Altneuland – Zweites Buch

Haifa 1923

 

Erstes Kapitel

Die Jacht Kingscourts fuhr wieder durch das rote Meer, aber in umgekehrter Richtung. Kingscourts Bart und Haare waren schneeweiß geworden. Auch Friedrich konnte, vor dem Spiegel seiner Kajüte stehend, an seinen Schläfen die ersten Silberfäden entdecken.

Der Alte rief ihn aufs Verdeck: „Holla, Fritz! Kommen Sie ’n bißchen rauf!“

„Was wollen Sie, Kingscourt?“ sagte er, indem er hinaustrat.

„Hol mich der Deibel, wenn ich das verstehe. Seit wir da im Roten Meere fahren, hab‘ ich noch sehr wenige Personendampfer gesehen. Frachtschiffe, ja, viele. Erinnern Sie sich denn nicht, wie das vor zwanzig Jahren war, anno neunzehnhundertundzwei? Da war doch Verkehr hier. Ostindienfahrer, Chinaschiffe! Die lumpigen Dampfer, die wir jetzt treffen, gehen nur nach den afrikanischen Häfen und Madagaskar. Ich habe mich bei dem Vieh von einem Lotsen nach jedem passierenden Schiffe erkundigt. Es gibt keine Ostindier, Japaner und Chinesen mehr in diesen Gewässern; wie gesagt, nur Frachten. Am Ende hat England seit wir weg waren, seinen indischen Besitz verloren? Kreuzmillionenschockschwerenot — an wen?“

„Fragen Sie doch den Lotsen, wenn es Sie interessiert!“

„Nischt wird jefragt! Das heb‘ ich mir alles auf, bis wir in Europa sind. Ich bin nicht neugierig — sind Sie’s vielleicht, Fritzken?“

„Nein, Kingscourt. Mir ist alles gleichgültig. In den zwanzig Jahren hat‘ ich jedes Interesse an den Vorgängen außerhalb unserer lieben Insel verloren. Mir lebt kein Freund mehr, kein Blutsverwandter. Wonach sollte ich mich erkundigen?“

Kingscourt hatte sich es auf einem ruhebettartigen Lehnstuhl bequem gemacht und schmauchte eine große Havanna: „Na, übel ist Ihnen unsere Insel nicht bekommen, Fritz! Wenn ich denke, was Sie für’n grüner Judenjunge mit eingesunkenem Brustkasten waren, als ich Sie mitnahm. Heute sind Sie ’n Baum von einem Menschen. Mir scheint, Sie könnten jetzt den Weibern gefährlich werden.“

„Sie sind komplett verrückt, Kingscourt!“ lachte Friedrich. „Zu Ihrer Ehre will ich annehmen, daß Sie mich nicht nach Europa schleifen, um mich zu verheiraten.“

Kingscourt wälzte sich vor Lachen: „So’n Rabenvieh!l Verheiraten! Für’n solchen Hornochsen halten Sie mich doch nicht? Was fing‘ ich dann mit Ihnen an?“

„Na, vielleicht ist es eine feine Art, mich loszuwerden. Sie haben meine Gesellschaft wohl satt gekriegt?“

„Nu fischt das Rabenvieh noch nach Komplimenten!“ schrie der Alte, dessen Gemütlichkeit sich gern in Schimpfworten austobte. „Sie wissen doch sehr gut, Fritzchen, daß ich ohne Sie nicht mehr leben könnte. Die ganze Reise hab‘ ich doch nur Ihretwegen unternommen. Damit Sie dann wieder ein paar Jahre mit mir Geduld haben.“

„Hören Sie, Kingscourt, Sie wissen, ich kann nicht grob sein – wenigstens nicht so grob, wie Sie. Aber das ist, gelinde gesagt, eine…“

„Eselei?“

„Etwas dergleichen!… Wann habe ich eine Ungeduld gezeigt? Ich war glücklich auf unserer Insel, vollkommen glücklich. Diese zwanzig Jahre sind mir vergangen, wie ein Traum. War es gestern, daß Sie hier Ihre Abschiedsrede an die Zeit hielten? Ich wäre auch nie mehr weg von unserer seligen Insel, ich nicht! Und nun wollen Sie mir weismachen, daß Sie meinetwegen nach Europa fahren. Schämen Sie sich, alter Mann, daß Sie solche faule Ausreden gebrauchen. Sie sind neugierig, wie’s drüben aussieht. Sie wollen hin — nicht ich! Der beste Beweis, daß ich mir nichts mehr aus der bewohnten Welt mache, ist der, daß ich alle die Jahre hindurch keine Zeitung in die Hand genommen habe.“

„Kunststück, wir hatten keine auf unserer Insel. Das war meine oberste Gesundheitsmaßregel: keine Zeitung!“

„So? Vor einigen Jahren kam eine Sendung von Rarotonga. Da waren alle Gegenstände der Kiste in englische und französische Tagesblätter eingewickelt. Einen Augenblick war ich in Versuchung, sie zu lesen. Wenn sie auch Monate oder Jahre alt waren, für mich enthielten sie jedenfalls neues. Wir schrieben damals 1917, und ich hatte seit fünfzehn Jahren nichts mehr von der Welt gehört. Aber ich raffte die Blätter alle zusammen und verbrannte sie ungelesen. Und jetzt sagen Sie noch, daß ich mich zurücksehne.“

Der Alte schmunzelte behaglich: „Na, wenn Sie mir auf meine Lügen kommen, dann will ich’s gestehen. Ja, ich möchte wissen, was aus der niederträchtigen Welt geworden ist. Ob die Menschen noch immer so schlecht und dumm sind wie dazumal.“

„Mein guter Kingscourt, ich wette, wir werden froh sein, wenn wir nach unserer stillen Insel zurückkehren können.“

„Bei der Wette finden Sie keine Konterpartie. Ich wette dasselbe.“

Die Jacht durchlief die Wasserstraße von Suez. In Port Said stiegen sie wieder ans Land. Im Hafen war ein lebhafter Güterverkehr, aber zwischen den verfallenden Bazaren der Stadt war der bunte, vielsprachige Spaziergang nicht mehr zu gehen, der einst die Originalität des Ortes war. Hier kreuzten sich ehemals die Wege der Menschen, die vom Westen nach dem Osten und von Osten nach Westen zogen. Man war hier ehemals den elegantesten Globetrottern begegnet, und jetzt lungerten vor den schmutzigen Kaffeehäusern außer den Eingeborenen nur einige halb betrunkene Matrosen.

Kingscourt und Friedrich waren in einen Laden eingetreten, um Zigarren zu kaufen. Sie verlangten bessere Sorten. Da sagte der griechische Händler klagend:

„Führen wir nicht. Kommen ja keine Käufer mehr. Kommt niemand mehr, der feine Zigarren will. Nur Matrosen um Kautabak, schlechte Zigaretten.“

„Wie ist das möglich?“ fragte Kingscourt. „Wo sind denn die Reisenden, die nach Indien, Australien, China gehen?“

„Oh, die sind schon lange fort. Die fahren jetzt auf dem anderen Weg.“

„Auf einem anderen Weg?“ rief Friedrich. „Was gibt es denn für einen anderen? Doch nicht um das Kap der guten Hoffnung?“

Der Händler sagte ärgerlich:

„Der Herr will über mich lachen. Das weiß doch jedes Kind, daß man nach Asien nicht mehr durch den Suezkanal fährt.“

Die Rückkehrenden sahen einander betroffen an. Dann brummte Kingscourt:

„Natürlich weiß das jedes Kind. Sie werden uns doch nicht für so unwissend halten, daß wir nichts von dem verdammten neuen Kanal gehört haben.“

Da schlug der Grieche wütend auf den Ladentisch:

„Machen Sie, daß Sie hinauskommen! Zuerst foppen Sie mich mit teuren Zigarren, dann machen Sie solche dummen Witze. Hinaus!“

Kingscourt wollte über den Tisch langen und dem Griechen eins über den Schädel geben, aber Friedrich zog den alten Hitzkopf fort:

„Es scheint, in unserer Abwesenheit ist etwas Großes vorangegangen, was wir nicht wissen, Kingscourt.“

„Hol‘ mich der Deibel, das glaub‘ ich auch. Das müssen wir also zuerst rauskriegen.“

Im Hafen erfuhren sie es vom Kapitän eines deutschen Kauffahrers. Der Verkehr zwischen Europa und Asien hatte einen neuen Weg genommen: über Palästina.

„Da, gibt es denn dort Häfen, Eisenbahnen?“ fragte Friedrich.

