„Die jemenitischen Juden“ von Sigmund Feist (1925)

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„Stammeskunde der Juden“ ist eine Monografie betitelt, die sich Juden in verschiedenen Teilen der Erde widmet, so auch den jemenitischen Juden. Zu den Spezialgebieten ihres Autors, des Pädagogen, Sprachwissenschaftlers und Germanisten Sigmund Feist zählten zwar Völkerkunde und Judaistik nicht, dennoch hat er sich auch hier hohe Anerkennung erworben…

Von Yehudith Shapiro und Robert Schlickewitz

Der am 12. 6. 1865 geborene Feist stammte aus Mainz, wo er als Kaufmannssohn in bürgerlichen Verhältnissen heranwuchs. Nach Abschluss seiner Dissertation im damals noch deutschen Straßburg trat er eine Stelle als Lehrer in Bingen am Rhein an. Später eröffnete er in seiner Geburtsstadt Mainz eine eigene Privatschule mit Internat. Diese trug ihm ein derart hohes Ansehen ein, dass er aus Berlin den Ruf erhielt, die Leitung des dortigen Reichenheimischen Waisenhauses, einer Stiftung, zu übernehmen. Der Umzug in die Hauptstadt des Kaiserreiches im Jahre 1906 eröffnete Feist die denkbar besten Voraussetzungen für seine Tätigkeiten als Privatgelehrter. Denn schon seit längerer Zeit hatte er sich mit Sprachen sowie Linguistik beschäftigt und die reich ausgestatteten Bibliotheken der großen Stadt lieferten ihm eine Fülle neuen Materials.

Feist und seine Familie gehörten dem assimilierten deutschen Judentum an, wobei jüdische Tradition und jüdische Feiertage bei ihnen eine große Rolle spielten. Dazu zählte auch Feists Einbindung in das Gemeindeleben und die Übernahme von verschiedenen Ämtern dort. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wirkte er in wichtiger Funktion für das Kriegspresseamt, indem er geheime Depeschen übersetzte; seine Kenntnisse auch in weniger geläufigen Sprachen hatten ihn als hierfür geradezu prädestiniert erscheinen lassen. Aufgrund der dabei erlangten Informationen über den Verlauf der Kampfhandlungen war Feist in der Lage sehr früh zu erkennen, dass Deutschland das vom Zaun gebrochene Völkerringen nicht mehr siegreich würde beenden können.

Während der Kriegsjahre führte der Pädagoge ausgedehnte Korrespondenzen mit jüdischen Deutschen im Felde; diese auch heute noch wertvollen Dokumente beherbergt seit 1995 das Centrum Judaicum der Neuen Synagoge zu Berlin; im Jahre 2002 erfolgte eine Veröffentlichung dieser Briefe.

Die wichtigsten Werke von Dr. Sigmund Feist erschienen in den 1920er Jahren, einige seien hier aufgezählt: „Einführung in das Gotische“, „Etymologisches Wörterbuch der gotischen Sprache“, „Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache mit Einschluß des Krimgotischen und sonstiger zerstreuter Überreste des Gotischen“, „Indogermanen und Germanen“, „Germanen und Kelten in der antiken Überlieferung“, „Stammeskunde der Juden“, „Die Ethnographie der Juden“ (gemeinsam mit Lionel S. Reisz), „Rassenkunde des jüdischen Volkes“, „Ein Zeitgenosse Alexanders des Großen über die Juden“, etc.

Den besonderen Wert seiner sprachwissenschaftlichen Arbeiten verdeutlicht u. a. die Tatsache, dass sein „Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache“ nach dem Zweiten Weltkrieg noch mindestens eine Neuauflage erlebte. Feist fungierte zusätzlich als Herausgeber des „Jahresberichts für germanische Philosophie“ und gehörte dem Berliner Germanistenverein an, wo er mit dem Antisemiten Gustav Roethe zusammentraf.

Die Veröffentlichung seiner Schrift „Kelten und Germanen“ (1927) rief eine Kontroverse hervor, die zu Anfeindungen übelsten, antisemitischen Charakters führten. Jene waren offensichtlich auch der Grund, weswegen das Preußische Kultusministerium letztendlich den Professorentitel an Feist nicht verlieh.

Den schriftlichen Erinnerungen seiner Tochter Elisabeth Feist-Hirsch ist zu entnehmen, dass das Waisenhaus bis 1935 von den Nationalsozialisten unbehelligt blieb. Dennoch war der Gelehrte 1939 gezwungen zu emigrieren, wobei er das Glück hatte, dass eine dänische Runenforscherin für ihn bürgte. Vier Jahre später, am 23. 3. 1943, verstarb er in Kopenhagen.

