Der Dichter Ernst Toller

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Der Dichter Ernst Toller soll hier nicht mit anderen Dichtern verglichen, auch nicht auf seine künstlerische Bedeutung gewertet werden. Eine solche Betrachtung literarischer Art ist an dieser Stelle, wo vor Juden über Jüdisches gesprochen werden soll, kaum angebracht, wenn es sich auch um einen Künstler aus jüdischem Blut handelt. Hier soll vielmehr eine Auseinandersetzung mit ihm versucht, soll seine Einstellung zum Geist geprüft werden, diesem Hauptproblem seines Werkes. Dies ist aber wahrlich ein jüdisches Thema. Denn wenn sich Geist auch bei allen Völkern offenbart, so wissen wir Juden doch, daß er sich bei uns vielleicht am stärksten und heftigsten offenbart hat, und zwar als das, was er im Tiefsten ist, als Liebe…

Von Ernst Pinner
Der Jude, Heft 8/1924

I.

Ernst Toller ist ein Liebender, ein ekstatisch Liebender, Begeisterter. Darum ist er uns nahe, und darum gehört ihm unsere Liebe. Er ist ein Begnadeter, dem eine Stimme gegeben wurde zu sagen, daß er liebt. Darum horchen wir auf, wenn er spricht. Er ist ein Wortführer der Menschen, in denen der Geist lebendig ist. Das wußten wir schon, seitdem sein erstes Buch erschien, und sahen doch, daß er — ewige Tragik unzähliger geistiger Menschen — im Geiste stehend, ihn nicht fassen konnte und Unendliches leiden mußte, weil er ihn suchen mußte, wo er nicht zu finden war. Es gibt viele solcher wunderbarer Menschen, in denen der Verstand die Klarheit der Seele zu trüben scheint. Es ist ihnen nicht gegeben, verstehend das Eine zu wissen, das Eine und Einzige, in die Klarheit und Wahrheit zu kommen. So baut sich der Verstand immer neue Systeme und meint, jetzt habe ers geschafft, bis der Kunstbau zusammenbricht und der Baumeister sich wandeln muß. Bei jedem Bau gibts ein fröhliches Richtfest und, wenn er stürzt, laute Klage. So gehen diese Menschen, selige, unselige, von Wandlung zu Wandlung.

Ernst Tollers erstes Drama heißt „Die Wandlung“ Wir vermuten wohl mit Recht darin eine Art geistiger Selbstbiographie. Wir finden einen jungen Juden in der uns aus zahlreichen Beispielen des Lebens wohlbekannten Zerrissenheit: entfremdet dem Judenvolk, sind sie dem Volk, in dessen Mitte sie leben, fremd geblieben, Vereinsamte, Ausgestoßene. Diesen typischen Konflikt versucht der Verstand in der typischen Weise zu lösen: es kommt Krieg und die allgemeine Gefahr, und überschäumend ruft der Dichter: „Nun kommt Befreiung aus dunkler, quälender Enge. Der Kampf wird alle einen. Auferstehen wird der Geist, sich offenbaren in seiner unendlichen Schönheit.“ „Nun kann ich beweisen, daß ich zu ihnen gehöre.“

Jetzt entrollt sich vor uns der Krieg in gespenstischer Grausigkeit. Diese Szenen sind dramatisch wohl die stärksten, wenn sie auch mit der Wandlung des Helden noch wenig zu tun haben. Im schlimmsten Grausen des Krieges erfährt er, er bleibe ein Ausgestoßener, Vaterlandsloser. Die Verzweiflung treibt ihn zur letzten Hingabe, zu freiwilliger Meldung für einen tedbringenden Patrouillengang. Wie durch ein Wunder gerettet, erhält er die Dekoration und so auch eine Art amtlicher Bestätigung: jetzt gehöre er endlich dazu. Da ist es aber schon zu spät. Der Sieg, dem er seine Errettung verdankt, kostet 10 000 Menschen das Leben. Er hat erfahren, was Menschenleid ist, und darüber sein kleines Ziel vergessen. „Durch 10 000 Tote gehöre ich zu ihnen; ist das Befreiung?“ Trotz Krieg und Sieg bleibt die teuer erkaufte Zugehörigkeit ein Phantom. Doch das erschüttert ihn kaum noch. Er erfährt, daß es ein Höheres gibt als das Vaterland, das heut doch an den Staat verschachert ist. Er fühlt dieses Höhere, der Verstand findet aber nichts, und so ist der Held unmittelbar vor dem Selbstmord. Da, in tiefster Not, weist sich ein neuer Weg: „Dein Weg führt dich zu Gott, der Geist und Leben und Kraft ist, zu Gott, der in den Menschen lebt. Dein Weg führt dich zu den Menschen.“