Der Kapitän lachte herzlich:

„Ob es in Palästina Häfen und Bahnen gibt? Herr, von wo kommen Sie denn? Haben Sie denn nie eine Zeitung oder einen Fahrplan gesehen?“

„Nie, will ich nicht sagen. Aber einige Jahre ist es doch schon her … Palästina kennen wir übrigens als ein wüstes Land.“

„Ein wüstes Land!,.. Gut, wenn Sie das ein wüstes Land nennen wollen, ich bin es zufrieden. Nur sind Sie dann sehr verwöhnt.“

„Hören Sie, Kapitän“, rief Kingscourt, „wir wollen Ihnen reinen Wein einschenken. Wir sind ein paar verdammt unwissende Bengels. Wir haben uns zwanzig Jahre um nichts als um unser Vergnügen gekümmert. Also was ist das mit dem ollen Palästina?“

„Wenn ich Ihnen das erzählen wollte, brauchte ich mehr Zeit als Sie, um von hier hinzufahren. Kommt es Ihnen auf ein paar Tage nicht an, so machen Sie doch den kleinen Umweg. Sie finden übrigens in Haifa und Jaffa die schnellsten Schiffe nach allen europäischen und amerikanischen Häfen, falls Sie Ihre Jacht verlassen wollen.“

„Nee, unsere Jacht verlassen wir nicht. Aber den Umweg können wir ja machen, Fritze? Was meinen Sie? Woll’n wir nochmals das Land Ihrer Vorfahren besichtigen?“

„Mich zieht es dahin ebensowenig, wie nach Europa. Ganz egal!“

Und sie steuerten nach Haifa.

Es war eines Frühlingsmorgens, nach einer der in diesen Meeren so weichen Nächte, als die Küste Palästinas in Sicht kam. Die beiden standen auf der Kommandobrücke und lugten seit zehn Minuten unverwandt durch ihre Ferngläser nach derselben Himmelsgegend aus.

„Man möchte schwören, daß dort die Bucht von Akko ist“, sagte Friedrich.

„Man könnte auch das Gegenteil schwören“, meinte Kingscourt. „Ich habe noch das Bild dieser Bucht in der Erinnerung. Vor zwanzig Jahren war sie leer und öde. Aber da rechts, das ist doch der Karmel, und da drüben links ist Akko.“

„Wie verändert!“ rief Friedrich. „Da ist ein Wunder geschehen.“

Sie kamen naher. Nun konnten Sie schon durch ihre guten Gläser die Einzelheiten etwas besser sehen. Auf der Rheede zwischen Akko und dem Fuße des Karmel ankerten riesige Schiffe, wie man deren schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu bauen pflegte. Hinter dieser Flotte sah man die anmutige Linie der Bucht. An der Nordspitze Akko in alter orientalischer Bauschönheit, graue Festungsmauern, dicke Kuppeln und schlanke Minarets, die sich vom Morgenhimmel reizend abhoben. An diesen Umrissen war nicht viel anders geworden. Aber südwärts unterhalb der ruhmreich schwergeprüften Stadt, am Bogen des Uferbandes, war eine Pracht entstanden. Tausende weißer Villen tauchten, leuchteten aus dem Grün üppiger Gärten heraus. Von Akko bis an den Karmel schien da ein großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war auch gekrönt mit schimmernden Bauten.

Da sie vom Süden kamen, verdeckte ihnen der Bergvorsprung zuerst den Anblick des Hafens und der Stadt Haifa. Nun aber lag auch diese vor ihnen, und da waren die Deibel Kingscourts überhaupt nicht mehr zu zählen.

Eine herrliche Stadt war an das tiefblaue Meer gelagert. Großartige Steindämme ruhten im Wasser und ließen den weiten Hafen dem Blicke der Fremden sogleich als das erscheinen, was er wirklich war: der bequemste und sicherste Hafen des mittelländischen Meeres. Schiffe aller Größen, aller Arten, aller Nationen hielten sich in dieser Geborgenheit auf.

Kingscourt und Friedrich waren wie betäubt. Auf ihrer zwanzig Jahre alten Seekarte fand sich nichts von dieser Hafenstadt, und nun war sie wie hergezaubert. Die Welt war also während ihrer Abwesenheit nicht stillgestanden.

Die Jacht ging vor Anker. Dann fuhren sie im Landungsboote durch das verblüffende Gewühl der Schiffe hindurch nach dem Kai. Sie tauschten in kurzen abgerissenen Sätzen ihre Eindrücke aus.

An den steinernen Stufen des Uferdammes legte ihr Boot an. Sie stiegen aus. Einige Schritte von ihnen entfernt wollte eben ein Herr die Stufen hinab gehen, zu der elektrischen Barke, die offenbar seiner harrte. Als dieser die beiden erblickte, blieb er betroffen stehen. Er starrte Friedrich mit weit aufgerissenen Augen an.

Der Alte bemerkte es und brummte:

„Was hat denn der Kerl? Sollte er noch nie zwei zivilisierte Menschen gesehen haben?“

Friedrich lächelte:

„Das ist nicht anzunehmen. Die Leute da auf dem Kai schauen zivilisierter aus als wir. Es könnte eher sein, daß wir ihm veraltet vorkommen. Sehen Sie doch da hinauf! Dieses weltstädtische Treiben auf der Straße. Die vielen gut gekleideten Menschen. Ich glaube, unsere Anzüge sind ein bißchen aus der Mode.“

Sie hatten dem Bootsmanne aufgetragen, sie an derselben Stelle zu erwarten und schritten über andere Steintreppen der erhöhten Straße zu, von deren Treiben sie am Wasserrande schon etwas gesehen hatten. Um den Unbekannten, der sie so auffallend anstarrte, kümmerten sie sich nicht weiter. Doch er folgte ihnen. Er bemühte sich, die Sprache zu erlauschen, in der sie redeten. Jetzt war er dicht hinter ihnen, jetzt streifte er vorbei und blieb mit einem Ruck vor ihnen stehen.

„Herr!“ brauste Kingscourt auf, „was wollen Sie eigentlich von uns?“

Der Fremde gab ihm keine Antwort, sondern wandte sich an Friedrich, mit einer männlich warmen, aber vor Erregung zitternden Stimme:

„Sind Sie der Doktor Friedrich Löwenberg?“

Aufs tiefste überrascht, an so fremdem Ort plötzlich seinen Namen zu hören, entgegnete dieser:

„So heiße ich.“

Da riß ihn der Unbekannte stürmisch an seine Brust und küßte ihn auf beide Wangen. Dann ließ er ihn los und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Es war ein junger, kräftiger, hochgewachsener Mann von dreißig Jahren mit sonnengebräuntem Gesicht, das ein kurzer, schwarzer Bart umrahmte.

„Und wer sind Sie?“ fragte Friedrich, nachdem er sich von der stürmischen Begrüßung erholt hatte.

„Ich! Sie werden sich wohl meiner nicht mehr erinnern. Ich heiße David Littwak.“

„Der kleine Junge vom Café Birkenreis?“

„Ja, Herr Doktor! … Derselbe, den Sie vom Hungertode gerettet haben, samt seinen Eltern und seiner Schwester.“

„Ach, sprechen wir nicht davon!“ wehrte Friedrich ab.

„Im Gegenteil! Wir werden noch viel davon sprechen. Was ich bin und habe, verdanke ich Ihnen. Zunächst sind Sie mein Gast – und wenn dieser Herr Ihr Freund ist, so ist auch er bei mir zu Hause.“

„Das ist mein bester, einziger Freund in der Welt, Mr. Kingscourt.“

 

Zweites Kapitel

Noch ehe sie recht wußten, wie ihnen geschah, hatten Friedrich und Kingscourt sich von David Littwak die Dammtreppe hinaufführen lassen.

Erst als sie oben auf dem Straßenniveau angelangt waren, begann ihnen der volle Eindruck dieser wundervollen Stadt und ihres Verkehres aufzugehen.

Vor ihnen weitete sich ein großer Platz, den die hochgeschwungenen Arkaden stattlicher Gebäude umgaben. In der Mitte war ein mit Gittern eingehegter Palmengarten. Palmen, hier ein gewöhnlicher Baum, standen auch überall rechts und links an den Rändern aller Straßen, die auf den Platz mündeten. Man sah gleich, daß diese Palmen doppelten Dienst hatten. Bei Tage spendeten sie Schatten, und nachts Licht, denn die elektrischen Straßenlampen hingen an ihnen wie große gläserne Früchte. Das war die erste Einzelheit, auf die Kingscourt ergötzt hinwies. Dann erkundigte er sich nach dem Charakter der Paläste, welche den großen Platz umgaben. David Littwak antwortete, es seien die Bureauhäuser verschiedener europäischer Seehandelsgesellschaften und Kolonialbanken. Der Platz führte darum den Namen Völkerplatz. Das war er in der Tat, nicht nur wegen der Gebäude, sondern auch wegen der Menschen, die ihn belebten.

