Zeugnisse von Überlebenden

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Der Holocaust in der Ukraine hat jahrzehntelang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Erst seit den 1990er-Jahren stoßen die deutschen Verbrechen zunehmend auf das Interesse von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit – sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine selbst. Dennoch ist das Wissen um das Geschehen in der damaligen Sozialistischen Sowjetrepublik immer noch gering. Der Historiker Boris Zabarko, selbst Überlebender des Ghettos Schargorod, war einer der Ersten, die das Schicksal der Juden unter deutscher Besatzung in der Ukraine systematisch erforscht haben. Seit mehr als 20 Jahren sammelt er Berichte Überlebender und interviewt einst Verfolgte…

1999 erschien eine erste Publikation auf Russisch, gefolgt von einem mehrbändigen Werk. Die vorliegende Edition enthält 215 Berichte Überlebender. Sie
sind den jeweiligen Tatorten zugeordnet, zu denen einführend Kontextinformationen gegeben werden, und folgen der Chronologie der Besetzung. Entstanden ist eine „Geografie des Holocaust“ in der Ukraine.

Von Roland Kaufhold

Margret und Werner Müller sind ein ganz außergewöhnliches Ehepaar: Seit weit über 25 Jahren arbeiten sie, christlich motiviert, für die Aufarbeitung der Shoah. Auch viele Jahre nach einem erfüllten Berufsleben setzen sie ihre Aufgabe unermüdlich fort, pflegen enge Kontakte zu Juden in Osteuropa, insbesondere in der Ukraine. Versöhnung ist ihre Lebensaufgabe, ihr Lebensthema. Über Jahrzehnte hielten sie Kontakte zu Shoahüberlebenden und deren Kindern, übersetzten Dokumente von Überlebenden.

Für sie war es auch immer eine Arbeit an der eigenen familiären Geschichte: Einer der Onkel von Werner Müller war bei der Gestapo, ein anderer bei der SS – im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre Normalität. Das Ehepaar übernahm Verantwortung hierfür, erzählte ihren zahlreichen Gästen aus Osteuropa, häufig aus Kiew oder Warschau, vereinzelt auch diese verbrecherische Familiengeschichte – und arbeitete unermüdlich weiter an der historischen, politischen und persönlichen Versöhnungsarbeit. Engen Kontakt hatten sie hierbei insbesondere zum Maximilian-Kolbe-Werk.

Eine exemplarische Geschichte, von denen man zahlreiche erzählen könnte: Vor knapp drei Jahrzehnten sprachen sie bei einer ihrer Begegnungen in Warschau mit dem Überlebenden Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Kiew an: „Ihr müsst meinen Retter finden“, forderte sie dieser am Ende nachdringlich auf. Pjotr war einer der ganz wenigen Überlebenden des Ghettos in Pinsk. Ein deutscher Offizier hatte 1942 sein Leben riskiert, um Pjotr zu retten. Nur Wenige vermochten diese Geschichte zu glauben, so unglaublich klang sie.

Werner Müller machte sich an die Arbeit, erforschte Piotrs Lebensgeschichte. 2001 erschien das von Werner Müller herausgegebene: Aus dem Feuer gerissen. Die Geschichte des Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Pinsk (Dittrich Verlag 2001).

Andere würden nun mit der Arbeit aufhören. Die Müllers machten weiter. 2016 erschien ihr Buch „Nur wir haben überlebt. Holocaust in der Ukraine, Zeugnisse und Dokumente“ (zusammen mit Boris Zabarko).

Soeben ist ihr neues Buch erschienen: Margret Müller (Hrsg.), Werner Müller (Hrsg.), Boris Zabarko (Hrsg.): Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden. Mit einem Geleitwort von Dieter Pohl. Berichte der Überlebenden aus dem Russischen übersetzt von Natalia Blum-Barth und Christian Ganzer, Bestellen?

LESEPROBE

Wladimir Alschteter (geb. 1934) – „Ich blieb alleine“

Über sechzig Jahre sind seit dem Kriegsausbruch vergangen. Die Kinder sind erwachsen, die Enkelkinder werden groß. Vieles verdunkelte sich im Gedächtnis: Namen, Familiennamen, Ortsnamen, Ereignisse der vergangenen Jahre. Ich erinnere mich an einzelne Ereignisse, an Bilder, die das Bewusstsein des sieben- bis achtjährigen Jungen wahrgenommen hatte.

