkämpfenden Truppe waren. Dass sie dennoch Juden in Wort und Bild derart herabwürdigen konnten, ist durch nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen.

Als Menschen, als Deutschen, als einigermaßen sensibilisierten Zeitgenossen, dürfen einen solche Werke aus der Hand der eigenen Väter und Großväter nicht unberührt lassen. Ganz besonders nicht – angesichts des neuen, stetig zunehmenden, bundesrepublikanischen Antisemitismus‘ und der wachsenden antiisraelischen Tendenzen in unserem Lande. Denn, es entsteht sonst der Eindruck, dass wir tatsächlich unfähig sind aus unserer Geschichte zu lernen.

Literatur:
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichworte: Riga, Russland, Wilna

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