Die Ankömmlinge staunten und starrten in das Gewühl. Es fand hier offenbar ein Verkehr aller Völker statt, denn man sah die buntesten Trachten des Morgenlandes zwischen den Gewändern des Okzidents. Chinesen, Perser, Araber wandelten durch die geschäftige Menge. Vorherrschend war freilich die Kleidung des Abendlandes, wie diese Stadt ja überhaupt einen durchaus europäischen Eindruck machte. Man hätte glauben können, daß man sich in einem großen Hafen Italiens befinde. Die Bläue des Himmels und des Meeres und das Leuchten der Farben gemahnten an die glückliche Riviera. Nur waren die Gebäude viel moderner und reinlicher, und der Straßenverkehr enthielt bei aller Lebhaftigkeit weniger Lärm. Das kam von der gemessen ernsten Art der vielen Orientalen, aber auch daher, daß keine Zugtiere in diesen Straßen waren. Man hörte weder den Hufschlag von Pferden, noch auch Peitschenknallen oder Rädergerassel. Die Fahrdämme waren so glatt wie die Fußsteige, und die Automobile hasteten auf ihren Gummirädern ziemlich geräuschlos vorüber, nur mit einigem Getute der warnenden Signalhörner. Ein Rollen über ihren Köpfen machten die Fremden aufschauen.

„Alle Deibel, was ist das?“ schrie Kingscourt, indem er nach einem über den Palmenwipfeln vorbeisausenden großen Eisenwagen wies, aus dessen Fenstern Fahrgäste herunterblickten. Der Wagen halte die Räder nicht unten, sondern oben, über dem Dach. Er hing und schwebte an einem mächtigen, eisernen Brückengeleise.

David Littwak erklärte:

„Das ist die elektrische Schwebebahn. Die müssen Sie doch auch in Europa gesehen haben.“

„Wir waren zwanzig Jahre nicht in Europa.“

„Die Schwebebahn ist ja nichts Neues. Sie war schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwischen Barmen und Elberfeld im Betriebe. Wir haben sie in unseren Städten gleich von vornherein eingerichtet, weil der Massenverkehr so leichter und gefahrloser bewältigt werden kann. Der Bau war auch billiger als der von Straßen- oder Hochbahnen.“

„Erlauben Sie, erlauben Sie!“ rief Kingscourt. „Sie sprechen von Städten! Es gibt demnach in Palästina noch mehr solcher Städte?“

„Das wissen Sie nicht, meine Herren?“

„Nein“, sagte Friedrich; „wir wissen weder das noch etwas anderes. Wir wissen gar nichts. Wir waren zwanzig Jahre tot.“

„Für tot hielt ich Sie freilich, lieber Herr Doktor!“ sprach David Littwak, indem er Friedrichs Hand nahm und noch einmal drückte.

„Haben Sie sich denn nach mir erkundigt? Ja, woher wissen Sie überhaupt meinen Namen? Ich glaube doch, ihn damals nicht genannt zu haben.“

„Als Sie sich unserem Danke entzogen, waren wir ganz trostlos. Ich dachte mir, Sie seien vielleicht ein Stammgast des Café Birkenreis. Dort habe ich viele Nächte vor der Tür auf Sie gewartet. Mein Vater auch.“

„Lebt Ihr Vater noch?“

„Ja, Gott sei Dank, und meine Mutter auch, und Mirjam, die Sie als Wickelkind sahen … Ich kam endlich auf den Einfall, Sie dem Kellner des Kaffeehauses zu beschreiben. Er erkannte Sie nach meiner Schilderung sofort und nannte mir Ihren Namen. Aber wie groß war mein Schmerz, als der Mann hinzufügte, Sie seien bei einer Bergbesteigung verunglückt, und die Blätter hätten Ihren Tod gemeldet … Ich kann Ihnen sagen, Herr Doktor, wir haben um Sie viel geweint. Wir haben auch immer pünktlich die Jahrzeit für Sie angezündet an dem Tage, den ich aus den Zeitungen herausgefunden hatte.“

„Jahrzeit? Was ist das?“ fragte Kingscourt.

Friedrich gab Auskunft:

„Ein Brauch der Juden. Am Sterbetage des Hingeschiedenen zünden seine Angehörigen zum Gedächtnis ein Licht an.“

„Oh, ich habe Ihnen viel, viel zu erzählen, lieber Herr Doktor!“ sagte David Littwak. „Aber hier werden wir nicht stehen bleiben. Vor allem bringe ich Sie in mein Haus, das Sie von jetzt ab als Ihr eigenes betrachten werden… Kommen Sie, meine Herren!“

„Und unser Boot, unsere Jacht?“

David Littwak wandte sich zu einem livrierten Diener, der ihm in kurzer Entfernung nachgefolgt war, und gab leise einige Befehle, worauf der Diener verschwand. Jetzt sprach David zu seinen Gästen:

„Alles ist besorgt. Das Boot wird nach der Jacht zurückkehren, und in Friedrichsheim wird man Ihre Aufträge abholen.“

„Wo?“

„In Friedrichsheim. So heißt mein Haus. Sie ahnen schon, wem zu Ehren? Gehen wir, meine Herren! Das heißt, wir werden fahren.“

Er hatte bei aller Liebenswürdigkeit etwas Bestimmtes in seinem Ton. Kingscourt murmelte aber nicht unzufrieden:

„Fritze, der übernimmt das Kommando! Wollen mal sehen!“

David Littwak hatte ein Automobil herangewinkt. Er bat die Herren einzusteigen. Doch als er ihnen folgen wollte, wurde er von jemandem angerufen:

„Herr Littwak, Herr Littwak.“

Er drehte sich um:

„Ah, Sie sind’s? Was wünschen Sie?“

„In den Morgenblättern steht, daß Sie heute in Akko eine Versammlung abhalten. Ist es nicht wahr?“

„Ich wollte eben hinüberfahren. Aber ich muß die Versammlung absagen. Ich habe heute Wichtigeres vor. Richtig, ich will noch rasch hinübertelephonieren.“

„Darf ich es vielleicht für Sie tun, Herr Littwak?“

„Ja, wenn Sie so freundlich sein wollen.“

„Wahrscheinlich einen besonderen Besuch erhalten, Herr Littwak?“ forschte der Eifrige indem er mit dem linken Daumen über die Schulter hinweg nach dem Wagen deutete.

David lächelte, antwortete aber nicht und nickte nur mit dem Kopfe. Dann rief er dem hintenauf sitzenden Heizer zu: „Nach Friedrichsheim!“

„Dieses Gesicht kommt mir bekannt vor“, sagte Friedrich, als der Wagen davonrollte. „Ich muß es in einer anderen Form gesehen haben, ohne grauen Backenbart, ohne den Kneifer auf der Nase.“

„Ja, er ist auch aus Wien, er hat mir oft von Ihnen erzählen müssen. Ich wollte ihn nur jetzt nicht herankommen lassen. Heute gehören Sie mir allein… Er war auch ein Gast des Café Birkenreis. Nun raten Sie!“ ‚ Eine Erinnerung blitzte auf.