Meinen echten Familiennamen kenne ich nicht, auch keinen Namen und Vatersnamen, kein Geburtsdatum und Geburtsjahr. In der Geburtsurkunde, die 1950 ausgestellt wurde, steht bei Eltern ein Strich, als Geburtsdatum steht der 23. August, als Andenken an die Befreiung der Stadt Charkow. Ich erinnere mich, dass wir früher in einer großen Stadt lebten, deshalb sagte ich, ich sei in Charkow geboren worden.

1939 wurde mein Vater wahrscheinlich zur Arbeit in die kleine Stadt Brody, Gebiet Lemberg geschickt. Dort wurden wir auch vom Krieg überrascht. Meine erste Erinnerung an den Krieg sind die Tränen meiner Mutter, die sie um den verstorbenen Vater vergoss. Mein Vater war einer der Ersten, die an die Front gingen. Im Haus waren viele Menschen, die weinten. Man hörte die Kanonade und am Stadtrand stand ein ausgebrannter sowjetischer Panzer. Dann war es ruhig. Am nächsten Morgen: riesige deutsche Panzer und Soldaten in grauen Uniformen und Helmen auf der Straße. Wir Jungs liefen ganz nah zu ihnen, schauten uns ihre Kanonen an und bettelten um die schönen leeren Zigarrenkisten.

Das erste Unruhegefühl erfasste die Erwachsenen, als sie das brennende Synagogengebäude sahen. Dann habe ich einen völligen Blackout in meinem Gedächtnis. Ich kann mich nicht erinnern, wie wir im Ghetto der Stadt Brody landeten … Es waren große Häuser, unbekannte Menschen und Straßen, die mit Stacheldraht umzäunt waren, das ständige Hunger- und Kältegefühl. Mein Bruder und ich sammelten Holzsplitter und Brettchen aus dem halb zerstörten Haus, um Feuer machen zu können.

Aller Wahrscheinlichkeit nach überlebten wir so den Winter 1942. Dann verschwanden rings um uns herum im Ghetto alle Menschen. Wir versteckten uns in einem leeren Haus in einem kleinen Zimmer ohne Türen. Nachts krochen wir auf den Dachboden durch die Luke in der Decke.

Einmal sagte Mutter, dass wir nichts mehr zu essen hätten und in ein Dorf zu irgendwelchen uns bekannten Menschen gehen müssten. Am helllichten Tag gingen wir durch die Haupttür auf die Straße. Mutter mit der kleinen Schwester auf dem Arm ging vorne und mein Bruder und ich Hand in Hand ihr hinterher. Mutter warnte uns, dass wir diesen Abstand einhalten sollten und, wenn sie plötzlich von Deutschen oder Polizisten angehalten würde, sollten wir an ihr vorbeigehen. Wir waren schon am Stadtrand, als Mutter mit meiner Schwester von der Polizei angehalten wurde. Ich wollte auf die Mutter zulaufen, aber ihr Blick, der Selbsterhaltungsinstinkt und der Lebenswille zwangen uns, an ihr vorbeizugehen. Ich habe meine Mutter und Schwester nie wieder gesehen. Wahrscheinlich teilten sie das Schicksal aller Ghettohäftlinge.

So begann das lange Leben als Straßenkinder. Einmal stießen wir im Wald auf Menschen, die uns aufnahmen. Wir lebten in einer Erdhöhle. Feuer zündeten wir nur in der Nacht an, damit man den Rauch nicht sehen konnte. Mein Bruder und ich gingen einzeln in die benachbarten Dörfer und bettelten. Die Menschen gaben uns nach ihrer Möglichkeit Lebensmittel und alte Kleider. Einmal ging mein Bruder ins Dorf und ich blieb auf der Waldwiese und wartete auf ihn. Ich wartete bis zum Abend, aber er kehrte nicht zurück. Man erzählte später, er wäre von der Polizei gefasst worden. So blieb ich alleine.

Der Winter kam. An einem Tag führten die Deutschen eine Razzia durch. Als ich auf dem Weg aus dem Dorf war, hörte ich eine Schießerei und stolperte auf der Straße über einen Mann mit zerschmettertem Kopf. Ich rannte in die entgegengesetzte Richtung, wohin mich meine Füße trugen. Ich verlor meine Schuhe und rannte barfuss im Schnee einige Kilometer. Ich fand in einem Stall im Heu Zuflucht und wurde ohnmächtig. Ich wachte in einem Haus auf und sah eine über mich gebeugte ältere Frau, die mir das Leben rettete und mich pflegte. Ich konnte nicht lange bei ihr bleiben und ging nach Osten, der Front entgegen.

