Kazik – Erinnerungen eines Ghettokämpfers

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Simcha Kazik Ratajzer-Rotem war einer der Stabsmitglieder der jüdischen Kampforganisation ŻOB im Ghetto Warschau. Seine nüchtern, doch eindringlich und bemerkenswerten Erinnerungen liegen seit vergangenem Jahr in einer deutschen Neuausgabe vor. Heute, am 22. Dezember 2018, ist er in Jerusalem im Alter von 94 Jahren verstorben. Jehi sichro baruch…

Simha Rotem wurde am 10. Februar 1924 in einem Warschauer Vorort geboren. Er war das älteste von vier Kindern von Zvi und Miriam Ratajzer. Die Familie lebte mit den Großeltern mütterlicherseits und den Schwestern der Mutter und ihren Familien zusammen. Als Kind war Szymek, wie er zu Hause genannt wurde, besonders seinem Großvater Jakob zugetan, der Früchte bei den Bauern der Umgebung kaufte, von denen er sehr geschätzt wurde. Simha Rotem erinnert sich, dass das Polnisch des Großvaters „fehlerlos, frei von jedem jüdischen Akzent“ gewesen sei. Ein Vorteil, der später auch Rotem selbst zugute kommen sollte. In der Gegend wohnten nur wenige jüdische Familien, die Kinder wurden auf dem Heimweg öfter von polnischen Kindern überfallen. Die Eltern führten einen Laden mit Baumaterialien und Kurzwaren. Nachdem Szymek aus dem Cheder, dem traditionellen jüdischen Schulunterricht, weggelaufen war, wurde er in die Grundschule der jüdischen Gemeinde geschickt. Mit zwölf Jahren schloss er sich der zionistischen Jugendorganisation Hanoar Hatzioni an. Lieder und Vorträge über Erez Israel und die Auswanderung von Freunden formten seine eigenen Zukunftspläne.

Beim Überfall der Deutschen auf Polen im September 1939 wurde das Haus der Familie von einer 500-Kilo-Bombe getroffen. Unter den Toten waren Simhas Großeltern, eine Tante, ein Onkel, eine Cousine und sein Bruder Izrael. Simha selbst wurde schwer verletzt, seine Eltern konnten ihn jedoch ins Krankenhaus bringen. Nach dem Einmarsch der Deutschen beobachtete er , wie auf der Straße Juden aufgegriffen, verhöhnt und misshandelt wurden. „Dumpf fühlte ich ein nahendes Unheil, etwas, das ich nicht erklären konnte.“ Schon bald sei eine „Atmosphäre der Kollaboration zwischen der polnischen Bevölkerung und der deutschen Besatzungsmacht“ entstanden, Polen meldeten sich freiwillig und halfen Juden ausfindig zu machen. Der damals 15jährige Szymek beschloss, seiner Familie in der täglich schwierig werdenden Lage zu helfen und sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Er fuhr in die Dörfer der Umgebung und gab sich als nichtjüdischer Pole aus.

Mit Einrichtung des Ghettos im Oktober 1940 musste die Familie in eine winzige dunkle Wohnung innerhalb der Ghettomauern umziehen. Simha beschreibt die Gleichgültigkeit, die sich mit der Zeit beim Anblick von hungernden, sterbenden Menschen und Leichen in den Straßen einstellte. Die Familie konnte sich durch Schmuggel behelfen. Die Mutter drängte Simha dazu, zu Verwandten aufs Land zu fahren. Tatsächlich schlug er sich durch und bekam dort Arbeit als Kuhhirte. „Aber meine Seele fand keine Ruhe. All diese Zeit lebte ich zwischen dem Grün der Wiesen und dem Blau des Himmels, während im Ghetto Hunger und Krankheiten wüteten.“ Und so beschloss Simha zurückzukehren. Seine Eltern waren mittlerweile auf einem Gutshof untergebracht, der ein von den Deutschen anerkannter Arbeitsplatz war. Von hier aus übernahm Simha eine erste Mission und schmuggelte ein Päckchen ins Ghetto und schon bald schloss er sich der jüdischen Kampforganisation ŻOB an.