„Schiffmann!“ sagte Friedrich lachend. „Wie? Der ist auch hier?“

„Der und viele, viele andere Juden aus allen Städten und Ländern.“

Kingscourt, der neugierig nach allen Seiten hinausblickte, warf jetzt die Frage ein:

„Wollen Sie vielleicht sagen, daß die Rückkehr der Juden nach Palästina stattgefunden hat?“

„Freilich will ich das sagen.“

„Donner und Gloria!“ schrie der Alte. „Sie sind aus Europa ausgetrieben worden?“

David erklärte freundlich lächelnd:

„Nun, Sie dürfen sich das nicht so wie im Mittelalter vorstellen. Wenigstens in den Kulturländern hatte es nicht diesen Charakter. Die Operation war zumeist unblutig. Den Juden wurde am Ende des neunzehnten und zu Anfang dieses Jahrhunderts das Verbleiben an ihren Wohnorten unleidlich gemacht.“

„Aha! Rausgeekelt?“

„Die Verfolgungen waren sozialer und ökonomischer Art. Boykott im Geschäftsleben, Aushungerung der Arbeiter, Ächtung in den freien Berufen, von den feineren, moralischen Leiden gar nicht zu sprechen, die ein höher organisierter Jude um die Jahrhundertwende zu erdulden hatte. Die Judenfeindschaft war mit den neuesten, wie mit den ältesten Mitteln tätig. Das Blutmärchen wurde aufgefrischt, aber gleichzeitig hieß es auch, daß die Juden die Presse — wie einst im Mittelalter den Brunnen — vergifteten. Die Juden wurden von den Arbeitern gehaßt, als Lohnverderber, wenn sie ihre Genossen waren; als Ausbeuter, wann sie die Unternehmer waren. Sie wurden gehaßt, ob sie arm oder reich oder mittelständig waren. Man nahm ihnen das Erwerben, aber auch das Geldausgeben übel. Sie sollten weder produzieren noch konsumieren. Von den Staatsämtern wurden sie zurückgestoßen, vor den Gerichten hatten sie das Vorurteil gegen sich, überall im bürgerlichen Leben fanden sie Kränkungen. Unter diesen Umstanden war es klar, daß sie entweder die Todfeinde einer von Ungerechtigkeit strotzenden Gesellschaft werden oder nach einem Zufluchtsort ausblicken mußten. Das letztere ist geschehen, und hier sind wir. Wir haben uns gerettet.“

„Altneuland!“ murmelte Friedrich.

„Jawohl, das ist es“, sagte David Littwak ernst und bewegt. „Auf unserem alten teuren Boden haben wir uns eine neue Gesellschaft eingerichtet. Sie werden sie kennenlernen, meine Herren.“

„Der Deibel, das ist furchtbar interessant. Da gibt es riesig viel zu sehen. Ich wollte Sie nicht stören in Ihrer geschätzten Anklageschrift gegen das olle Europa, sonst hätte ich Sie nach einigen Bauten gefragt, an denen wir vorbeigefahren sind.“

„Ich werde Ihnen alles zeigen.“

„Hören Sie ‚mal, geschätzter Mann und Jude, ich will Ihnen zuerst ein Geständnis ablegen, sonst bereuen Sie nachher Ihre Aufmerksamkeiten. Ich bin nämlich kein Judo. He? Nu werden Sie mich wohl ‚rausschmeißen oder gelinde rausekeln, was?“

„Aber Kingscourt!“ wehrte Friedrich ab.

Ruhig sprach David Littwak:

„Daß Sie kein Jude sind, erkannte ich schon an einer Ihrer früheren Fragen. Lassen Sie sich sagen, daß meine Genossen und ich keinen Unterschied zwischen den Menschen machen. Wir fragen nicht, welchen Glaubens und welcher Rasse einer ist. Ein Mensch soll er sein, das genügt uns.“

„Millionen Bomben und Haubitzen! Und alle Bewohner dieser Gegend denken wie Sie?“

„Nein“, bekannte David offen; „das sage ich nicht. Es gibt noch andere Strömungen.“

„Aha! Das dachte ich mir auch gleich, verehrter Menschenfreund!“

„Ich will Sie jetzt nicht mit unseren politischen Kämpfen langweilen. Die sind so wie überall in der Welt. Aber das kann ich Ihnen sagen: die Grundsätze der Menschlichkeit werden bei uns allgemein in Ehren gehalten. Und was die Religionen betrifft. Sie finden bei uns neben unseren Tempeln die Gotteshäuser von Christen, Mohammedanern, Buddhisten und Brahmanen. Die beiden letzteren Glaubensgesellschaften sind allerdings nur in den Seestädten vertreten, zum Beispiel hier in Haifa, in Tyrus, Sidon und in den größeren Orten längs der Bahn, die nach dem Euphrat führt, etwa in Damaskus und Tadmor.“

Friedrich staunte:

„Tadmor! Die Stadt Palmyra lebt wieder?“

David nickte bestätigend:

„Das große Schauspiel des allgemeinen Gottesfriedens werden Sie aber in Jerusalem genießen.“

„Mein Kopf, mein Kopf!“ stöhnte Kingscourt. „Wie soll man denn das alles auf einmal behalten?“

Sie waren an einer Straßenkreuzung angelangt, wo der größere Wagenverkehr eine augenblickliche Stauung verursachte. Das Automobil mußte halten. Da erkannten sie, wie praktisch die Schwebebahn war. Unter den dicken eisernen Doppelgeleisen sausten die großen Kasten hoch in der Straßenmitte dahin, ohne die Fußgänger zu stören oder von ihnen gestört zu werden.

Von diesem Punkte ihres gezwungenen Aufenthaltes blickten sie in mehrere Straßen. Die Mannigfaltigkeit der Baustile erfreuten ihre Augen. Dann ging die Fahrt weiter durch lebhafte Stadtteile. Die Wohnhäuser waren zumeist klein und zierlich, offenbar nur für den Gebrauch der einzelnen Familie berechnet, wie man sie in belgischen Städten sieht. Um so stattlicher ragten die Kaufhäuser und die öffentlichen Gebäude, die als solche leicht erkennbar waren. David Littwak nannte ihnen einige im Vorüberfahren: das Seeamt, das Handelsamt, die Arbeitsvermittlung, die Unterrichtsverwaltung, das Amt für Elektrizität. Ein großer heiterer Palast, dessen Vorderseite eine freskengeschmückte Loggia hatte, fesselte ihre Aufmerksamkeit.

„Das ist das Bauamt“, sagte David. „Hier haust Steineck, unser erster Architekt. Von ihm ist der Stadtplan entworfen worden.“

„Der Mann hat eine große Aufgabe“, sprach Friedrich.

„Groß, jawohl, aber auch freudig. Er durfte aus dem Vollen schaffen, wie übrigens wir alle. Nie in der Geschichte sind Städte so rasch und herrlich erbaut worden, wie bei uns, weil man nie vorher solche technische Mittel zur Verfügung hatte. Die Leistungsfähigkeit der Kulturmenschheit war ja in dieser Beziehung schon am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kolossal. Wir brauchten nur die bekannten Dinge zu uns herüber zu verpflanzen. Wie das geschehen ist, werde ich Ihnen später noch erzählen.“

Sie waren jetzt in eine Villengegend der Stadt geraten. Der Fahrweg stieg an. Sie befanden sich auf dem Karmel. Hier standen schmucke Schlößchen inmitten duftender Gärten. An einzelnen Häusern maurischer Bauart bemerkten sie Holzgitter von engem Geflechte vor den Fenstern.

David kam der Frage zuvor:

„Hier wohnen einige vornehme Mohammedaner. Da sehen Sie gerade meinen Freund Reschid Bey.“

Vor dem schmiedeeisernen Tore eines Gartens, an dem sie vorbeifuhren, stand ein schöner Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Zur dunklen europäischen Kleidung trug er das rote Fez. Er grüßte nach orientalischer Art, indem er mit der Rechten den Luftschnörkel machte, der das Aufheben und Küssen des Staubes bedeutet. David rief ihm einige Worte in türkischer Sprache zu, worauf Reschid mit leicht norddeutscher Betonung zurückgab:

„Wünsche eine recht anjenehme Unterhaltung!“

Kingscourt riß die Augen auf:

„Was ist denn das für’n Muselmännchen?“

David lachte:

„Er hat in Berlin studiert. Sein Vater war einer derjenigen, die den Vorteil der Judeneinwanderung sofort begriffen. Er machte unseren ökonomischen Aufstieg mit und wurde reich. Reschid ist übrigens auch Mitglied unserer neuen Gesellschaft.“

„Der neuen Gesellschaft?“ wiederholte Friedrich. „Was ist das für eine?“

Kingscourt setzte hinzu:

„Hochgeliebter Mann, uns müssen Sie wie neugeborene Kälber in allem Wissenswertem unterweisen! Wir kennen weder die alte noch die neue Gesellschaft.“

„Doch!“ sagte David. „Die alte kennen oder kannten Sie. Unsere neue werde ich Ihnen vorstellen, bis wir mehr Muße haben. Jetzt ist dazu nicht mehr Zeit. Wir sind gleich dort, wo Sie sich fortab zu Hause fühlen sollen.“

Immer freier öffnete sich der Ausblick auf dem geschlängelten Wege. Nun lagen Stadt und Hafen von Haifa, die weite Bucht mit dem Gartenkranze und am anderen Ende Akko mit seinem Berghintergrunde vor den entzückten Augen der Fahrenden. Und nun waren sie ganz oben auf der Nordspitze des Karmel. Rechts und links, nach Norden und Süden dehnte sich das herrliche Gestade von Palästina, und vor ihnen weitete sich blau und goldig die endlose Fläche des Meeres. Weiße Schaumkämme flatterten wie Möwen darüber hin, dem hellbraunen Strande zu.