Die jemenitischen Juden betrachtet Feist in „Stammeskunde der Juden“ zunächst in Betreff auf ihre Ansiedlung; dann geht er auf ihre Geschichte ein, er erwähnt die wichtigsten Reisenden und Forscher sowie weitere Berührungspunkte der Minderheit zur Außenwelt und er beschreibt Lebensverhältnisse, anthropologische Besonderheiten, Lebensweisen sowie Gebräuche.

„Die jemenitischen Juden.

Die Ansässigmachung von Juden auf der Halbinsel Arabien datiert sicher aus sehr alter Zeit, ohne daß sich der genaue Termin ihrer ersten Ansiedlung bestimmen ließe. Vermutlich flüchteten nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus und nach der Niederwerfung der späteren Aufstände unter den Kaisern Trajan und Hadrian viele Juden, die dem Blutbad entronnen waren, wie nach Ägypten und Kyrene auch nach Arabien. Späterer Zuzug wird die Flüchtlinge verstärkt haben, und die Propaganda für die jüdische Religion unter den ihnen rassenhaft und sprachlich nahestehenden Arabern führte den jüdischen Kolonien neues Blut zu. Drei Mittelpunkte jüdischer Ansiedlung sind auf der arabischen Halbinsel nachzuweisen: Im Norden (im Hedschas) in der Landschaft Chaibar, wo die Juden in der Art der kriegerischen arabischen Beduinen lebten. Dieselbe Lebensart führten sie in der Stadt Jathrib (=dem späteren Medina) und dessen Umgebung, wo sie ihre Unabhängigkeit durch (angeblich 59) Burgen an hochgelegenen Plätzen ganz wie die späteren Ritter zu schützen verstanden. Endlich wohnten zahlreiche Juden in Südarabien (Jemen), wo Abī Karib, König der Himjariten, um 500 n. Chr. zum Judentum übertrat und viele Vornehme seines Reiches auch dazu veranlaßte. Dieses jüdische Königtum war freilich nicht von langer Dauer. Um 530 n. Chr. wurde sein Nachfolger Dhu Nūwas von den verbündeten christlichen Byzantinern und Abessiniern geschlagen. Das hatte auch unheilvolle Folgen für die nordarabischen Juden bei Jathrib; sie gerieten in langandauernde Fehden mit den umwohnenden arabischen Stämmen, die erst 615 n. Chr. durch einen Friedensschluß einen vorläufigen Abschluß erhielten. Aber die frühere jüdische Vorherrschaft war jetzt durch einen Gleichgewichtszustand zwischen Juden und Arabern abgelöst worden. Unmittelbar darauf fällt nun das Auftreten Mohammeds und die Stiftung des Islam. Anfangs stand er freundlich zu den Juden von Jathrib, und viele von ihnen wurden seine Anhänger, ganz wie es einst mit Jesus von Galiläa geschehen war. Seit 624 n. Chr. aber trat er in scharfen Gegensatz zu den Juden, rüstete ein Heer gegen sie und schlug sie in verschiedenen Treffen (627 n. Chr.). Ein Jahr darauf traf dasselbe Schicksal auch die Juden der Landschaft Chaibar (628 n. Chr.). Mohammeds Tod (632 n. Chr.) wurde daher von den Juden Arabiens als Erlösung betrachtet. Doch sein zweiter Nachfolger, der Kalif Omar, war nicht milder gegen die Juden als Mohammed; er vertrieb alle Juden aus der Umgegend von Medina und aus Nordarabien überhaupt und siedelte die Übriggebliebenen in der Nähe der Stadt Kufa am Euphrat an (640 n. Chr.).

Die Juden des weiter entfernten Jemen entgingen damals einem ähnlichen Schicksal. Doch hatten sie in den folgenden Jahrhunderten sehr unter dem Fanatismus der Araber zu leiden; viele von ihnen mußten unter Zwang den Islam annehmen (um 1172 n. Chr.). In ihrer Not wandten sich die jemenitischen Juden an den damals berühmtesten Lehrer unter den Juden, Maimonides, dem einer ihrer geistigen Führer, Jakob ben Nathanael ibn Al Fajjumi, in einem Brief die Leiden seiner Glaubensgenossen schilderte. Das Antwort- und Trostschreiben Maimunis (Iggeret Teman) ist noch erhalten. Es tröstet die Juden im Jemen und weist sie auf die ähnlichen Leiden hin, die ihre Brüder in Spanien zur gleichen Zeit zu erdulden hatten (unter den Almohaden). Er warnt sie vor einem jüdischen Schwärmer, der damals im Jemen das Kommen des Messias verkündete, und zeigt ihnen an vielen sonst unbekannten Beispielen, daß alle solche Prophezeiungen sich nicht erfüllt hätten.