In seinen Erinnerungen beschreibt Simha ausführlich die Aktionen der ŻOB, die mühsamen und gefährlichen Versuche der Kontaktaufnahme, Waffenbeschaffung, die Unterschlüpfe, die ständige Gefahr, entdeckt zu werden. Lange hatte es gedauert, bis Simha Rotem seine Geschichte erzählte. Nach einem ersten Bericht, der schon 1946 veröffentlicht wurde, hatte er geschwiegen. Erst Anfang der 1980er war er soweit. Hier und da habe die Geschichte Lücken, gibt er im Vorwort zu Bedenken. „Ich wollte keine Erinnerungen rekonstruieren und zog es vor, die Löcher zu lassen.“ Tatsächlich sind die Erinnerungen sehr detailliert und geben dem Leser gut Einblick in den täglichen Kampf, den die Mitglieder der ŻOB führten, sowohl im Ghetto wie auch auf der „arischen“ Seite. Bei einer der ersten größeren Aktionen, an denen er beteiligt war, wurde aus Szymek Kazik. Der Versuch, einen wohlhabenden Juden im Ghetto zu einer „Spende“ für die ŻOB zu überreden, war erst erfolgreich, als Szymek sich als Pole, also als Nichtjude ausgab. Der Name Kazik blieb ihm. 

Intensiv schildert Simha Rotem die ersten Tage des Aufstands im Ghetto, das Scheitern der Aufständischen und schließlich die Rettungsversuche durch die Abwasserkanäle. Nach intensiver Vorbereitung gelang es ihm mit Hilfe von Kanalarbeitern von der arischen Seite aus zurück ins Ghetto zu gelangen, mit dem Ziel, die noch überlebenden Kämpfer der ŻOB herauszuholen. „Das Ghetto war restlos abgebrannt. Überall lagen Leichenhaufen – auf den Straßen, in den Höfen und zwischen den Trümmern“, schildert Rotem die Lage. „Eine plötzliche Ruhe überkam mich: Ich fühlte mich so wohl zwischen den Ghettoruinen, inmitten von toten Kameraden, die mir einst teuer waren, dass ich dort bleiben, den Tagesanbruch und das Kommen der Deutschen abwarten, und so viele wie möglich von ihnen umbringen und schließlich selber fallen wollte.“ Nur mit übermenschlicher Anstrengung gelang es ihm, sich von diesen Gedanken zu lösen. Und tatsächlich sollte es ihm gelingen, eine Gruppe von über 30 Überlebenden durch die Kanalisation zu retten. An der Prosta-Straße erinnert heute ein Denkmal an die verwegene Aktion, die bei helllichten Tag nur 100 Meter von den deutschen Wachen entfernt glückte. Einige bleiben zurück, in den Nebenärmen des Kanals. Für sie gibt es keine Rettung. Man merkt wie sehr diese Erinnerung Kazik auch heute noch plagt, auch wenn er damals keine andere Möglichkeiten hatte. Überhaupt ist es die absolute Aufrichtigkeit, mit der Simha Rotem seine Erinnerungen aufgeschrieben hat. Ohne Verklärung, ohne Pathos, ohne Rechtfertigung.

Mit einer polnischen Kennkarte ausgestattet übernahm Kazik zahlreiche Aufgaben und Mission als „rechte Hand“ von Jitzhak Zuckermann, genannt Antek, dem Kommandanten der ŻOB. Detailliert beschreibt er die ständigen Stellungswechsel, wenn eine Wohnung „verbrannt“ war, das heißt aufgeflogen, die Besuchsroutinen bei den überlebenden Kämpfern, die verstreut untergebracht wurden, die Beziehungen zu den polnischen Helfern. Immer wieder betont er dabei, dass sich zwar viele Polen fanden, die halfen, vor allem aus der Untergrundbewegung, aber auch viele, „die Juden jagten, um ein „gutes Werk“ zu tun, manchmal sogar ohne jede Bezahlung.“ Bei den Gesprächen der ŻOB Kämpfer wurde auch die Frage diskutiert, was sie nach dem Krieg tun würden. Kazik berichtet, dass er der Ansicht war, sie sollten sich der Rache an den Deutschen widmen. „Mein Interesse galt vor allem der Frage, wie man in einem großangelegten Rachefeldzug so viele Deutsche wie möglich, vor allem SS- und Gestapo-Männer, töten könnte. Ich ging sogar so weit zu sagen, man müsste sich am gesamten deutschen Volk rächen.“ Tatsächlich sollte er sich nach Kriegsende Nakam anschließen, einer Gruppe Überlebender, die Rachepläne schmiedete und teilweise auch ausführte.