David hatte den Wagen halten lassen, damit sie den einzigen Anblick genössen. Er stieg aus, und die beiden folgten ihm. Er wandte sich zu Friedrich:

„Sehen Sie, Herr Doktor, das ist das Land unserer Väter!“

Und Friedrich wußte nicht, warum ihm bei diesen einfachen Worten des jungen Mannes die Augen von Tränen warm wurden. Doch war es eine andere Stimmung, als in jener Nacht von Jerusalem, zwanzig Jahre früher. Damals hatte er den mondbeglänzten Tod vor sich, und jetzt ein sonnenfreudiges Leben. Er blickte David an. Was war aus dem bettelhaften Judenjungen geworden! Ein frei und ernst schauender, gesunder, gebildeter Mann, der fest in seinen eigenen Schuhen zu stehen schien. Noch hatte David kaum eine Andeutung über seine eigenen Verhältnisse gemacht, aber es mochte ihm nicht schlecht ergehen, da er in dieser eleganten Gegend wohnte, wo es nur Villen und Schlösser gab. Er mußte aber auch ein angesehener Bürger sein, denn sie hatten unterwegs bemerkt, wie viele Leute ihn grüßten. Selbst ältere Personen kamen ihm mit dem Gruße zuvor. Jetzt stand er mit einem Ausdrucke tiefen Glückes in den Mienen auf der Karmelhöhe und sah hin über Land und Meer. Und jetzt erst glaubte Friedrich in dem freien Manne den merkwürdigen Knaben von der Brigittenauer Lände zu erkennen, der einst gesagt hatte, er wolle zurück nach dem Lande Israels!

 

Drittes Kapitel

Friedrichsheim war ein helles, hohes Schloss maurischen Stils, umgeben von Gärten. Vor der weißen Freitreppe lag in Stein gehauen ein Löwe. Wieder mußte Friedrich an die Worte des kleinen Hausierersohnes denken, da vom Löwen Judas die Rede gewesen. „Was Juda gehabt hat, kann es wieder haben. Unser aller Gott lebt ja noch!“ hatte der Junge damals gerufen. Der Traum war erfüllt…

Der Pförtner hatte ein Glockenzeichen gegeben, als David Littwak mit seinen Gästen durch das Gittertor kam. Sie wurden an der Freitreppe von zwei Dienern erwartet.

„Ich lasse meine Frau und meine Schwester in den unteren Salon bitten“, sagte David dem einen, der hierauf über die teppichbelegte Treppe der großen Eingangshalle in den ersten Stock hinaufeilte. Der andere Diener öffnete den Herren die Salontür. Sie traten in einen hochgewölbten Raum, der mit herrlichen Kunstwerken geschmückt war. Die Wände mit rosiger Seide verkleidet, die Möbel von der zarten englischen Bauart, an der Decke ein elektrischer Kronleuchter, schimmernd von Gold und Kristall. Eine Tür und vier Fenster ließen durch hohe Spiegelscheiben das volle Tageslicht hereindringen. Man sah hinaus auf ein weiches Rasenparterre mit Blumenbeeten bis zur marmornen Brüstung, hinter welcher das Meer blaute. Im Salon standen zu beiden Seiten der Haupttür siebenarmige Leuchter von Manneshöhe aus Silber. An der einen Schmalwand ein großes Gemälde, das einen alten Mann mit einer alten Frau in einfacher dunkler Kleidung darstellte.

„Meine Eltern!“ bemerkte David, als er Friedrichs Augen darauf gerichtet sah.

„Ich hätte sie gewiß nicht erkannt“, lächelte Friedrich. „Und wer ist das?“ Er deutete nach einem Ölbilde, das über dem mächtigen Kamin hing. Es war das Porträt einer schlanken, schwarzlockigen jungen Dame von großer Schönheit.

„Das ist meine Schwester Mirjam. Sie werden sich gleich selbst überzeugen können, ob es ähnlich ist.“

Im nächsten Augenblick traten die Damen ein: Mirjam und eine blühende junge Frau, die Gattin Davids.

„Sarah, Mirjam!“ rief der Hausherr mit leicht bebender Stimme. „Wir haben den teuersten, unerwartetsten Besuch erhalten. Dieser Tag hat mir die größte Freude meines Lebens gebracht. Ihr könnt nicht erraten, nicht einmal ahnen, wen wir zu beherbergen das Glück haben. Denjenigen, den wir für tot hielten, der unser Wohltäter, unser Retter war!“

Die Damen blickten verwundert drein.

„Doch nicht — Friedrich Löwenberg?“ fragte das junge Mädchen.

„Er selbst, Mirjam! Er selbst! Da steht er.“

Da eilte sie auf den Gast zu, streckte ihm beide Hände entgegen, begrüßte ihn freudestrahlend wie einen allen Freund.

Es war ihm wunderlich und selig zumute, als er von dieser lieblichen Stimme seinen Namen aussprechen hörte. Er kam sich wie verzaubert vor an dem herrlichen Orte, unter den prächtigen Menschen.

„Und das ist Mr. Kingscourt, der Freund des Doktors, also auch unser Freund und werter Gast.“ Er berichtete kurz, wie er die Herren im Hafen erblickt und Friedrich sogleich erkannt hatte. Denn er hatte sich als kleiner Knabe die Züge des Nothelfers tief eingeprägt, und Friedrich war eigentlich wenig verändert. Selbstverständlich dürften die Herren in kein Hotel gehen, sondern müßten hier wohnen.

Frau Sarah wollte die Gäste gleich nach ihren Zimmern geleiten lassen. David übernahm dies aber selbst. Er bat die Herren, ihm zu folgen.

„Gehen wir hinauf! Ich möchte Ihnen oben auch einen jungen Mann vorstellen, der den hier nicht mehr ungewöhnlichen Namen Friedrich führt.“

So schritten alle fünf die Halltreppe hinauf in den ersten Stock. David führte und blieb vor der letzten Tür des Korridors stehen.

„Hier hält sich dieses Individuum auf“, sagte er glücklich lachend und öffnete.

Es war ein weißes Zimmer. In der Mitte thronte auf seinem hohen Kinderstuhl ein pausbackiges Baby. Es hatte sich die Schuhchen von den Füßen gestreift und war eben bemüht, auch die kleinen Strümpfe durch beharrliches Reiben der Zehen an den drallen Wädchen loszuwerden. Vor ihm stand seine ältliche Pflegerin mit einem Teller Milchspeise. Das Kind schlug lustig seinen Löffel auf den Brei, daß es nur so patschte, und schien diese Unterhaltung für wichtiger zu halten als das Essen.

„Dieser Dummkopf ist mein Sohn Friedrich“, rief David, und es klang zum erstenmal etwas wie Stolz aus seinen Worten.

Aber Jung-Friedrich ließ den Löffel fahren. Kingscourts weißer Bart hatte es ihm angetan. Er jauchzte hoch auf und reckte dem Alten beide Ärmchen entgegen. Kingscourt reichte ihm seinen Zeigefinger, und das Bübchen klammerte sich fest an.

Die anderen wollten dann hinausgehen, Kingscourt blieb wie angewurzelt stehen.

Friedrich wandte sich in der Tür um:

„Kommen Sie denn nicht mit, Kingscourt?“

„Der Kerl läßt mich nicht los!“ erwiderte er geschmeichelt. Und er blieb dann auch richtig noch eine ganze Stunde beim kleinen Friedrich.

Mit diesem Augenblick begannen die Beziehungen zwischen dem alten Menschenfeinde Kingscourt und dem jüngsten Littwak. Man konnte nie Genaueres über den Inhalt ihrer Unterredungen erfahren, weil der kleine Fritz noch nicht sprechen konnte, und Kingscourt unter den furchtbarsten Flüchen leugnete, daß er das Kind lieb habe. Indessen wurde später durch Aussagen der Dienstleute festgestellt, daß Kingscourt oft in die Kinderstube geschlichen kam, wenn er wußte, daß kein anderer da war, und daß er sich zu den unvernünftigsten Streichen hergab. Er ließ das Kind auf seinen Schultern reiten oder legte sich platt auf den Boden, damit das Bürschchen gefahrlos an ihm herumklettern könne. Wenn das Fritzchen aber weinte, führte er, um, es zu trösten, sehr erstaunliche Tänze auf und sang ihm uralte deutsche Lieder vor, wobei er seine rauhe Stimme recht wohlklingend zu machen versuchte.

