Bemerkungen zu Frank Kafka

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Franz Kafka, der Dichter aus Prag, von wenigen gekannt, aber von diesen als einer der größten heutigen Meister der deutschen Prosa bewundert, ist am dritten Juni im Sanatorium Kierling bei Wien einem schweren Leiden erlegen…

Von Oskar Baum
Der Jude, Heft 8/1924

Es fällt mir zu schwer, streng nach der Wahrheit ausgedrückt: es ist mir unmöglich, über Franz Kafka, über den Menschen wie über seine Kunst, die so sehr eins waren, richtig und angemessen zu sprechen oder gar zu schreiben. Es ist vielleicht noch zu bald. Sein Hingang ist noch zu sehr Gegenwart, der eben erst geatmete Augenblick. Aber eigentlich kann ich mir auch gar nicht vorstellen, daß er jemals so weit zurückliegen könnte, daß es mir möglich würde. Zu selbstverständlich ist es, daß er danebensteht und ich es ihm ins Gesicht sagen und denken muß. Mit entsetztem — nein, so grelle Dinge gibt es bei ihm nicht — mit einem erstaunten, fragenden Nichtbegreifen, mit nachsichtiger verweisender Bestimmtheit greift er stumm, lächelnd nach meiner Hand, damit ich nicht über das erste Wort hinauskomme— und ich nütze mit quälendem Gewissensdruck seine physische Verhinderung aus, sie festzuhalten.

Was könnte ich Fremden über ihn aussagen? Wer ihn nicht kannte, kann sich vielleicht ein so bis ins Letzte singuläres Wesen nicht vorstellen. Die geringste Reflexbewegung noch hatte etwas von dieser persönlichsten Eigenart.

Mit einer nicht überbietbaren Schärfe und Klarheit des Blicks prüfte und entzauberte, entschälte er das Echte des äußeren und inneren Lebens bei sich und anderen. Er verurteilte nie; er stellte fest. Ohne Haß und Scheu, aber auch ohne verzärtelnde Empfindsamkeit faßte er das Skelett jeder Seele, jeder Begebenheit, jeder sich ereignenden Situation sicher, aber doch dabei mit so zarten, behutsamen Fingern, daß auch die Kälte des unbarmherzigen Durchschauers — war es die Grazie des Ausdrucks, war es die unverwelkliche Güte des reinen Willens? — nie wehtat, niemals frösteln machte.

Daß ihm die Liebe zum Irrweg, die Verliebtheit in das Nebenher, in das Kleid der Dinge nicht fehlte, braucht man bei einem so bildkräftigen Dichter nicht zu betonen, aber er wußte das Wie, das Nebenher, das Kleid der Dinge so durchsichtig und dahinter die Wahrheit des Kerns so greifbar existent zu finden, zu erfinden, daß die -Einheit des Ewigen und des Zufälligen, des Wesentlichen und seines zufälligen, wechselnden Gesichts zu einer magischen, unwiderstehlichen Selbstverständlichkeit wurde.

Er war von Natur ein Fanatiker voll ausschweifender Phantasie, aber dieses Glühen zügelte er mit‘ inbrünstigem Ringen nach strenger Sachlichkeit. Seine beispiellose Überwindung alles verführerischen, süßlichen Schwärmens und Schwelgens in Gefühlen und verschwommenen Träumereien war ein Teil seines religiös anmutenden — körperlich ins spleenhafte sich auswachsenden— Reinlichkeitskults. Er schuf mit der subjektivsten Bildform, aber es mußte als die äußerste Objektivität wirken.

