Der alternde Chef knöpft sich, einmal mehr, den amtierenden Staatschef als persönlichen Hauptfeind vor. Jean-Marie Le Pen war bereits mit Jacques Chirac – den er im Wahlkampf 2001/02 zu seinem Intimfeind erkor – so verfahren. Und nun scheint er es mit Nicolas Sarkozy (dessen Aufstieg er noch 2005 gegen Chirac verbal unterstützt hatte) ähnlich zu halten…
Von Bernard Schmid, Paris
Am vergangenen Donnerstag, den 28. Mai sprach der demnächst 81jährige Chef des Front National vor über 1.000 Menschen in einem Saal im Raum Lyon. Dabei arbeitete er sich insbesondere an Präsident Sarkozy ab, dem gegenüber er tatsächlich ein ernsthaftes Problem hat: Bei den Wahlen vor nunmehr gut zwei Jahren konnte der konservative Kandidat zum ersten Mal den Stimmenanteil des rechtsextremen FN senken, und rund eine Million seiner früherer Wähler zu sich herüberziehen. Das daraus erwachsende strategische Problem hat die rechtsextreme Partei bislang nicht überwinden können: Wie soll man es mit der konservativen Rechten halten?
Ihr Wahlprogramm von 2006/07 – das Le Pen, Vater und Tochter, bislang als Abkupferung des eigenen Programms bezeichneten – gegen dessen „zu schwache Umsetzung in die Wirklichkeit“ durch Sarkozy einklagen? Oder aber sich als „Fundamentalopposition“ gegen alle „antinationalen Systemparteien“, inklusive der Konservativen, und zugleich als vermeintlichen Träger des sozialen Protests aufspielen? In beiden Fällen kann der FN nicht dasselbe Publik ansprechen: Der erstgenannte Diskurs zielt auf das eventuell von Sarkozy enttäuschte, konservativ-mittelständische Publikum, das wiederum mit dem letztgenannten Profil (und dem Appell an die sozialen „Verlierer“) nichts anfangen kann. Im Augenblick hängt der FN bei dem großen Spagat zwischen beiden Varianten ziemlich in der Luft.
Eine der Pointen Jean-Marie Le Pens in seiner Lyoner Rede lautete: „Sarkozy glaubt, den FN getötet zu haben. Nein, (sondern) er hat ihn bestohlen.“ Das war ganz in dem Sinne gemeint, dass er ‚uns unser Wahlprogramm geklaut hatte, um es nun nicht anzuwenden’. Der alte Chef fügte hinzu: „Jene, die sich von Le Pen (Anm.: er spricht von sich in der dritten Person) abgewandt hatten, um Sarkozy zu unterstützen, sind mit Füßen getreten worden. Sie sind in aller Öffentlichkeit ‚Cocus’ (Anm.: so nennt man von ihren Ehefrauen ‚betrogene’ Männer)…“ In eher ‚fundamentaloppositioneller’ Diktion fügte Jean-Marie Le Pen hinzu: „Öffnet die Augen, Franzosen, und guckt an, was Euch auf den Gebieten der Einwanderung, der Arbeitslosigkeit und der Unsicherheit erwartet. (…) Die Parole der (Regierungspartei) UMP –
Der Appell an das wirtschaftliche Bedrohungsgefühl dürfte für den FN dabei im Augenblick aussichtsreicher sein, als jener an reaktionäre Stimmungslagen bei den Themen „Unsicherheit“ und „Einwanderung“. Denn die beiden letztgenannten Themen werden derzeit durch die konservative Regierungspartei UMP erfolgreich besetzt, die einen – aussichtsreichen, sofern man den Umfragen Glauben schenkt – Wahlkampf mit den Schwerpunktthemen „Innere Sicherheit“ und „Jugendbanden“, Einwanderung sowie Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts führt. Damit liegt die UMP derzeit mindestens sieben Prozentpunkte vor der französischen Sozialdemokratie als stärkster Oppositionspartei. Es lässt zugleich dem rechtsextremen FN relativ wenig Raum, um sich noch rechts von der UMP profilieren zu können.
Der Wahlkampf Jean-Marie Le Pens, der im Wahlkreis Südostfrankreich zur EP-Wahl antritt, ist in diesem Jahr relativ arm an Höhepunkten. Als Wahlziel hat er selbst „acht bis zehn Prozent“ der Stimmen – was nicht allzu hoch erscheint, gemessen an früheren Stimmergebnissen der Partei – angegeben. Am Pfingstwochenende korrigierte die Tochter, Marine Le Pen, die Erwartungen allerdings auf „ein zweistelliges Ergebnis“ nach oben.