Am ersten Tage seiner Bekanntschaft mit dem Kleinen fand sich Kingscourt ein wenig verlegen beim Mittagstische ein. Doch gab es so vielerlei zu fragen und zu erzählen, daß seine plötzliche Schwäche für das Bübchen unbemerkt und unerörtert blieb.

Sie saßen in dem holzgetäfelten Speisesaale und hielten eine gute Mahlzeit. Die Weine erregten besonders die Zufriedenheit Kingscourts. Er bekam die Auskunft, daß es durchwegs palästinensische Weine seien, zum Teile sogar Eigenbau Davids. Mit der Weinkultur hatte ja die Kolonisation des Landes schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begonnen. Die besten Rebensorten waren gepflanzt worden und gediehen vortrefflich.

Mirjam erhob sich vor Ende des Mahles. Sie mußte fort, zur Schule. Nachdem sie hinausgegangen war, beantwortete David eine Frage Löwenbergs:

„Ja. Mirjam ist Lehrerin. Sie unterrichtet im Mädchengymnasium. Ihre Fächer sind Französisch und Englisch.“

Kingscourt brummte:

„So? Das arme Mädel muß sich mit Stundengeben schinden?“

Es lag ein geheimer Vorwurf darin, den David lächelnd aufgriff:

„Sie tut es nicht um den Lebensunterhalt. So weit bin ich, Gott sei Dank, daß ich meine Schwester nicht darben lasse. Aber sie hat Pflichten und erfüllt sie, weil sie auch Rechte besitzt. In unserer neuen Gesellschaft sind die Frauen gleichberechtigt mit den Männern.“

„Alle Deibel!“

„Daß sie das aktive und passive Wahlrecht haben, ist selbstverständlich. Sie haben treu mit uns gearbeitet am Aufbau unserer Einrichtungen, ihre Begeisterung für unseren Hochgedanken hat den Mut der Männer beflügelt. Es wäre die häßlichste Undankbarkeit gewesen, wenn wir sie an den Gesindetisch unseres Hauses oder in ein verschämtes Serail verwiesen hätten.“

„Sie sagten uns unterwegs“, warf Löwenberg ein, „daß Reschid Bey auch ein Mitglied Ihrer Gesellschaft sei. Ihr Wort vom Serail bringt mich auf eine Frage.“

„Die ich errate, Herr Doktor. Niemand ist gezwungen, unserer neuen Gesellschaft beizutreten. Wer in ihr aufgenommen wird, ist wieder nicht gezwungen, seine Rechte auszuüben. Das steht in seinem Belieben. Kannten Sie im alten Europa nicht auch Männer, die kein Interesse an den Wahlen hatten, nie zur Urne gingen und um keinen Preis eine Wahl angenommen hätten? So ist es mit dem Wählen und Gewähltwerden der Frauen in unserer neuen Gesellschaft. Glauben Sie nur ja nicht, daß die Hausmütterlichkeit bei uns darunter gelitten habe. Meine Frau zum Beispiel geht nie in eine Versammlung.“

Frau Sarah lächelte:

„Daran ist aber nur Fritzchen schuld.“

Kingscourt träumte einen Augenblick von der Kinderstube und murmelte wie verloren:

„Das begreife ich.“

„Ja“, fuhr David fort, „sie hat unseren Buben gesäugt und bei dieser Gelegenheit ihre unveräußerlichen Rechte ein bißchen vergessen. Früher gehörte sie der radikalen Opposition an. So habe ich sie auch kennengelernt, als Gegnerin. Jetzt macht sie mir nur noch zu Hause Opposition — freilich die allergetreueste, die man sich denken kann.“

Dröhnend lachte Kingscourt:

„Das ist ’n verdammt gescheites Mittel, einer Opposition beizukommen. Das vereinfacht die politischen Zustände außerordentlich.“

Und David erklärte weiter:

„Ich muß Ihnen aber sagen, meine Herren, daß die Frauen bei uns vernünftig genug sind, sich nicht auf Kosten ihres Privatwohles mit den allgemeinen Angelegenheiten abzugeben. Es ist nicht nur ein weiblicher, es ist ein menschlicher Zug, daß man sich um das Erreichte nicht mehr viel kümmert. Der Zustand, den wir haben, wurde auch schon im vorigen Jahrhundert vorbereitet. Es gab in einzelnen Ländern Vertretungskörper von lokalem oder professionellem Wirkungskreise, in denen die Frauen als Wähler und Gewählte zugelassen wurden. Sie haben sich da als klug und tüchtig bewährt. Sie haben nicht mehr Zeit vertrödelt, kein dümmeres Zeug geschwatzt, als die Männer. Es lag wirklich kein Grund vor, diese günstige Erfahrung unbenutzt zu lassen. Im übrigen ist die Politik bei uns kein Geschäft oder Beruf, weder für Männer noch für Frauen. Diese Seuche haben wir uns fernzuhalten gewußt. Leute, die von ihrer deklamierten Überzeugung zu leben versuchen, statt von ihrer Arbeit, werden rasch erkannt, verachtet und unschädlich gemacht. Die Gerichte haben wiederholt in Ehrenbeleidigungsfällen entschieden, daß ‚Berufspolitiker‘ ein Schimpfwort ist. Diese Tatsache sagt Ihnen wohl genug.“

„Wie besetzen Sie aber die öffentlichen Ämter?“ fragte Friedrich Löwenberg, „Gebäude, die Sie uns im Vorbeifahren zeigten, lassen doch die Annahme zu, daß es auch bei Ihnen Ämter gibt.“

„Gewiß. Wir haben besoldete und Ehrenämter. Die besoldeten werden aber nur nach der fachlichen Tüchtigkeit der Bewerber vergeben. Die Parteigänger, welcher Art sie auch seien, haben von vornherein das gesunde Vorurteil aller gegen sich. Aktive Beamte dürfen sich überhaupt in keiner Weise an öffentlichen Diskussionen beteiligen. Anders ist es um die Ehrenämter bestellt. Für die Besetzung dieser haben wir einen einfachen Grundsatz. Die sich hervordrängen, schieben wir sachte beiseite. Wir bemühen uns, das echte Verdienst in seinen bescheidensten Schlupfwinkeln aufzustöbern. Darin sehen wir die Bürgschaft, daß unser teures Gemeinwesen nicht Strebern zum Raub werde. So ist der jetzige Präsident unserer Gesellschaft ein greiser, russischer Augenarzt. Der übernahm das Amt höchst ungern, weil er seine Praxis aufgeben mußte.“

„War die so einträglich?“ fragte Kingscourt.

„O nein, hauptsächlich eine Armenpraxis. Er hat sie seiner Tochter übergeben. Sie ist auch eine bedeutende Heilkünstlerin. Jetzt ist sie Vorsteherin der großen Augenklinik. Ein braves Frauenzimmer, hat nicht geheiratet und widmet ihr Leben, ihre geschickte Hand den armen Leidenden. Sie ist so recht ein Beispiel, welcher Nutzen die alten Mädchen, die einsamen Frauen in einer vernünftigen Gesellschaft werden können. Ehemals wurden sie verspottet oder als Last empfunden. Bei uns wirken sie sich und anderen zum Heile. Das ganze Departement der öffentlichen Wohltätigkeit ist in den Händen solcher Damen. Auch darin haben wir nichts Neues geschaffen, sondern nur das längst Vorhandene in ein System gebracht, ordentlich zentralisiert. Spitäler, Siechenhäuser, Kindergärten, Ferienkolonien, Volksküchen, kurz, alle milden Einrichtungen, die Sie schon in Europa kannten, sind bei uns zusammengefaßt und werden einheitlich verwaltet. Durch diese Organisation ist es möglich geworden, jedem Hilfsbedürftigen oder Kranken beizustehen. Es werden zwar bei uns an die öffentliche Wohltätigkeit geringere Anforderungen gestellt, als es in den früheren Verhältnissen der Fall war, weil bei uns die Zustände — ich darf es wohl sagen — im allgemeinen gesünder sind. Aber Hilfsbedürftige gibt es auch hier, weil wir ja die Natur der Menschen nicht zu ändern vermochten. Schwäche, Sorglosigkeit, verschuldetes und unverschuldetes Unglück richten auch bei uns manchen zugrunde. Wir helfen den Kranken durch Pflege, den Gesunden durch Arbeit. Das alles haben wir nicht erfunden, sondern nur angewendet und ausgebildet. Sie kannten sicherlich schon in der alten Zeit die Einrichtungen der Arbeitshilfe und Arbeitsvermittlung. Bei uns hat jeder ein Recht auf Arbeit, und somit auf Brot; dafür aber auch die Pflicht zur Arbeit. Den Bettel dulden wir nicht. Ein Gesunder, welcher Almosen nimmt, wird zu den schwersten Arbeiten gezwungen. Der mittellose Kranke braucht sich nur im Wohltätigkeitsamte zu melden. Keiner wird abgewiesen. Die einzelnen Spitäler sind selbstverständlich mit der Zentrale telephonisch verbunden, und es wird durch rechtzeitige Vorkehrungen dem gelegentlichen Platzmangel vorgebeugt. Wir müßten uns ja schämen, wenn ein Leidender von Spittel zu Spittel wankte, wie es ehemals vorkam. Ist ein Krankenhaus voll, so stehen im Hofe Wagen, um den neuankommenden Patienten in die nächste aufnahmebereite Anstalt zu bringen.“

„Das muß doch ungeheure Kosten verursachen“, sagte Friedrich.