So beginnt der zweite Bau. Wir sehen den Dichter, ähnlich Wassermanns Christian Wahnschaffe, zu den Menschen gehen, um zu erfahren, daß sie elend und schuldig sind. Da ist der Geist nicht zu finden, da ist er zu tief verschüttet. Der Held glaubt erneut sterben zu müssen; so müsse Christus empfunden haben, meint er: „Nicht Römer schlugen ihn ans Kreuz, er kreuzigte sich selbst.“ Doch noch glaubt er an den Menschen, der gut ist und in dem der Geist nur verschüttet ist. Eine neue Hoffnung erwacht: „Vielleicht gekreuzigt kann er sich befreien!“ Der Glaube an den Menschen richtet ihn auf. Der Geist soll wieder erwachen, die Liebe wieder durch den Menschen strömen. So kommt der jubelnde Aufschwung: „Du Jugend schreite, ewig dich gebärend, Erstarrtes ewig du zerstörend, So schaffe Leben, gluterfüllt vom Geist“ Die Menschen sind nur verzerrte Bilder des wirklichen Menschen, da sie den Geist vergraben haben. Sie könnten wahre Menschen sein, wenn sie den Glauben an sich wiederfänden, wenn sie Erfüllte wären vom Geist. Dies Wissen gibt ihm den Mut, zur Revolution aufzurufen. Er tut dies in leuchtender Begeisterung, ohne auch nur im entferntesten Richtung und. Weg der Revolution zu ahnen. Noch scheint ihm der Sieg sicher: wenn die Menschen um den Geist kämpfen werden, werden sie ihn auch erlangen. Nur eine Ahnung taucht auf, daß der Mensch nicht Maß und Ziel der Schöpfung ist, in einem kurzen Gespräch:

„Schwester: So muß man sich töten und gebären, um seine Wurzeln zu finden.

Friedrich: Dieses Wissen ist nur ein Anfang.

Schwester: Und wohin weist es?

Friedrich: Zum Menschen.

Schwester: Und weiter?

Friedrich: Weiter? . . . Ich sorg mich nicht drum. Mir ist, als war ich in einem unendlichen Meer verwurzelt. Es ist so schön, zu wissen, daß man Wurzeln hat und sich doch treiben lassen kann.“

Es kam die Revolution, in der Toller wie wenig andre seinen Glauben durch letzte Hingabe bewährte. Sein reines Menschentum erzwang selbst bei seinen erbitterten Feinden und Besiegern Achtung, so daß sie ihn nur auf 5 Jahre einkerkerten. So sitzt er seither, fern den Menschen, fern der Politik, weiter suchend, und vor allen Gefahren der Einsamkeit geschützt durch den Geist, der in ihm lebt und sich ihm immer klarer entfaltet.1) Zuerst zerbrach der Traum, durch die Revolution dem Geist zu Hilfe zu kommen. Der geistige Mensch, der die Revolution wollte und mit entfachte, muß sehen, wie das Werk ihm aus den Händen genommen wird. Die Masse und ihre namenlosen Führer suchen nicht den Geist, sondern die Macht. Auf der Gegenseite ist es die Phrase „Vaterland“, hier die Phrase „Masse“, die beide den nackten Egoismus verkleiden. Vor dem Schrei „Die Masse gilt!“ verstummt das Schluchzen: „Der Mensch gilt.“
Das ist der Konflikt in dem Drama „Masse Mensch“. Dieses Drama ist eine packende Darstellung der Münchener Revolution. Was dargestellt ist, sind weniger die Ereignisse als die Ideen, die miteinander kämpften. Hier Seien sie noch einmal mit Tollers Worten gegenübergestellt: Der namenlose Führer hat den Befehl zum Geiselmord gegeben:

„Ihr rächt eure Brüder!
Masse ist Rache am Unrecht der Jahrtausende!
Masse ist Rache!“