Die Zerrissenheit, die tragische Zweiheit des naturentwöhnten Juden Europas spiegelte bei ihm das ästhetische Schicksal seiner Eingebungen: das persönliche Erlebnis und dessen göttliche Flucht in diePhantasmagorie, die einzige Rettung vor der Entweihung durch die Lüge, die einzige Möglichkeit, allgemein gültig, allgemein erfaßbar und doch wahr, unverwässert echt zu bleiben, subjektiv und objektiv zugleich zu sein. Rührend war seine Art, Jude zu sein und vor allem, Jude sein zu wollen. Seine Sehnsucht ging — durchaus nicht nur akademisch — ins Land unserer Volksverjüngung. Das Studium des Hebräischen war für ihn eine treu und fast leidenschaftlich geliebte Arbeit, mit der er auch in bösen Zeiten seiner Krankheit kaum einen Tag ganz ausgesetzt hat. Worin das Einzigartige seiner menschlichen wie künstlerischen Persönlichkeit besteht, läßt sich nicht leicht auf eine Formel bringen. Die Ausnahmestellung seines literarischen Werks im Schrifttum unserer Tage läßt sich begründen, aber nur wer die tiefe innere, selbstverständliche Übereinstimmung jeder seiner flüchtigsten Äußerungen, seiner Worte, seines Tonfalls mit dem Geschehen und den Charakterphysiognomien in seinen Erzählungen erlebt hat, wird etwas von dem Rätsel dieses schöpferischen Geistes begreifen.

Die kleine Prosa, die er nur widerstrebend auf Drängen seiner Freunde veröffentlichte, wiewohl jedes einzelne von den beschreibenden Stückchen in seinem ersten Buch „Betrachtung“ bis zu den größeren Erzählungen: „Der Heizer“, „Die Strafkolonie“, „Der Landarzt“, „Das Urteil“ u. a. in sich ein vollkommen abgerundetes Ganze darstellt, sind Teile sehr umfangreicher Werke, die einen seltenen Grad von Vollendung erreichten — und ihm doch als Fragmente erschienen. Seine innere Vorstellung von ihrer vollendeten Gestalt war so hoch, daß er sie zu erreichen verzweifelte.

Das Charakteristische an allen modernen Bestrebungen der Dichtersprache ist das Streben nach einer auffallenden Originalität um jeden Preis. Kafkas Visionen mit ihren völlig neuen Welten einer gespenstischen Dämonie sind in einer klaren, einfachen, fast pedantisch auf das Gesetzmäßige bedachten Sprache geschrieben, die jeder auffälligen Wendung, jedem billigen äußerlichen Effekt in geradezu ängstlicher Keuschheit ausweicht. Das und die edle eiserne Konsequenz und Geschlossenheit der seelischen und realen Vorgänge, die bei ihm in einer nicht zu durchdringenden geheimen Verbindung stehen, gab ihm seine besondere Stellung und seinen Einfluß auf die neuere Dichtung. „Die Logik des Wunderbaren“ nannte der Literaturhistoriker Walzel das überraschend Neuschöpferische an seiner Darstellung.

Das ist aber nur eine Seite, vielleicht nur die Oberfläche seiner Eigenart, das Verblüffende des Eindrucks auf den ersten Blick. Der innerste Kern aber seiner durchaus nicht weltumspannenden, sondern auf einen sehr intimen Traumkreis zusammengedrängten Art ist Keuschheit und Sachlichkeit, die sich ästhetisch in jenem durchsichtigen Kristall klarer und unverschnörkelter Sprache äußert. Ethisch äußert sie sich in der immer gleichen Situation der Unentrinnbarkeit, die im Mittelpunkt jeder seiner Schöpfungen steht. Eine Unentrinnbarkeit, hervorgerufen durch den Konflikt zwischen den Pflichten des Menschen gegen sich selbst, gegen seine liebsten Wesen, gegen die Gesellschaft und gegen Gott. Die Tragik der Unvereinbarkeit dieser Pflichten ist mit einer fast lächelnden Grausamkeit immer als Schuld des Helden empfunden, eine Schuld, die aber doch wieder etwas sehr Begreifliches, fast Selbstverständliches ist.

An alle genialen Menschen wird in irgendeiner Form vom Schicksal die Frage gestellt, und sie müssen sich entscheiden zwischen ihrem Leben und ihrem Werk. In welcher Form dann das selbstgefällte Urteil an ihnen vollstreckt wird, hüllt sich in ein — manchmal nicht einmal ganz undurchdringliches — Geheimnis. Franz Kafka hat wahrhaft und mit unerschütterlicher Sicherheit gewählt.

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