Die Zeit der Verfolgungen überstanden die Juden im Jemen ebenso wie sie sich in Nordarabien nach ihrer Vertreibung in der ersten Zeit des Islam wieder angesiedelt hatten. Sie waren hier im 12. Jahrhundert sogar weit zahlreicher als in Südarabien, wo damals nur 3000 Juden gelebt haben sollen (nach Benjamin von Tudela). Sie lebten als unabhängige kriegerische Stämme, die teils Handel trieben, teils als Beduinen die Karawanen überfielen und ausplünderten. Die Zahlen, die Benjamin von Tudela für sie angibt (300 000, wovon 50 000 in der Landschaft Chaibar), sind vermutlich aber weit übertrieben.

Heute ist von den nordarabischen Juden wohl so gut wie nichts übrig geblieben, während die jemenitischen Juden, allerdings durch dauernde Auswanderung immer mehr vermindert, noch eine ansehnliche und eigenartige Gemeinschaft bilden, die neuerdings auch wieder in Konnex mit ihren europäischen Glaubensgenossen getreten ist. Schon im 18. Jahrhundert wurden die Juden im Jemen von dem deutschen Weltreisenden Karsten Niehbur aufgesucht (1736); aus seinen veröffentlichten Beobachtungen über die jüdischen Bewohner des Landes sei hier das Wesentliche mitgeteilt: ‚Gesondert von der Stadt Sana’a liegt das Judendorf Ka’a el Jehud genannt, wo 2000 Juden in großer Verachtung leben. Dennoch befinden sich unter diesen ihre besten Handwerker, wie Töpfer, Goldschmiede, Schriftstecher, Münzarbeiter und andere, die den Tag über in den Buden in Sana’a arbeiten, aber in ihr abgesondertes Quartier sich zurückziehen mußten. Auch ansehnliche Kaufleute waren unter ihnen, von denen einer den Posten eines Inspektors der Gärten, Paläste und Zölle des Imam hatte. Kurz vor Niebuhrs Ankunft ließ man ihn in Ungnade fallen, um eine große Geldsumme von ihm erpressen zu können. Zu gleicher Zeit wurden von den 14 Synagogen der Juden 12 niedergerissen; auch alle ihre schönen Häuser wurden zerstört und alles Geschirr darin zerschlagen. Die Juden gaben die Zahl der Familien auf 5000 an, die in Sana’a, in Tenaim, in Chaulân wohnten‘. 

Später befand sich das Judenquartier innerhalb der Mauern von Sana’a mit dem Judentor (Bab el Jehud) als Zugang wie noch heute. Im Jahre 1836 besucht ein christlicher Missionar Jos. Wolff die Juden in Sana’a und weiß über sie verschiedenes Neue zu  berichten. Sie stehen mit ihren Glaubensgenossen in Bassora und Bagdad, in Bombay und Calcutta im Briefwechsel; aus letzterem Ort erhalten sie ihre hebräischen Bücher. Sie hofften damals wieder auf die Ankunft des Messias und die Bewegung war groß im Jemen wie in ganz Arabien. Einzelne Juden pilgerten nach Jerusalem, um ihn dort zu erwarten. Wolff schätzte die Zahl der Juden in Sana’a auf 15 000, im ganzen Land auf 200 000, die unter den verschiedensten arabischen Stämmen, auch in Aden leben sollten. Mehrere Juden in Sana’a ließen sich taufen und nahmen das neue Testament dankend an. Die Juden waren sehr begierig, Nachrichten von ihren  Glaubensbrüdern in Europa zu hören, wobei der Missionar ihnen die Namen Rothschild und Goldschmidt nannte. Sie lebten in Sana’a in Polygamie und hatten 18 Synagogen; die Gesetzesrollen, die sich in der größten (Bet Alusta) fanden, waren mit ausgesuchter Schönheit geschrieben. Ihre Häuser waren sehr nett, sie selbst sehr gastfrei. Einer der Neugetauften begleitete den Missionar zur Küste zurück.
Von jüdischer Seite aus wird zum ersten Mal im Jahre 1859 der Versuch unternommen, in Berührung mit den Glaubensgenossen in Südarabien zu treten. Jakob Saphir, ein Rabbiner aus Jerusalem, reist nach dem Jemen, wo er sich 6 Jahre aufhält; er legt dann die Ergebnisse seiner Forschungen in einem zweibändigen hebräisch geschriebenen Werk nieder. 10 Jahre später besucht sie der Franzose Joseph Halévy und berichtet über seine Studien in dem Bulletin de la Société de Géographie de Paris. Endlich beauftragte im Jahre 1910 das Zentralkomitee der Alliance israélite universelle den Schuldirektor Jomtob Semach aus Beirut, sich an Ort und Stelle über die Lage der jemenitischen Juden zu unterrichten. Über diese Reise hat Herr Semach der Alliance einen ausführlichen Bericht eingereicht, aus dem wir mancherlei Angaben entnehmen. Kurz vor Kriegsausbruch wurde in Berlin ein seine Wirksamkeit über ganz Deutschland ausbreitendes Hilfskomitee für die jemenitischen Juden ins Leben gerufen, dessen Tätigkeit aber infolge des Weltkrieges bald eingestellt wurde.