Da wirft sich die Heldin entgegen:

„Masse soll Volk in Liebe sein.
Masse soll Gemeinschaft sein.
Gemeinschaft ist nicht Rache.
Gemeinschaft zerstört das Fundament des Unrechts.
Gemeinschaft pflanzt die Wälder der Gerechtigkeit!“

Das sind die Landauer und Toller, die dort untergingen und nutzlos ihr Blut verströmten. Hier zerbrach ein wunderschöner Traum, der zerbrechen mußte, weil er nichts war als ein Traum, nicht einmal eine Utopie. Jetzt endlich erkennt der Dichter die bittre Wahrheit des Leibes:

„Jeder lebt sich.
Jeder stirbt seinen Tod.
Der Mensch
Wie Baum und Pflanze,
Schicksalsgebundene, vorgeprägte Form,
Die werdend sich entfaltet,
Werdend sich zerstört.“

Dies zu wissen, ist schrecklich, aber notwendig. Wer dies nicht weiß, ist verstrickt in Irrtum und unfrei. Wer es erfährt, beginnt den Weg zur Freiheit. So geht „die Frau“ jetzt den Weg zur Freiheit des Geistes, jetzt, wo sie sterben muß. Wunderbar offenbart sich die Gewißheit des Geistes in den Worten der zum Tode Verurteilten: „Ich lebe ewig!“ Mit diesem Wort überwindet sie Tod und Zerstörung. Und doch ist der Weg zur Freiheit immer noch nicht ganz offen. Da liegt immer noch vor der letzten Pforte der moderne Drache: „Entwicklungslehre“. Die bittere, aber richtige Erkenntnis der Dingewelt gilt dem Dichter nur für heut und morgen. Einst … da wird Gemeinschaft sein . . . werkverbundenes freies Volk. Und so klingt heilige Wahrheit mit Irrtum zusammen in dem großen ekstatischen Bekenntnis:

„Ich aber werde ewig, Reiner
Von Kreis zu Kreis, Schuldloser
Von Wende zu Wende, Menschheit
Und einst werde ich Sein.“

Denselben Konflikt wie „Masse Mensch“ zeigt das Drama „Die Maschinenstürmer“. Es führt uns in die als Ludditenbewegung bekannten Aufstände der geknechteten englischen Weber um das Jahr 1815. Streik und Aufruhr herrschen, weil die ausgehungerten Arbeiter ihre letzte Arbeitsmöglichkeit durch die Maschine bedroht sehen. In sinnloser Verzweiflung versuchen sie, die Maschine zu zerstören. Der Dichter erfindet einen Weber, der seine Ideen von der Gerechtigkeit und Gemeinschaft vertritt. Ein moderner Marquis Posa, predigt er hinreißend die künftige Menschheit, dieses „Ja“ des Dichters. Ein shakespearescher Bettler daneben gibt das aus schmerzlichsten Erfahrungen geborene „Nein“ des Dichters. Der Held des „Ja“ geht zugrunde, verraten von den alten Masseführern, die nichts von ihm verstehen und nur seine Konkurrenz fürchten. Er wird von der gegen ihn aufgehetzten blinden Masse, gerade von den Menschen, denen er zum Siege verhelfen wollte, erschlagen. Die letzten Worte spricht ein uralter, halb wahnsinniger Weber, in dem bei aller Umnachtung das Suchen nach dem Geist immer noch lebt: „Man muß einander helfen und einander gut sein.“

Tollers zuletzt veröffentlichtes Drama ist der „Hinkemann“. Dieses Werk sucht nicht mehr neue Wege, um den Geist (wie heißt es doch so schön) zu „realisieren“. Hier wächst ein Problem, eine Gestalt, eine Erzählung, wächst auf zur großen Klage über die Menschheit, die die Liebe und den Geist tötet und müde zugrunde gehen muß. Die bittere Klarheit von der Welt der Dinge hat Wurzel geschlagen und ist stark geblieben: „Man sagt sich manchmal, man ist ein Stück Leben und lebt…. Wer Wahrheit herausstudieren will oder gar Zweck, der beginnt das Gleiche wie jener Mensch, der aus einem wachsenden Zwetschgenbaum Wahrheit oder Zweck herausstudieren wollte“. Wir wissen nicht, wie es in dem Dichter reifte, aber es ist so: zum Ekel wurde ihm die Phrase: „Der Mensch ist gut“ und nicht minder die „Gemeinschaft“. Je fester der Dichter in der Welt Wurzel faßt, desto klarer wird ihm das Wissen vom Geist. Und es ist schon fast völlige Klarheit, wenn er sagt: „Ein Geist sind wir, ein Leben. Und es gibt Menschen, die sehen das nicht. So sind die Menschen, und könnten doch anders sein, wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht.“