Nicht nur die „Dissidenten“listen der früheren FN-Parteifunktionäre Carl Lang (in den Wahlkreisen Nordwestfrankreich und Zentralmassiv) sowie Jean-Claude Martinez (im Raum Montpellier) machen Jean-Marie Le Pen derzeit zu schaffen. Die beiden Listen unterscheiden sich punktuell vom FN, so legt Carl Lang stärker Wert auf die Forderung eines „europäischen Protektionismus“, während die Rumpfpartei eher anti-europäische Töne klopft und überwiegend den Nationalstaat (neben und vor der EU) als angeblichen Schutzwall gegen die internationale Wirtschaftskrise darstellt. Jean-Claude Martinez versucht, den FN bei den reaktionärsten Katholiken zu übertrumpfen, und spuckt „Lebensschützer“töne. Beiden Listen werden aber derzeit nur rund 0,5 Prozent der Stimmen zugetraut.
Nicht unbedingt bei der breiten Masse der Wählerschaft (wo sie eher ausgesprochen schwach abschneiden dürfte), aber innerhalb des rechtsextremen Aktivistenspektrums hat Jean-Marie Le Pen einen weiteren, gewichtigen Konkurrenten in Gestalt der so genannten Antizionistischen Liste gefunden. Diese Liste – in Wirklichkeit ein reines Sammelbecken für Antisemiten – tritt nur im Wahlkreis Ile-de-France (Großraum Paris) an. Sie wird von dem „schwarzen Mischling“ Dieudonné M’bala M’bala sowie dem früheren Anführer des „rot-braunen“ Flügels des FN, Alain Soral, geleitet und ist überwiegend nationalrevolutionär und von rechtem Pseudo-Antiimperialismus geprägt. Die Liste präsentiert sich als angeblich palästinenserfreundlich; die wirklichen, lebenden Palästinenser/innen haben das Antisemitenpack freilich um überhaupt nichts gebeten.
Auch die organisierte extreme Rechte ist, neben moslemischen Fundamentalisten (der schiitische Sektenführer Yahia Gouasmi kandidiert auf dem fünften Listenplatz), durchgeknallten Verschwörungstheoretikern und anderen Politidioten, auf der antisemitischen Liste vertreten. Dort findet man unter anderem Mickael Guérin, den Regionalchef der FN-eigenen Jugendorganisation FNJ im Raum Lyon, als Kandidat. Noch am 18. April 2009 war er in Annecy an der Seite von Jean-Marie Le Pen aufgetreten. Guérin zählt zur nationalrevolutionären Strömung des rechtsextremen Spektrums. Auch die offen neofaschistische und „nationalistisch-katholische“ Gruppierung Renouveau français (RF) ist auf der Liste vertreten, in Gestalt der jungen Kandidatin Emmanuelle Grilli – die aufgrund ihrer Präsenz auf der „Antizionistischen Liste“ jedoch vom RF ausgeschlossen wurde – und des Chefs der dem RF (aber auch Teilen des FN) nahe stehenden Gesellschaft der „Französisch-serbischen Brüderlichkeit“ FFS, Charles Alban Schepens. Und gedruckt wird das Wahlkampfmaterial der Liste von dem Druckunternehmer Fernand de Rachinel – früher Front National (und einer von dessen sieben Abgeordneten im scheidenden Europaparlament), jetzt Unterstützer von Carl Lang.
Am Pfingstsonntag, den 31. Mai 2009 zeigte die Dieudonné-Liste mit ihren Spitzenkandidaten und um die sechzig gewaltbereiten Anhängern – faschistischen Schlägern, Fußball-Hooligans sowie den Aktivisten der schiitischen Sekte von Yahia Gouasmi (des Centre Zahra) – Präsenz auf einem Straßenmarkt im 20. Pariser Bezirk, der auch zu den Hochburgen antifaschistischer und linker Gruppen zählt. Der aus 60 Mann bestehende Mob ging dabei auf rund 20 junge AntifaschistInnen los, und es kam zu einer Schlägerei, bei der das Antisemitenpack sich anscheinend auch für seinen Hinauswurf aus der Demo gegen den Gazakrieg am 24. Januar 2009 durch radikale Antifas „rächen“ wollte. Im Anschluss wurden fünf Antifaschisten festgenommen, die derzeit noch im Polizeigewahrsam sitzen; es hat ganz offenkundig die falschen Personen getroffen. (Vgl. http://bellaciao.org und das Kommuniqué der anarchokommunistischen Gruppe Alternative Libertaire. Siehe auch das Video von der, durch die Antisemiten angezettelten Prügelei.)