Als der Warschauer Aufstand ausbrach schloss sich Kazik den Kämpfern der Polnischen Heimatarmee an, die Niederschlagung des Aufstands sollte er unter unglaublichen Umständen überleben. Ende Dezember 1944 hatte sich die Gruppe der ŻOB Kämpfer wieder zusammengefunden. Von der Polnischen Heimatarmee wurde er mit einem Kameraden nach Lublin geschickt, das bereits der Provisorischen Polnischen Regierung unterstand. Unterwegs gerieten sie in die russische Frontlinie und als Warschau befreit wurde, saßen sie noch in Lublin fest. Zurück in Warschau fand er völlige Finsternis und Zerstörung vor: „Ich stand auf den Ruinen meiner Stadt. Der Wind trug mir den Geruch der Toten in die Nase.“ Simha konnte nach vielem Suchen seine Eltern und eine Schwester finden, die in verschiedenen Verstecken überlebt hatten. Sie waren eine der wenigen Familien, in denen beide Eltern und ein Teil der Kinder überlebt hatte. „Aber obwohl wir die ganzen Kriegsjahre hindurch inständig auf die Befreiung gewartet und auf sie gehofft hatten, kam sie für uns alle überraschend, und in uns war keine Freude. Ich glaube, erst damals fingen wir überhaupt an, das Ausmaß der Katastrophe, die dem jüdischen Volk und unserer Familie widerfahren war, zu begreifen.“

Die Familie entschloss sich bald zur Auswanderung nach Palästina. Simhas Eltern kamen im November 1947 schließlich dort an. Simha selbst hatte einige Zeit die Bricha unterstützt, eine Untergrundbewegung, die Juden Fluchtwege aus Europa nach Palästina ermöglichte, und war noch vor seinen Eltern ins Land gekommen. Nach einigen Wochen in dem britischen Internierungslager Atlit war er „in Erez Israel ein freier Mensch.“

Mit der Hilfe der Leiterin der Aufnahmeabteilung im Arbeiterkomitee von Tel Aviv konnte Simha dort Fuß fassen. Er fand Arbeit am Bau, körperliche Arbeit, die ihm ein „inneres Bedürfnis, etwas Heilsames“ war. Später heiratete er, wurde Vater und leitete 25 Jahre lang einen Supermarkt. Simha Rotem lebt heute in Jerusalem. Die Warschauer Zeit, so schließt er seine Erinnerungen, “ ist bis heute ein unabtrennbarer Teil von mir geblieben. Er ist Dreh- und Angelpunkt, um den meine kleine Welt sich bewegt.“

Das Vorwort von Agnieszka Hreczuk zur Neuausgabe, ein Nachwort von Jörg Paulsen, Glossar und Personenverzeichnis ordnen den historischen Kontext gut ein und ermöglichen es dem Leser über Simha Rotems Erinnerungen heraus, die Umstände der Aktionen der jüdischen Widerstandskämpfer besser zu verstehen. Dank dem Assoziation A Verlag sind diese eindringlichen Erinnerungen nun wieder in Deutsch erhältlich. Simha Rotem ist der letzte der Ghettokämpfer. Sein Zeugnis muss man lesen. -al

Simha Rotem, Kazik: Erinnerungen eines Ghettokämpfers, Assoziation A Verlag 2017, 208 S., Euro 18,00, Bestellen?