Würde ihm, dem die Notwendigkeit allen Werdens schon klar sein muß, nun auch noch weiter klar, daß unser Wille ein Teil allen Werdens und damit notwendig ist, — wäre es möglich, daß Toller noch diese letzte Konsequenz ziehen kann, um dann doch den Geist jubelnd zu bekennen…

Wir gedenken nicht, den Dichter Ernst Toller auf seinem Wege leiten zu wollen. An jeden suchenden Menschen treten unzählige Ansichten und Theorien heran. Und alle reden vergeblich auf ihn ein. Er ergreift den Irrtum oder er ergreift die Wahrheit, wohin zu greifen ihm bestimmt ist.

Ernst Toller steht an der Schwelle der Wahrheit, die uns Juden und der ganzen Menschheit Spinoza offenbart hat. Nein, er steht nicht mehr an der Schwelle, er steht schon mitten darin. Es ist vielen nicht gegeben, Stufe um Stufe hinaufzuklimmen, und stehen doch mitten drin in der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, amor dei. Für Menschen mit dem bohrenden Verstande Ernst Tollers ist es auch möglich, die Stufen hinauf- und hinabzugehen. Aber ob er dazu gelangen wird oder nicht: er weiß von der Liebe und singt uns Lieder von der Liebe. Ein solches Lied ist sein „Schwalbenbuch“. Da sind noch Schlacken und Unebenheiten, und ist noch viel Ekel vor dem Menschen, dem doch seine Liebe gehört und stets gehören wird. Singt doch der Mensch zusammen mit den andern Wesen „im hymnischen Chor der Welt“. Es ist da aber auch schon vollendetes Wissen im Sinne Spinozas, wenn er sagt: „Ich will dich lieben mit tiefer Liebe, weil ich weiß, was Schicksal dich tun hieß.“ Und so wunderbar verwandelt ist er schon durch die Liebe, daß er, der Gefangene, hinter dem Gitterfenster jubelt:

„Ich atme im Mittag süße Beglückung!
Erde! Geliebte!“

Ist er am Ende seines Leidensweges? War dies die letzte Wandlung? Ihm ist es heute Gewißheit:

„Bevor nicht die Menschen wiederfinden den Grund ihrer Tierheit,
Bevor sie nicht sind,
Sind
Wird ihr Kampf nur wert sein
Neuen Kampfes,
Und noch ihre heiligste Wandlung
Wird wert sein neuer Wandlung.“

Es gibt eine letzte Wandlung. Es gibt ein Eingehen in die Wahrheit und dann nur noch Befestigung und immer größere Sicherheit. Das ist etwas anderes, als man es mitunter bei den ewigen „Wandlern“ sieht, die dann einmal müde halt machen und (mit innerlich schlechtem Gewissen) proklamieren, es sei erreicht. Es gibt ein Eingehen in die Wahrheit, die sich von dem Irrtum dadurch unterscheidet, daß es kein Hinausgehen mehr gibt.

Spinoza sagt: „So wie das Licht sich selbst offenbart und die Finsternis, so ist die Wahrheit die Norm ihrer selbst und des Irrtums“.

II.

Wir nennen Ernst Toller einen Dichter, weil er uns seine Art in der Form der Dichtung enthüllt. Wir kennen seine Dramen und Gedichte. Diese alle aber geben uns an fast keiner Stelle das, was wir in der Dichtung zuerst suchen, suchen dürfen und suchen müssen: eine Gestalt. Es muß auf diesen wesentlichen Mangel der Tollerschen Dramen hingewiesen werden. Nicht einmal im „Hinkemann“, der ein einzelnes Schicksal (erhoben ins Allgemeine, aber doch ein einzelnes Schicksal) darstellen will, ergreift diese Gestalt, sondern nur das ergreift, was sie sagt und was sonst im Drama vor sich geht. Daß der Dichter die Welt und auch die Menschen Hebt und daß er über das Schicksal der Menschen klagt, dies allein ergreift, nicht aber die Schönheit und Häßlichkeit, Schwäche oder Kraft der Menschennatur, aus der die Liebe oder Klage mit innerer Notwendigkeit herausfließen müßte.

