Die Allgegenwart der Furcht

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Léon Poliakovs dritter Band der „Geschichte des Antisemitismus“ trägt den Untertitel „Religiöse und soziale Toleranz unter dem Islam“. Doch kann man davon tatsächlich als historisch-soziales Phänomen sprechen? Zwar erging es den Juden in der christlichen geprägten Welt des Mittelalters noch schlechter als in der seinerzeitigen islamisch geprägten Welt. Gestattet diese Einsicht aber die Rede von einer jüdisch-muslimischen Toleranz?…

Von Armin Pfahl-Traughber

Einschlägige Auffassungen sind weit verbreitet und gehen meist mit einer besonderen Deutung des Nahost-Konflikts einher. Demnach habe erst die Gründung von Israel zu einer dortigen Judenfeindschaft geführt. Dass es sich hierbei um eine Fehlwahrnehmung handelt, macht der französische Historiker Georges Bensoussan in seinem Buch „Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage“ deutlich. Bei der Auffassung von einer entsprechenden „Harmonie“ handelt es sich für ihn um eine historische „Legende“ (S. 29).

Dies zeigt der Blick in viele Dokumente, seien es Erinnerungen oder Erklärungen, Polizeiberichte oder Publikationen, Tagebücher oder Zeitungen. Der Autor listet zunächst viele solcher Zeugnisse nur hintereinander auf. Zuvor macht er berechtigterweise darauf aufmerksam, dass der „Dhimmi“-Status der Juden sie zwar zu „Schutzbefohlenen“ machte. Gleichwohl waren sie dabei nur „Bürger zweiter Klasse“ und demnach einer kontinuierlichen und strukturellen Diskriminierung ausgesetzt. Dafür werden zahlreiche Beispiele von Bensoussan genannt, wobei diese vom 11. bis zum 20. Jahrhundert reichen. Der Autor beansprucht keine Vollständigkeit, aber hier verwundert, dass er die mittelalterlichen judenfeindlichen Pogrome gar nicht thematisiert. Er springt dann schnell ins letzte Jahrhundert, wobei etwa „die Geschichte der antijüdischen Gewalttaten arabischen Ursprungs im kolonialen Maghreb … unter dem Vichy-Regime“ (S. 53) aufgegriffen wird.

Dieses besondere Fallbeispiel steht für einen allgemeinen Tatbestand: „Die Allgegenwart der Furcht beherrscht die Geschichte aller jüdischen Gemeinden auf arabischem Boden“ (S. 81). Und die Aussagen aus den Quellen veranschaulichen, was dies für die Betroffenen jeweils für ihr Leben bedeutete. Dem Autor geht es immer wieder darum, den „Harmonie“-Mythos zu kritisieren. Dafür kann er eine Fülle von Sachargumenten vorbringen. So findet man etwa ein Kapitel „Die Pariser Große Moschee unter der Besatzung“, worin es um die Erzählung darüber geht, dass dort mehr als 1.700 Juden einen sicheren Ort vor der NS-Verfolgung gefunden hätten.  Bensoussan macht darauf aufmerksam, dass es für diese beeindruckende Geschichte an Quellen mangele. Zwar sei wohl einigen jüdischen Kinder geholfen worden, es handele sich aber eher um eine historische Legende. Die letzten Kapitel entfernen sich dann aber vom eigentlichen Thema, kommen aber dann wieder zu einer Zusammenfassung.

Deutlich zeigt Bensoussan, dass die verbreitete Auffassung, wonach es erst nach der Gründung Israels zur Judenfeindschaft gekommen sei, ein Mythos ist. Allein schon um der gut begründeten Korrektur einer historischen Legende willen verdient das nur kurze Werk besondere Wertschätzung. In bester aufklärerischer Absicht wird ein verbreitetes Geschichtsbild, das eben zur ideologischen Deutung des Nahost-Konflikts dient, mit Quellenverweisen und Sachargumenten dekonstruiert. Darüber hinaus erinnert der Autor an die weithin vergessenen 900.000 jüdischen Flüchtlinge, die aufgrund der dortigen Judenfeindschaft aus den arabischen Ländern fliehen mussten. Während heutige Aufrufe zum Israel-Boykott an die 750.000 aus ganz unterschiedlichen Gründen geflohenen Palästinenser erinnern, schweigt man über diese jüdischen Vertriebenen. Es geht daher mit einer solchen Doppelmoral nicht um ein Engagement für Flüchtlinge, sondern gegen Israel.

Georges Bensoussan, Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage, Übersetzung: Jürgen Schröder, mit einem Vorwort von Stephan Grigat, Hentrich & Hentrich Verlag 2019, 192 S., 19,90 €, Bestellen?

Leseprobe aus der Einleitung