„Nein. Bedenken Sie, daß durch die planvolle Einteilung alles ökonomischer wird. Die alte Gesellschaft war schon an der Jahrhundertwende reich genug, nur litt sie an ihrer namenlosen Verworrenheit. Sie war eine überfüllte Schatzkammer, in der man keinen Suppenlöffel fand, wenn man ihn brauchte. Die Leute waren keineswegs dümmer oder schlechter als wir — oder, wenn Sie wollen, wir sind nicht klüger oder besser, als jene waren. Der Grund des Gelingens unserer sozialen Versuche ist ein anderer. Wir haben unsere Gesellschaft gleichsam ohne erbliche Belastung eingerichtet. Zwar haben auch wir an die Vergangenheit angeknüpft, und wir mußten es — der alte Boden, das alte Volk — nur haben wir die Einrichtungen verjüngt. Die Völker mit ununterbrochener Geschichte mußten Lasten tragen, die ihre Väter auf sich genommen hatten. Wir nicht. Am deutlichsten sehen Sie das am Beispiel irgendeines der Staatshaushalte, die Sie ehemals kannten. Da bildeten die Zinsen und Amortisationen längstvergangener Schulden einen riesigen Rechnungsposten. Es gab nur zweierlei: entweder den schimpflichen Bankrott, oder das seufzende Fortschleppen der schweren alten Lasten. Die neue Gesellschaft war von vornherein in einer günstigeren Lage. Ich werde Ihnen das noch im einzelnen zeigen. Jetzt will ich nur Ihre Frage nach den Kosten der Wohltätigkeitsanstalten beantworten. Obwohl diese Anstalten bei uns für alle Notfälle ausreichen, allen Schwachen und Kranken zweckmäßig helfen, sind sie doch weit billiger. Die Bauten und Einrichtungen wurden und werden, wie es schon früher in jeder zivilisierten Gesellschaft geschah, aus öffentlichen Mitteln bestritten, insoweit die bei uns Juden von jeher üblichen Tempelspenden und letztwilligen Verfügungen nicht ausreichen. Für das pflegende Personal aber haben wir durch ein System von Mitgliedspflichten vorgesorgt. Alle Mitglieder der neuen Gesellschaft, die männlichen wie die weiblichen, müssen zwei Jahre ihres Lebens dem öffentlichen Dienste widmen. In der Regel ist es die Zeit vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahre, nach Vollendung der Studien. Dabei will ich schon jetzt bemerken, daß der Unterricht auf allen Stufen, mit Einschluß der Universität, für die Kinder unserer Mitglieder unentgeltlich ist. In der zweijährigen öffentlichen Dienstpflicht haben wir also ein unerschöpfliches Reservoir von Hilfskräften für alle diejenigen Anstalten und Arbeiten, deren allgemeine Nützlichkeit von der Gesellschaft anerkannt ist. Geleitet werden die Anstalten und Arbeiten von besoldeten Beamten.“

„Ich verstehe“, sagte Friedrich. „Ihre Armee besteht aus Berufsoffizieren und Freiwilligen.“

„Ich akzeptiere das Gleichnis“, erwiderte David. „Aber mehr als ein Gleichnis ist es nicht. Ein Kriegsheer gibt es nämlich in der neuen Gesellschaft nicht.“

„Au weh!“ spottete Kingscourt.

David lächelte:

„Was wollen Sie, Mr. Kingscourt? Nichts ist vollkommen auf Erden, also auch unsere neue Gesellschaft nicht. Wir haben ja keinen Staat, wie die Europäer Ihrer Zeit. Wir sind eine Gesellschaft von bürgerlichen Leuten, die nur durch Arbeit und Bildung ihres Lebens froh werden wollen. Wir begnügen uns damit, unsere Jugend auch körperlich tüchtig zu machen. Wir bilden wie den Geist so den Leib unserer Jugend. Turn- und Schützenvereine genügen uns für diesen Zweck, wie sie in der Schweiz genügten. Auch haben wir Wettspiele nach englischem Muster: Kricket, Fußball, Rudern. Auch diese bewährten Dinge haben wir übernommen, und sie bewähren sich nun bei uns. Einst waren die Judenkinder bleich, schwach und scheu. Sehen Sie sie heute an! Die Erklärung dieser wunderbar scheinenden Verwandlung ist die einfachste von der Welt. Wir haben sie aus dumpfen Kellerlöchern, Elendhütten, Proletarierstuben an das Licht gebracht. Pflanzen gehen ohne Sonne zugrunde, Menschen auch. Pflanzen kann man retten, wenn man sie in den von ihrer eigenen Art geforderten Boden setzt, Menschen auch. So ist es geschehen!“

Friedrich Löwenberg sprach sinnend:

„Wenn man Ihnen zuhört — und all das, was Sie uns schon gezeigt haben und noch zu zeigen versprechen, will es ja bestätigen —, so möchte man glauben, daß es eine wirkliche Begebenheit und keine Utopie sei. Und doch fehlt mir etwas. Den Umfang und die Bedeutung Ihrer neuen Gesellschaft beginne ich zu ahnen. Sie werden sie uns gewiß noch näher erklären. Das bringt mich auch gar nicht in Verwirrung. Etwas anderes ist es. Ich gebe ja zu, daß Sie uns lauter Dinge vorführten, die uns nicht befremden dürfen, weil wir sie sämtlich schon in Europa, obwohl nur zerstreut und ohne Harmonie geschaut haben. Aber wenn ich auch sehe, höre, greife — begreifen kann ich nicht, wie das entstehen konnte. Wie soll ich mich nur ausdrücken? Ich verstehe den neuen Zustand, soviel ich bisher von ihm weiß, vollkommen — nur sein Werden verstehe ich nicht. Der Übergang von dem alten Zustande, den ich kannte, in den neuen ist mir unerklärlich. Käme ich heute auf die Welt, so würde ich das alles hinnehmen, wie ich das Gewordene meiner Zeit als vernünftig hinnahm. Gewiß hätte ich auch damals vieles als wunderbar und unwahrscheinlich empfunden, wenn ich es plötzlich mit dem entfremdeten Blick eines zwanzig Jahre Abwesenden erschaut hätte. Wären wir beispielsweise von 1880 bis 1900 weggewesen, so hätten uns im elektrischen Licht, im Telephon, in der Kraftübertragung durch den Draht viel größere Überraschungen erwartet. Sie setzten uns hingegen nichts technisch Neues vor, und ich glaube doch, zu träumen. Der Übergang fehlt mir.“

„Den will ich Ihnen auch zeigen“, sagte David. „Ich werde Ihnen meine eigene Geschichte erzählen, in der Sie selbst eine so große Rolle gespielt haben. Nur nicht hier, nicht jetzt. Sie werden von der Reise müde sein. Ruhen Sie vor allem! Abends wollen wir, wenn Sie Lust haben, in ein Theater gehen, in die Oper oder in das deutsche, englische, französische, italienische, spanische Theater.“

„Schwerenot!“ schrie Kingscourt, „das alles gibt es hier? Also wie in Amerika zu meiner Zeit? Da gab es ja auch Schauspieler aus aller Herren Ländern. Aber daß Sie das hier haben…“

„Ist doch gewiß nicht erstaunlich. Von Europa ist es hierher viel näher, als nach Amerika. Auch haben es die Leute, denen vor der Seekrankheit bangt, bequemer, nach Palästina zu kommen. Das im vorigen Jahrhundert begonnene Netz der kleinasiatischen Bahnen ist längst ausgebaut. Man fährt im Eisenbahnwagen nach Damaskus, Jerusalem oder Bagdad. Seit die Eisenbahnbrücke über den Bosporus fertig ist, kann man ja überhaupt ohne den Wagen zu wechseln von Petersburg oder Odessa, von Berlin oder Wien, von Amsterdam, Calais, Paris, Madrid und Lissabon nach Jerusalem fahren. Die großen europäischen Expreßlinien haben sämtlich Anschluß an die Linie nach Jerusalem, so wie die palästinensischen Bahnen wieder Anschluß nach Ägypten und Nordafrika haben. Die nord-südafrikanische Linie, für die sich der deutsche Kaiser schon in den neunziger Jahren interessierte, und die sibirische Bahn nach den Grenzen Chinas ergänzen dieses Eisenbahnnetz der alten Welt. Wir befinden uns an einer vorzüglichen Stelle dieses Netzes.“