Während die verschiedenen Gruppen der asiatischen Juden keinen  einheitlichen Typhus darstellten, da sich jede von ihnen mehr oder minder mit fremden Bestandteilen, die in der Regel dem einheimischen Element entstammen, vermischt und sich dadurch der Umgebung mehr oder weniger angeglichen hat, so haben sich die jemenitischen Juden in ihrer Abgeschlossenheit reiner erhalten und auch ihre Eigenheit gegenüber den Araberstämmen Südwestarabiens zu bewahren verstanden.

Die Juden Jemens wohnen nicht, wie man es bei einem zumeist handeltreibenden Volk erwarten sollte, in den Hafenstädten – in Hodeida gibt es keine Juden – sondern auf der Hochfläche des Jemen und des nördlich daran grenzenden Asir findet man Juden in den Ortschaften Sa’ada, Maklaf, Negran, Beihan, und im Wüstengebiet gibt es große und kräftige Juden, die als Beduinen leben, wie diese kriegerisch sind und stets mit dem krummen Djambieh und der langen Flinte bewaffnet sind. Sie schneiden ihr Haar niemals und tragen weiße Gewänder, die allerdings meist so schmutzig sind, daß man sie für schwarz halten kann.

Hermann Burchardt(ermordet 1909 im Jemen) schreibt im Jahre 1901: Von Hodeida nach Sana’a reisend traf ich die ersten Juden in größerer Zahl in Menaha, einer kleinen Gebirgsstadt von ungefähr 6000 Einwohnern. Sana’a, die Hauptstadt des Jemen hat ein eigenes Judenviertel, in dem 6000 bis 8000 Juden wohnen. Im Jahre 1905 sollten im Jemen noch 40 000 Juden wohnen. Davon waren aber wegen der Verfolgungen durch die Araber schon 3000 nach Aden, das bekanntlich in englischem Besitz ist, gezogen. Seitdem hat sich ihre Zahl von Jahr zu Jahr vermindert. (Nach der Statistik von Jomtob Semach war im Jahre 1910 die Zahl der jemenitischen Juden von 60 000 im Jahre 1898 auf 15-16 000 gesunken, von denen etwa 3000 in Sana’a wohnten.)

In unmittelbarer Nähe von Sana’a befinden sich einige kleine Judendörfer mit sehr armer Bevölkerung, die sich durch Töpferarbeiten und Steinhauen ernährt. Burchardt traf auf seinem Ritt nach dem zwei Tagreisen in nördlicher Richtung entfernten Musvâr in fast allen Dörfern besondere Judenquartiere. Auch auf der Reise von Sana’a nach Aden traf er überall Juden, in den Orten Weilan, Dhammar, Jerim, Redda. Etwa 2 km von Redda entfernt liegt ein sehr romantisches Judendorf, El-Girahe. Hohe Felsen hängen über dem aus wenigen Häusern bestehenden Ort. Die Bewohner beschäftigen sich ausschließlich mit der Anfertigung von Töpferwaren, die wegen ihrer Güte weithin ein sehr begehrter Artikel sind

Das Judenviertel von Sana’a beginnt am Judentor (Bab el Jehud) und besteht aus einer sehr breiten Straße, zu deren beiden Seiten Lehmhäuser mit einer großen Menge winziger Fenster stehen. Von dieser Straße biegen kleine, schmutzige und übelriechende Straßen  ab. In den Häusern gelangt man durch niedrige Türen in einen dunklen Gang, dann über einige Stufen in einen gepflasterten Hof mit glänzend weiß gegipsten Mauern. Weiß getüncht sind auch die Zimmer, oft mit Teppichen belegt und mit Matratzen längs der Wände. Stühle gibt es nicht.