Und ganz ähnlich steht es mit Tollers Lyrik. Die „Lieder der Gefangenen“ sind stofflich bemerkenswert und erregen Mitleid und Zorn. Schließlich bleibt aber dem Leser das Gefühl, mittelmäßige Lyrik gelesen zu haben. (Der Dichter mag dem Bourgeois verzeihen, wenn er revolutionäre Lyrik als Lyrik wertet.) Weit höher ist das „Schwalbenbuch“ einzuschätzen. Auch hier wird man prägnant Gestaltetes vergeblich suchen. Es liegt aber über dem Buche eine Beschwingtheit, die Beschwingtheit der Schwalbe, die zur Seele wurde. Da schwingt sich eine Seele aus dem Kerker aller müden Seelen, schwingt sich zur Freiheit und zum Licht empor. Also auch in diesem Buch ist es das Große und Köstliche, den Dichter zu hören, wie er uns sagt, daß er liebt. So wird es deutlich, daß Toller zu tiefst weniger Künstler ist als vielmehr Mystiker. Er ist es nicht allein. Es gibt unter den heute dichtenden Juden manchen, bei dem man dies nachweisen könnte. Ein Jakob Wassermann gehört auch dazu, obwohl bei ihm das Künstlerische, die Fähigkeit des Gestaltens, größer ist als bei Toller. Bei Erscheinungen, wie Toller, hat man das Gefühl, er dichte nur, weil es eine andere Ausdrucksform für die Liebe heutzutage kaum gibt, weil es insbesondere heute kaum irgendwo reine Mystik gibt. Menschen wie Toller sprechen von sich und ihrer großen Liebe in der Form von Dramen und Romanen und Gedichten, und sprechen dabei nur von sich und ihrer großen Liebe, ohne daß sie die Fähigkeit, ohne daß sie vielleicht auch nur den Wunsch hätten, zu gestalten, d. h. zu zeigen, wie sie lieben.

Es soll das nicht allzu kraß stehen bleiben. Toller ist in seinem Wesen mehr Mystiker als Dichter, aber er ist doch auch Dichter. Seine visionären Szenen in der „Wandlung“ und teilweise auch in „Masse Mensch“, und vieles andere noch, sind dichterisch eigenartig und stark. Es sei bei dieser Gelegenheit noch sein Versspiel „Die Rache des verhöhnten Liebhabers“ erwähnt, ein liebenswürdiges, heiteres kleines Werk, wohl das Heiterste, was je in einem Gefängnis geschrieben worden ist.

Aber es mußte doch gezeigt werden, wie hier wieder in einem jüdischen Manne die mystische Liebe sich mit dem Drang paart, das Leben der Menschen politisch und erzieherisch zu beeinflussen. Bei Toller scheint dieses Letzte bisher ein fast ebenso starker Instinkt zu sein wie die Dichtung. Es handelt sich bei ihm hierbei sichtlich nicht um verstandesmäßig konstruierte Tätigkeit, sondern um einen Instinkt, elementaren Trieb, der ihn zu den Menschen, und natürlich zu den Unterdrückten und Schwachen, treibt. Es ist wohl auch anzunehmen, daß er sich in dieser Beziehung während der langen Zeit seiner Gefangenschaft treu geblieben sein wird. Er hat aber, wie wir zeigten, gelernt, daß das Ziel dieser Arbeit, wie es ihm ursprünglich vorschwebte, verkehrt war: es ist nicht möglich, den Geist im Leben der Menschen zu verwirklichen, weil ein viel zu geringer Bruchteil der Menschen dem Geist offen ist und auch von diesem Bruchteil die meisten irregeleitet sind. In diesem Bruchteil, d. h. in vielen einzelnen Menschen den Geist zu erwecken, das ist möglich und eine wichtige Aufgabe. Doch ist es keine Aufgabe der Politik, die die Einrichtungen des menschlichen Zusammenlebens zu verbessern strebt.

1) Der Dichter ist am 15. Juli nach Ablauf seiner „Strafzeit“ entlassen worden. D. Red.