Ich entwickelte einen besonderen tierischen Selbsterhaltungsinstinkt. Mit dem sechsten Sinn unterschied ich die Meinen von den Fremden. Eineinhalb Jahre vagabundierte ich durch das besetzte Territorium der Ukraine. Ich durchkreuzte Dörfer und ländliche Regionen, vermied Städte und übernachtete in Ställen zusammen mit den Tieren. Manchmal hatte ich Glück mit guten Menschen, die ihr Leben riskierten und mich für einige Zeit in ihrem Haus aufnahmen, ernährten und pflegten. Aber es gab auch andere Menschen. Einmal hielt ich mich an einen vorbeifahrenden Schlitten mit Heu fest. Der Bauer bemerkte mich und schlug mich mit der Peitsche. Ich rutschte in den Schnee ins freie Feld und nur durch ein Wunder entkam ich dem Erfrieren.

Einmal sah ich am Dorfrand eine große Kolonne bewaffneter Menschen auf Pferdewagen. Wie es sich später herausstellte, waren es Partisanen, und ich hätte gewünscht, von ihnen aufgenommen zu werden. Plötzlich kamen aber deutsche Flieger. Das Feuer wurde eröffnet, die Bomben explodierten, überall lagen Gefallene und Verwundete. Ich verließ dieses Inferno und schlug mich weiter alleine durch.

Es war der Spätherbst 1943. Die Front kam näher. Es regnete ununterbrochen, war kalt, und ich hungerte. Ich hatte keine Kraft mehr, weiterzugehen. In einer Nacht sah ich in einem Haus ein schwaches Licht. Ich kroch bis zur Eingangstür, öffnete die Tür und sah bewaffnete Menschen um einen Rohrofen sitzen. Instinktiv versuchte ich wegzulaufen, aber fiel zu Boden. Das Letzte, was ich sah, waren die Sternchen auf den Mützen der Rotarmisten. Für mein ganzes Leben blieb mir der Geschmack von Brot mit amerikanischem Konservenfleisch in Erinnerung. So begann mein neues Leben als Sohn der Truppe. Aber das ist das Thema für einen anderen Bericht.

Eineinhalb Jahre war ich in der Truppe und erreichte mit ihr die Elbe in Deutschland, traf die Amerikaner, kehrte nach Charkow zurück, machte eine Ausbildung in einer Flugfachschule, studierte, arbeitete fünfzig Jahre am wissenschaftlich-technischen Komplex für Luftfahrt O.K. Antonow.

In meinem Leben gab es viel Böses und Gutes. Vom Guten gab es mehr. Ich erinnere mich an einen Zwischenfall in der Stadt Torgau, der sich ein paar Tage nach dem Kriegsende ereignete. In einem der leerstehenden Gebäude fand ich zufällig einen Ausweis der Hitlerjugend. Plötzlich hörte ich Schritte und vor mir erstarrte ein Junge, dessen Foto auf dem Ausweis war. Als er seinen Altersgenossen in der Uniform eines sowjetischen Soldaten erblickte, beschimpfte und verfluchte er die Russen. Mein erster Wunsch war, diesen kleinen Faschisten einfach zu töten. Aber in meiner Seele, in der Seele des kleinen Waisenkindes, das so viel Tod gesehen hatte, seine ganze Familie verlor, siegte nicht das Rachegefühl, sondern das Mitleid mit dem Menschen. Vielleicht lebt noch irgendwo in Deutschland dieser Mensch und erzählt seinen Kindern und Enkelkindern von der Begegnung mit einem kleinen sowjetischen Soldaten, der ihm das Leben geschenkt hatte.

Ich habe zwei Söhne und zwei Töchter. Die Enkelkinder wachsen auf. Nie wieder sollen sich die Gräuel des Krieges wiederholen. Ich schrieb meine Erinnerungen nieder, damit viele Generationen am Beispiel eines Lebens wissen und verstehen, was Krieg und Faschismus bedeuten.

Margret Müller (Hrsg.), Werner Müller (Hrsg.), Boris Zabarko (Hrsg.): Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden. Mit einem Geleitwort von Dieter Pohl. Berichte der Überlebenden aus dem Russischen übersetzt von Natalia Blum-Barth und Christian Ganzer, Bestellen?

Bild oben: R. Kaufhold