Ein großer Teil des Judenviertels liegt infolge einer Belagerung aufständiger Araber zu Anfang dieses Jahrhunderts noch in Trümmern. Da viele Juden infolge der Entbehrungen umgekommen, andere ausgewandert sind, so wird das Zerstörte nicht wieder aufgebaut.

Die jemenitischen Juden sind immer in Fühlung mit dem übrigen Judentum geblieben, so daß ihnen die ganze rabbinische Literatur bekannt ist und sie in religiöser Beziehung von dem allgemeinen Standpunkt des Judentums kaum abweichen. Auch die messianischen Hoffnungen des Judentums teilen sie und haben eine heiße Liebe zu Jerusalem, das das Ziel ihrer Sehnsucht bildet. Vor etwa 30 Jahren begann die Auswanderung der Juden aus dem Jemen nach Palästina, dem englischen Aden und der italienischen Kolonie Erythräa in größerem Maßstabe; sie dehnte sich immer mehr aus, je härter die Bedrückungen durch die Araberscheichs wurden, was eine Folge der sinkenden Macht der Türken im Jemen war. Auch die Hungersnot des Jahres 1905, die zahllosen Juden den Tod brachte, verstärkte den Zug der Auswanderer.

Die jemenitischen Einwanderer in Palästina sind in den dortigen Kolonien gern gesehen, da sie fleißig und anspruchslos sind. Sie betätigen sich bei aller Art Landarbeit, aber auch im Handwerk, als Wächter, als Schreiber usw. In den letzten Jahren vor dem Krieg trafen alljährlich etwa 1000 Seelen unter großen Mühen und Entbehrungen in Palästina ein, da mit dem Abzug der türkischen Streitkräfte infolge des Tripoliskrieges ihre Lage verzweifelt wurde. Dr. Weißenberg hat jemenitische Juden in Palästina in anthropologischer Hinsicht untersucht und teilt über die Ergebnisse seiner Untersuchungen folgendes mit:

Der Körperhöhe nach sind die jemenitischen Juden klein zu nennen, da sie im Mittel nur 165 cm für den Mann und 147 cm für die Frau beträgt. Was die Kopfform anbetrifft, so waren bei den Männern mehr als die Hälfte und bei den Frauen genau die Hälfte richtige Langköpfe. Von den übrig Bleibenden sind die meisten Mesokephalen; äußerst gering ist der Prozentsatz an Kurzköpfen. Was die Gesichtsform anbelangt, so sind bei mehreren Männern und Frauen vorstehende Jochbeine, also mogoloïde Merkmale, zu beobachten gewesen, während zwei Männer ein etwas negerhaftes Aussehen hatten. Die Nase ist gerade bei weniger als der Hälfte der untersuchten Männer und bei fast allen untersuchten Frauen. Krumme oder leicht gekrümmte Nasen hatten zehn Männer und eine Frau. Die sogenannte Judennase war nur bei einem Mann zu finden. Die Hautfarbe ist überwiegend dunkel wie die des europäischen Südländers, die Haarfarbe fast ausschließlich tiefschwarz, der Bart meist ebenso. Zwei Männer mit negerhaftem Gesicht hatten krauses Haar. Die Augen sind tief dunkelbraun an der Grenze des wirklich Schwarzen stehend, wie man es in Europa nur selten beobachten kann. Alles zusammengefaßt, unterscheiden sich die jemenitischen Juden in fast allen Beziehungen von dem gewöhnlichen jüdischen Typhus, wenn wir als dessen Vertreter die südrussischen Juden ansehen. Sie sind bedeutend kleiner als diese, haben überwiegend lange Köpfe, während die russischen Juden zumeist kurzköpfig sind. Bei den Jemeniten fehlen helle Haare und blaue Augen vollständig, während unter den europäischen Juden etwa 10 % Blonde gefunden werden. Das Gesicht des jemenitischen Juden ist etwas schmaler als das seiner europäischen Glaubensgenossen. Aus den angegebenen Tatsachen kann also der Schluß gezogen werden, daß zwischen den europäischen und jemenitischen Juden in physischer Beziehung kein Verwandtschaftsband besteht. Äußerlich erinnert der jemenitische Jude allerdings an den osteuropäischen Juden, was vielen Forschern aufgefallen ist. Aber der Körperbau zeigt ein ganz anderes Gepräge. Denn die scheinbare Übereinstimmung ist nur die Folge eines rein äußerlichen Merkmals, der Seitenlocken (Paies), die die jemenitischen Juden in außergewöhnlicher Länge tragen (siehe Abbildungen) Diese Sitte scheint für den vorderasiatischen Völkerkreis uralt zu sein. Schon auf hethitischen Reliefdarstellungen sind Seitenlocken zu Zöpfchen geflochten an männlichen Figuren sichtbar. Ebensolche Seitenlöckchen tragen auch jetzt noch manche palästinensische Beduinen, und die Fellachen des Hauran teilen von ihrem prächtigen Kopfhaar, das sie lang tragen, Streifen vor den Ohren ab, die ganz an die jüdischen „Paies“ erinnern.

