Die Ukraine, bis vor dem zweiten Weltkrieg durch ihre reiche jüdische Bevölkerung geprägt, gilt als die Wiege der jüdischen Kultur in Osteuropa schlechthin. Vor allem die Zwischenkriegszeit war eine Phase, in der die jüdische Kultur in Galizien ihre Blütezeit durchlebte. Die zerstörte osteuropäisch-jüdische Kultur und deren jiddische Sprache ist heutzutage in den meist stark überalterten und kleinen jüdischen Gemeinden in der Ukraine kaum mehr anzutreffen. Für das aschkenasische Judentum stellt sie einen wichtigen Pfeiler ihrer jüdischen Identität dar…
Von Benji Epstein
Im Synagogenchor der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) entstand die Idee, eine Reise in die Ukraine zu planen. Das Unterfangen, auf den Spuren der einstigen jüdischen Kultur, sollte aber nicht nur eine Brücke in die Vergangenheit schlagen, sondern auch einen Gelegenheit bieten, mit dem Gesang zumindest kurzweilig noch einmal jüdisches Leben in den kleinen jüdischen Gemeinden der Ukraine aufleben zu lassen. Auf dem Programm standen Konzerte in Odessa in der grossen Philharmonie, in Czernowitz im ehemaligen jüdischen Theater und im Volkshaus von Kolomea sowie Auftritte in den Synagogen von Odessa und Lemberg.
Dem Medium Musik kam hierbei eine zentrale Rolle zu: Sie ist eines jener Merkmale osteuropäisch-jüdischer Kultur, die sich trotz Krieg und Massenmord Krieges behaupten konnte. Gerade weil der Synagogenchor aus Zürich oft im Rahmen des christlich-jüdischen Dialogs zu Konzerten in Kirchen eingeladen wird, lag die Absicht auf der Hand, Chasanuth und Chorgesang in die jüdischen Gemeinden an ihren Ursprung, in die heutige Ukraine, zurückzubringen. Mit seinen Auftritten und Konzerten im einstigen jüdischen Galizien wurde die Fahrt für den Chor zu einer eindrücklichen Reise, die von starken emotionalen Eindrücken und von durch Wehmut geprägte Begegnungen bestimmt wurde. Die jüdische Musik als kulturelles Element, welches einst in der Ukraine entstand und durch den Nationalsozialismus praktisch ganz ausgelöscht wurde, wurde somit nach über 60 Jahren durch den Chor an ihren Ursprungsort zurückgebracht.
Die Organisation der Reise oblag der Firma Jewish Culture Tours (JTC), deren Inhaber, Raymond Guggenheim, selbst über beste Kontakte mit jüdischen Gemeinden in der Ukraine verfügt und diese auch im Rahmen eines von ihm gegründeten wohltätigen Vereins tatkräftig unterstützt. Um diesen einmaligen und emotional hochstehenden Anlass auch für die Nachwelt festzuhalten, beabsichtigt der Chor, seine Reise durch einem Dokumentarfilmes einem breiteren Publikum näher zu bringen. Der Zürcher Filmemacher Walo Deuber begleitete den Chor zusammen mit dem Kameramann Joram Holtz, Sohn eines Chorsängers. Deuber, erfahrener Schweizer Dokumentarfilmer, ist auch Autor des bereit 1998 entstandenen und mit dem Zürcher Filmpreis prämierten Films „Spuren verschwinden – Nachträge ins europäische Gedächtnis“, der kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit Interviews von Überlebenden die Verfolgung und Ermordung der Juden Galiziens in eindrücklicher Form dokumentiert.
Die zehntätige Reise, welche im Mai dieses Jahres stattfand, führte insgesamt 18 Sänger in die Ukraine unter der Leitung des Dirigenten und Sängers Robert Braunschweig. Begleitet wurde der Chor von der Pianistin Noemi Rueff. Als Solist wirkte der frühere Zürcher Kantor Bernard San. Ebenfalls mit von der Partie waren einige Ehefrauen der Sänger sowie der bekannte Zürcher Maler Dan Rubinstein, der das Erlebte mit Papier und Bleistift festhielt.