Am selben Tag wurde bekannt, dass der durchgeknallte „antiimperialistische“ Ex-Terrorist und frühere Söldner arabischer Diktaturen, Ramirez Ilich Sanchez alias „Carlos“ – der in Frankreich, zu Recht, eine lebenslange Haft absitzt – aus dem Knast heraus die Liste Dieudonné unterstützt. Dies hatte er auf einer Postkarte vom 24.o5.o9 an die berüchtigte Auschwitzleugnerin Ginette Skandrani, die vor Jahren aufgrund ihrer Holocaustleugnung aus der grünen Partei ausgeschlossen worden ist, mitgeteilt – und ihr darin für ihren „Brief vom 13. April“ gedankt, was darauf hinweist, dass die beiden Vögel im regelmäßigen Kontakt zueinander stehen…
Am Pfingstmontag, den 1. Juni 2009 wurde dann auf einer Veranstaltung der Liste in Paris vor 250 Anhänger/inne/n ein Video ausgestrahlt, in dem der venezolanische Staatsbürger „Carlos“ die versammelten Anhänger aufforderte, sich „nicht von Zigeunern und Juden als ‚Antisemiten’ abstempeln zu lassen“. Die von ihm angegriffenen Personenkreise bezeichnete Carlos als ‚anti-France’ und fügte hinzu: „Verzeiht mir, wenn ich ein Wort aus der Vichy-Ära benutze, aber ich nenne sie Antifrankreich.“ Der verrückte, vorgebliche „Palästinenserfreund“ Carlos hatte sich schon im Spätherbst 1997, als er in Frankreich vor Gericht stand, positiv auf die „nationale Rechte“ bezogen: Letztere beuge sich nicht jüdischen, pardon, „zionistischen“ Interessen. Ferner habe „die nationale Rechte“, gemeint war offenkundig der FN, im Jahr 1986 als einzige Partei im Parlament gegen das „Antiterrorismusgesetz“ des damaligen Innenministers und Law & Order-Scharfmachers Charles Pasqua gestimmt und sich dadurch als ehrenhaft erwiesen. (Dies stimmt übrigens – aber allein deswegen, weil dieses Gesetz nicht die Todesstrafe enthielt, welche die damalige FN-Fraktion angesichts der Attentatswelle im Herbst 1986 lautstark forderte.) Aus demselben Anlass griff „Carlos“ die damalige Prozessführung gegen Maurice Papon an – dem früheren Staatsbürokraten und Minister wurde seinerzeit in Bordeaux der Prozess gemacht, weil er in den Jahren 1942 bis 44 die Deportation von insgesamt 1.700 Juden und Jüdinnen aus Südwestfrankreich in die Nazi-Vernichtungslager organisiert hatte. Der inzwischen verstorbene Papon wurde dafür als erster Franzose wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit/Menschheit“ verurteilt, und erhielt 1998 eine zehnjährige Haftstrafe. „Carlos“ behauptete im Dezember 1997 in seinen Prozesseinlassungen, beim Prozess gegen Papon – wie im Übrigen bei seinem eigenen – handele es sich um eine zionistische Manipulation.
Die Antifa-Recherchegruppe (SCALP-)Reflexes vermutet unterdessen, die Tatsache, dass das mit den Anliegen nationalkonservativer Mittelständler kaum vereinbare Profil der antisemitischen, behaupteten „Anti-System-Liste“ des Antisemitenpacks dem FN eine neue Positionierung erlaube: Sie wasche ihn von den Vorwürfen des Antisemitismus und des Extremismus tendenziell rein, da der FN im Vergleich zu ihr noch moderat wirke. Und bereite so eventuellen künftigen Bündnissen zwischen Konservativen und FN den Weg. Abwarten…
Der Front National reagiert unterdessen auf den Ansturm seines antisemitischen Konkurrenten Dieudonné – mit Alain Soral im Gepäck, von Anfang 2006 bis Anfang 2009 Mitglied im Zentralkomitee (dritthöchsten Führungsgremium) der Lepenpartei -, indem er ihre Liste als quasi-linke Kraft ohne nationalen Verantwortungssinn hinstellt. Die Webpage ‚Nations Presse info’ (NPI), die dem FN nahe steht und besonders die Seilschaft rund um Marine Le Pen unterstützt, kramte so ein älteres Foto von Dieudonné hervor. Es zeigt in bei der Teilnahme an einer Demonstration für die Anerkennung der Rechte der ‚Sans papiers’ (illegalisierten Einwanderer) am 9. September 2006 in Paris. Das war vor dem radikalen Rechtsschwenk des Herrn Dieudonné, den er besiegelte, als er am 11. November 2006 Jean-Marie Le Pen auf dem „Präsidentschaftskonvent“ von dessen rechtsextremer Partei im Pariser Vorort Le Bourget traf und ihm dort die Hand drückte. (Später, im Juli 2008, erhob Dieudonné den alternden Le Pen zum Taufpaten seines vierten Kindes; und am 26. Dezember 2008 nahm Jean-Marie Le Pen am „Spektakel“ Dieudonnés im Pariser Konzertsaal Le Zénith teil, wo dieser auch den prominenten Auschwitzleugner Robert Faurisson auftreten ließ.) Dieudonné sei „ein Freund der Sans papiers und von José Bové“ (des linksalternativen Bauerngewerkschaftssprechers), lautet die Überschrift dazu. Bemerkenswert ist auch, dass der Artikel auf NPI sich dabei positiv auf die israelische Rechte oder extreme Rechte bezieht und daran erinnert, dass Anhänger dieser politischen Kräfte José Bové im Jahr 2003 – bei dessen Rückkehr von einer Reise in die besetzten palästinensischen Gebiete – einen unangenehmen Empfang am Pariser Flughafen Orly bereiteten.
Der politische Konkurrenz- und Ausrichtungskampf auf der extremen Rechten ist nunmehr in voller Hitze entbrannt.