Von den umwohnenden Südarabern unterscheiden sich die jemenitischen Juden im Körperbau und in der Hautfarbe. Die Juden sind größer als die Araber; die Hautfarbe ist bei den Arabern tief dunkel, fast schwarz, bei den Juden weißer als bei den Südeuropäern. Bei den Arabern ist das Haar in der Regel kraus, während das der Juden oft schlicht oder gelockt ist, sodaß die „Paies“ nur leicht gewunden erscheinen. Ein Südaraber wäre gar nicht imstande, solche „Paies“ zu tragen, da sie sich ihm als krause Büschel um die Schläfen ballen würden. Auch der Bartreichtum der jemenitischen Juden ist ein augenfälliges Unterscheidungsmerkmal vom südarabischem Typhus, der fast bartlos ist. Nur eines haben die Juden mit den Südarabern gemein: das ist die Magerkeit. Die seßhafte jüdische Bevölkerung im Jemen weist also heutzutage keine Spuren europäischer Elemente auf. Diese Beobachtungen eines älteren Reisenden decken sich nun nicht ganz mit andren Nachrichten. So teilt H. Burchardt eine Äußerung der Araber ihm gegenüber mit, ‚die Juden seien gar keine Beni-Israel, sie seien Araber, die das Judentum angenommen haben.‘ Dr. Weißenberg selbst ist anderer Ansicht. Er meint mit Rücksicht auf das geschichtliche und anthropologische Material als nächstliegende Fragestellung annehmen zu dürfen: Warum sollen nicht die jemenitischen Juden, die so viel echt semitische Züge zeigen, und die jahrtausendelang ein streng abgesondertes Leben geführt haben, für wahre Abkömmlinge der alten Hebräer betrachtet werden? Würde diese Frage bejaht, so ist selbstverständlich die von Luschan selbst übrigens später aufgegebene Theorie von der Mischung der alten Hebräer aus Semiten, Hethitern und arischen (?) Amoritern als hinfällig anzusehen und es muß eine andere an ihre Stelle gesetzt werden, um die Kurzköpfigkeit der europäischen Juden zu erklären.

Bei dieser verschiedenartigen Beurteilung der anthropologischen Stellung der jemenitischen Juden dürfte die Beobachtung des Schuldirektors Jomtob Semach aus Beirut aus dem Jahre 1910, also die neueste, die wir besitzen, von besonderem Wert sein. Über das Äußere der Juden im Jemen teilt er folgendes mit: Die jemenitischen Juden sind nicht sehr groß gewachsen und ziemlich mager. Ihre Haltung ist gerade, die Züge fein, die Gesichtsfarbe von warmem bräunlichen Kolorit; das Schönste aber sind die großen Augen und der lebhafte Ausdruck. Die langen Haarlocken, die gebogene Nase und die dunklen losen Gewänder erinnern an biblische Gestalten. Denn man erkennt die Juden sofort an ihrer besonderen Tracht: kurzes Hemd aus blauer Leinwand, Überwurf von dem gleichen Stoff, die Beine nackt und nur an den Füßen Sandalen, auf dem Kopf eine kleine Mütze mit darum gerolltem Tuch, um die Schultern ein Stück schwarzes Wollgewebe – der sogenannte Schemla, eine Art Mantel –, endlich zu beiden Seiten an den Ohren die langen Haarlocken, die bis zum Hals herniederhängen. Die Frauen tragen blaue Leinenhemden, die sackartig ohne Falten bis über die Kniee reichen. Das darunterliegende enge Beinkleid mit farbigen Gamaschen reicht bis zu den Fersen. Der strumpflose Fuß ist mit groben Pantoffeln bekleidet. Auf dem von einer schwarzen Kappe eingeschnürten Kopf tragen sie ein buntkarriertes Tuch, von dem ein Ende über der Nase festgehalten wird, so daß man von dem Gesicht nichts als die großen schwarzen Augen sieht. Am Sonnabend werden die schwarzen Gewänder durch weiße ersetzt, deren Nähte mit großen roten und blauen Punkten verziert sind. Anstelle des schwarzen Schemla haben manche Juden einen weißwollenen mit schwarzen Streifen durchwirkten Mantel. Außerhalb des Judenviertels darf kein Jude weiße oder farbige Gewänder tragen und keine langen weitärmeligen Gewänder gleich den Arabern. Da ihre Kleider sie nicht ausreichend gegen die von den Bergen kommende Kälte schützen, so tragen viele über ihrem Kittel ein in Paletotform zugeschnittenes Fell ohne jeden Stoffüberzug. Morgens tragen sie das Fell mit den Haaren dem Körper zugewandt, mittags, wenn es wärmer wird, wird der Paletot mit den Haaren nach außen gedreht