NaNa Nachman
Ein eindrucksvoller Beginn der Reise gelang dem Chor mit seinem Konzert in Odessa vor über 1000 begeisterten Zuhörerinnen im ehrwürdigen Gebäude der Philharmonie. Eine zweitägige Busfahrt nach Czernowitz brachte den Chor danach über die für den Chassidismus bedeutenden Orte Uman und Medzibozh, wo der Chor die Gräber von Rabbi Nachmann und des Baal Schem Tov besuchte. Beide Orte werden heute jährlich von Tausenden von Chassidim besucht, wobei der einstige Stetl-Charakter durch ein nach westlichem Vorbild kommerzialisiertes Pilgertum abgelöst wurde.
Anders als in Odessa schuf das Konzert in Czernowitz bei dem Chor eine eher nachdenkliche Stimmung. Der Auftritt im neu renovierten jüdischen Theater, in welchem erstmals seit über 60 Jahren wieder jiddische Lieder erklangen, war zwar gut besucht, doch die nur wenigen jüdischen Besucher machten klar, dass die einstige jüdische Hochburg Czernowitz, die wie keine andere Stadt Osteuropas durch bedeutende Autoren in deutscher und jiddischer Sprache geprägt worden war, durch den Nationalsozialismus ihren jüdischen Charakter verloren hat. Nur vereinzelte Gedenktafeln und Gebäude erinnern an die blühende jüdische Vergangenheit. So zum Beispiel eine Tafel in der einstigen Hauptsynagoge, die heute als Kino genutzt und im Volksmund auch „Cinemagoge“ genannt wird. Sie dokumentiert einen traurigen Bezug zwischen Czernowitz und der Schweiz: Sie erinnert an Josef Schmidt, den berühmten Tenor der Zwischenkriegszeit, der in dieser ehemaligen Synagoge als Kantor wirkte. Schmid gelang nach wirrer Flucht die Einreise in die Schweiz, wo er in der Nähe von Zürich in einem Arbeitslager viel zu jung gestorben ist.
Nach einer Fahrt durch die Karpaten erreichte die Reisegruppe die Provinzstadt Kolomea (Kolomyja) im Herzen Galiziens. Bis vor dem Krieg mehrheitlich von Juden bewohnt, war Kolomea während des Zweiten Weltkriegs ein zentraler Deportationsort. Heute besteht die dortige kleine jüdische Gemeinde aus ca. 180 Mitgliedern. Das abendliche Konzert im Volkshaus wurde zwar vor einem mehrheitlich nicht-jüdischen Publikum aufgeführt, doch auch der Blick von der Bühne aus in die Augen einer handvoll betagter Juden bestätigte den Chor in seiner Absicht, den noch wenigen Überlebenden ein Stück ihrer Kultur zurückzubringen. Besonders eindrücklich war das Ende des Konzertes, das mit dem Lied „Ejn keEloheinu – keiner ist wie Gott“ schloss: Still und respektvoll erhob sich das Publikum. Ron Epstein, der Initiant der Reise, meint: „Es war ein erregender Augenblick, als sich das Publikum vor der letzten Zugabe erhob und somit einerseits seinen Respekt dem Synagogenchor aber auch der vergangenen Kultur gegenüber zollte.“
Den Shabbat verbrachte der Chor danach in Lemberg, wo er dem Morgengottesdienst in der neu renovierten Synagoge beiwohnte. Die Gemeinde wird, wie andernorts in der Ukraine, von einem amerikanischen Rabbiner geführt. Dennoch wandern die meisten Juden aus, sei es nach Israel, Deutschland oder in die USA. Auch vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirtschaftskrise wird es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis auch in Lemberg die jüdischen Institutionen ihre Tore schließen.
Den eindrücklichen Abschluss der Reise bildete der Besuch des Deportationslager Yanovska und der dazugehörigen Zugstation in einem Vorort von Lemberg, von wo aus 1941-43 über 500.000 Juden deportiert wurden.
Die Gruppe wurde allmählich von den Eindrücken der dunklen Vergangenheit Galiziens erschüttert, die nach vollbrachten Konzerten und Auftritten immer in den Vordergrund trat. Ron Epstein meint, dass es vor allem schrecklich zu sehen sei, dass die Gedenkorte jüdischer Verfolgung in der Ukraine nur selten unterhalten werden. Der ukrainische Staat bemühe sich im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung nur zaghaft um eine Instandhaltung der Gedenkstätten, da er selbst Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen sei. Es fehle einfach am notwendigen Respekt, dies um so mehr, als die Lemberger Innenstadt zum UNESCO-Welterbe ernannt wurde und sich die Stadt als Austragungsort für die millionenschwere Fussball-Weltmeisterschaft 2012 beworben hat.