Was ihre Wohnungsverhältnisse betrifft, so besteht das Judenviertel in Sana’a, Ka’a-Jehud genannt, aus eng zusammengedrängten Lehmhäusern, die im Innern jeglichen Komforts entbehren. Nicht ein Möbelstück steht darin, keine Bettstelle und keine Betten. Arme wie reiche Leute legen sich des Abends auf eine dünne Matratze aus Palmblättern, zum Schlafen nieder und decken sich mit einem Hammelfell zu. Auf dem Lande legt man sich zum Schutze vor dem Ungeziefer, das auf der bloßen Erde herumwimmelt, zum Schlafen in einen Sack. Man zieht sich vollständig aus, kriecht in den großen Sack und schließt ihn von innen mit einem Schnürband. Stillende Mütter nehmen ihre Säuglinge mit in den Sack. Als Küchenutensilien genügen ein paar Krüge und Schüsseln aus Ton und einige Körbe; man besitzt nicht einen einzigen Gegenstand aus Metall oder Porzellan, keine Gabeln, keine Löffel; man rührt das Essen mit einem Stück Holz um und das Taschenmesser des Vaters dient zum Zerschneiden aller Speisen. Das aus Sorgho gebackene Brot ist der Hauptbestandteil der Nahrung; man tunkt es in eine scharfe Sauce, Helbe genannt. Das allgemeine Getränk ist der Aufguß der Kaffeerinde, Kischer genannt, den man Tag und Nacht trinkt. In den Städten wird in allen Familien viel Araki getrunken, ein aus getrockneten Trauben bereiteter Branntwein. Sehr gesucht ist geschmolzene Butter; manche essen sie mit Kischer, andere gießen sie lieber über Kopf und Körper, weil sie glauben dadurch große Kräfte zu bekommen. Häufig sind ihre Kittel und ihre Kappe so durchtränkt davon, daß sie wie Wachstuch aussehen.

Die Mehrzahl der jemenitischen Juden ist noch Handwerker. Es gibt kein Handwerk, das nicht von ihnen ausgeübt wird, und bis vor kurzem sind sie den Arabern unentbehrlich gewesen, da der Muselman eine Abneigung gegen das Handwerk besaß, die aber jetzt zu schwinden beginnt. So waren früher in Sana’a alle Schmiede Juden. Infolge der Epidemien, durch die Hungersnot von 1905, die Belagerung von Sana’a durch die aufständischen Araber und die Auswanderung sind alle Schmiedewerkstätten an Mohammedaner übergegangen. Die Juden sind geschickte Weber, Schneider und Schumacher; doch nur wenige betreiben Ackerbau und Gemüsezucht.

Den Mittelpunkt der Gemeinde bildet die Synagoge, „Kniss“ genannt. Hier halten sich die jemenitischen Juden mehr auf als in ihrem eigenen Haus. Sana’a besitzt 27 mehr oder minder große Synagogen, die aus einem weißgekalkten fensterlosen Raum bestehen. Ein paar schwarze Teppiche und kleine, an den Wänden entlanglaufende Matratzen bilden die ganze Einrichtung. Am Sabbat oder an Festtagen sind alle Mitglieder der Gemeinde in der Synagoge und trinken auf kleinen Matratzen ausgestreckt den duftenden Kischer, während der Rabbiner mit monotoner Stimme ein talmudisches Gesetz auslegt. Man könnte sich in eines der orientalischen Kaffeehäuser versetzt glauben, wo die Besucher Kaffee trinken und die Nargileh rauchen, während ein Greis in singendem Ton die schönen Märchen aus 1001 Nacht vorliest.

In der Familie herrscht in der Regel große Eintracht, obwohl neben den Eltern und Kindern oft die verheirateten Söhne, die Großmütter, Schwiegermütter, verwitwete oder geschiedene Töchter zusammenwohnen. Der Hausvater befiehlt, aber mit Sanftmut, und man gehorcht ihm mit großer Höflichkeit. Als Kuriosum sei erwähnt, daß die Polygamie gestattet ist. Es gibt in der Tat im Jemen verschiedene Männer, die zwei Frauen haben, aber dann ist fast immer die erste Frau kinderlos gewesen oder sie hat nur Töchter geboren.

Seine Handfertigkeit ist es, die dem Juden den Aufenthalt im Lande Jemen ermöglicht. Der Araber ist mit Ackerbau, Viehzucht und besonders mit dem Waffenhandwerk beschäftigt und duldet trotz seines großen Fanatismus die Juden im Lande, weil sie ihm alle Gegenstände fabrizieren, die ihm unentbehrlich sind. Man fragt sich, wie das unglückliche Volk trotz Verfolgungen und Epidemien und bei allen Entbehrungen sich bis auf unsere Tage hat erhalten können. Es hat seinen Lebenszweck in seiner sittlichen Kraft gefunden und sein Unglück als eine notwendige Prüfung für das künftige Leben hingenommen.“

Heutiger Kenntnisstand zu den jemenitischen Juden

Man geht davon aus, dass im Nordjemen bereits zu biblischen Zeiten Juden lebten, Nachweise für eine jüdische Ansiedlung liegen ab dem 3. nachchristlichen Jh. vor. Im 4. bzw. 5. Jh. konvertierten die jemenitischen Könige Abu Karib Asad und Dhu Nuwas zum Judentum. Unter dem seit 630 vorherrschenden Islam kam es im 10. Jh. zu restriktiven Maßnahmen gegen jemenitische Juden. Der erwähnte Trostbrief des Mose ben Maimon stammt ebenfalls von 1172. Seit 1881 werden Auswanderungen von jemenitischen Juden nach Palästina registriert. Besonders In den Jahren 1905 und 1922 mussten im Jemen verbliebene Juden schwere Repressalien durch die arabische Mehrheitsgesellschaft über sich ergehen lassen. Zwischen 1929 und 1948 galt ein durch den Imam Jahja verfügtes strenges Auswanderungsverbot für Juden des Jemen. Von 1948 bis 1950 emigrierten 50 000 jemenitische Juden nach Aden, von wo sie im Zuge der heroischen „Operation Zauberteppich“ nach Israel ausgeflogen wurden. Die wenigen noch bis vor Kurzem im Nordjemen lebenden Juden, maximal einige Hundert, wurden schwer in ihren Menschenrechten beschränkt: Weder eine Anstellung im öffentlichen Dienst, noch der Besitz von Land war ihnen gestattet; selbst Kontakte zu internationalen jüdischen Gemeinschaften unterlagen einem Verbot.

Die jüdische Geschichte des Südjemen beginnt ebenfalls mit der Römerzeit. Unter britischer Schutzherrschaft konnte sich in Aden eine moderne jüdische Gemeinde mit 1946 etwa 7000 Mitgliedern herausbilden; jedoch sorgten auch hier die antisemitischen Ausschreitungen ab 1947 mit vielen Ermordeten für einen Exodus der meisten Juden nach Israel im Jahre 1967.

Anmerkung:
Der Text von Dr. Feist wurde in der Originalschreibweise übernommen, eine Fußnote mit Angaben zur Demografie in Klammern gesetzt wiedergegeben, auf die Widergabe der weiteren Fußnoten hingegen verzichtet, Orthographiefehler stillschweigend korrigiert und Hervorhebungen des Autors (Feist) in kursive Schreibweise gestellt.

Literatur, auch weiterführende:
S. Feist, Stammeskunde der Juden, Leipzig 1925, S. 73-82
E. Feist-Hirsch, Mein Vater Sigmund Feist, in: „Gegenwart im Rückblick – Festgabe für die Jüdische Gemeinde zu Berlin – 25 Jahre nach dem Neubeginn, (Hg.) H. A. Strauss u. K. R. Grossmann, Heidelberg 1970, S. 265-273
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichwort: „Jemen“
http://www.en.wikipedia.org/wiki/Sigmund_Feist.html (aufgerufen am 30. 4. 2009)