„Hol’s der Deibel, das ist ’ne dolle Nummer!“

„Sie werden sich doch nicht über Eisenbahnen wundern, die Sie selbst gesehen haben, Mr. Kingscourt? Das ist nichts Übernatürliches. Die russisch-chinesische Bahn war vor zwanzig Jahren schon fertig, die Bagdadbahn im Bau, die Nil-Kap-Bahn geplant. Unerklärlich müßte man es nur finden, wenn Palästina, genau im geographischen Mittelpunkte der Verkehrskreuzung zwischen Europa, Asien und Afrika liegend, noch länger ausgeschaltet geblieben wäre.“

„Nee, lieber Hausherr, darüber wundere ich mich nicht Sondern — darf ich es sagen? — daß Ihr Juden das gemacht habt. Sie nehmen mir’s nicht krumm?“

Friedrich bemerkte:

„Offen gesagt, das ist auch mein Erstaunen. Uns Juden hätte ich das nicht zugetraut'“

David sagte gelassen:

„Nur wir Juden konnten es. Nur wir allein. Nur wir waren imstande, diese neue Gesellschaft und diesen Verkehrsmittelpunkt zu schaffen. Eins griff ins andere, und es konnte nur durch uns, durch unsere Schicksale hindurchgehen. Unsere moralischen Leiden waren dazu notwendig wie unsere wirtschaftlichen Erfahrungen und unser Kosmopolitismus. Doch genug davon für heute. Ruhen Sie jetzt, unterhalten Sie sich dann. Morgen in Tiberias erzähle ich Ihnen weiter.“

 

Viertes Kapitel

An eine Fortsetzung der Reise nach Europa war vorläufig nicht zu denken. Friedrich Löwenberg meinte zwar aus Diskretion, er müsse seinem Freunde diesen Vorschlag machen, weil Kingscourt sich wohl kaum für die Schicksale des jüdischen Volkes interessieren mochte. Aber der Alte erklärte mit Entschiedenheit, daß er dableiben wolle, solange man sie dulde. Das sei doch eine ganz verdammt kuriose Geschichte, die sich da mit den Juden abgespielt habe. Und wenn der Herr Dr. Friedrich Löwenberg für seine eigene Nation keine Teilnahme mehr habe, er, Kingscourt, sei kein solcher Unmensch.

Kurz und gut, als der Steuermann von der Jacht heraufkam, wurde ihm bedeutet, daß man in Haifa bleibe. Kleider und Wäsche sollten nach Friedrichsheim geschickt werden, und die Mannschaft könne sich ein paar gute Tage machen.

Die Fremdenzimmer, in denen sie untergebracht waren, grenzten aneinander. Kingscourt stand in Hemdärmeln auf der Schwelle der Verbindungstür und machte heftig gestikulierend seine Randbemerkungen zu allem, was sie bisher gesehen und gehört hatten. Friedrich ruhte in einem Lehnstuhl und blickte träumend zur offenen Terrassentür hinaus aufs Meer. Ein herrlicherer Aufenthaltsort ließ sich nicht denken. Und was waren das für prächtige Menschen, die sich in diesem hohen und freien Wohlstand so gelassen bewegten. David heiter und energisch, selbstbewußt und doch nicht unbescheiden. Seine Frau neben ihm ein glückliches Bild der jungen und frohen Mütterlichkeit. Und dieses anmutige, edle Mädchen Mirjam, ernsteren Pflichten ergeben, als es vormals der Brauch gewesen in reichen jüdischen Häusern. Nach langen Jahren zum erstenmal mußte er wieder an Ernestine Löffler denken, die er so töricht geliebt, und die ihm den Abschied vom Leben so leicht gemacht hatte. Ob wohl Mirjam auch fähig wäre, eine solche Ehe einzugehen, wie einst Ernestine? Er wußte selbst nicht, wie er auf diese komische Frage kam. Nein, das war ein anderes Mädchen, und das waren andere Menschen als die im widerwärtigen Löfflerschen Kreise. Wer weiß, ob es damals nicht besser gewesen wäre, männlicher, menschenwürdiger, zu streben und zu kämpfen, statt sich vor dem Leben zu flüchten.

„Kingscourt!“ seufzte er aus diesem Gedankenzuge heraus, „ich frage mich, ob unser Schiff keinen falschen Kurs hatte, als wir die selige Insel dort drüben suchten. Womit habe ich nun zwanzig schöne Jahre verbracht? Mit Jagen, Fischen, Essen, Trinken, Schlafen, Schachspielen…“

„Und mit einem alten Esel, was?“ brummte Kingscourt verletzt.

„Den alten Esel schieben Sie mir unter“, lachte Friedrich, „ohne Sie könnte und möchte ich ja nicht mehr existieren. Aber es ist doch schade, daß man nicht nützlicher war. Da ist nun die Welt um solch ein Stück weitergekommen, und man hatte kein Teil daran, kein Verdienst.“

„Nee, so was. Nu war der Mensch zwanzig Jahre in meiner Schule und hat noch solche Gedanken. Sagen Sie gleich, daß Sie Mitglied der neuen Gesellschaft sein möchten.“

„Ich sage es nicht, weil ich sie noch nicht genügend kenne. Aber minder abstoßend, als die frühere, kommt sie mir doch vor.“

„Minder abstoßend? Minder abstoßend!“ schäumte der Alte. „Bitte, treten Sie nur in die saubere Gesellschaft ein. Ich kann ja allein weiterdampfen und sehen, wie ich mit mir fertig werde.“

„Regen Sie sich nicht auf, Kingscourt! Ich werde nicht länger hierbleiben, als Sie selbst“

„Das ist ein Wort?“

„Mein Ehrenwort… Und ich werde auch nicht in Davids neue Gesellschaft eintreten. Es wäre denn…“

„Was?“

Friedrich lächelte bei diesem Gedanken:

„Es wäre denn — daß Sie auch eintreten.“

So gelacht hatte Kingscourt schon lange nicht.

„Fritze, hahaha, was haben Sie doch für pudelnärrische Einfälle. Oh, hoh, hahaha. Sehen Sie mich als Mitglied einer jüdischen Gesellschaft! Mich, Adalbert von Königshoff, einen königlich preußischen Offizier und christlichen germanischen Edelmann. Nee, Fritze, das ist zu jut, zu jut.“

„Der Junker spricht.“

„Da is er nu gleich pikiert. In meinen Augen sind Sie ja ’ne Ausnahme. Einer is Keiner.“

„Und was haben Sie gegen David Littwak einzuwenden?“

„Vorläufig nischt. Scheint ’n ganz strammer Kerl zu sein…“

Ihr Gespräch wurde durch den Hausherrn unterbrochen, der kam, sich nach ihren Wünschen zu erkundigen. Ob sie sich schon für ein Theater oder Konzert entschieden hätten. Er legte ihnen den Vergnügungsanzeiger einer Zeitung vor.

Kingscourt deutete auf das Blatt, ohne zu lesen:

„Wachsen noch immer so viele Lügen in der Welt?“

„Nur so viele, wie die Leser wollen“, entgegnete David.

„Also enorm viel“, schmunzelte Kingscourt.

„Das ist ganz verschieden. Im allgemeinen sind die genossenschaftlichen Blätter wahrheitsliebend und anständig.“

„Was für Blätter?“

„Die genossenschaftlichen. In unserer mutualistischen Wirtschaftsordnung mußten auch die Tageszeitungen natürlich diesen Charakter annehmen.“

Kingscourt unterbrach ihn:

„Halt, halt! Nicht zu schnell! In welcher Wirtschaftsordnung leben Sie?“

„In der mutualistischen. Stellen Sie sich aber darunter keine eisernen Regeln, keine unbeugsamen Grundgesetze, überhaupt nichts Hartes, Steifes, Doktrinäres vor — sondern einen harmlos und natürlich fließenden Gebrauch. Auch das hat schon zu Ihrer Zeit existiert, wie alles andere, was Sie bei uns sehen. Es gab Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften aller Art. Alle Arten werden Sie auch bei uns wirksam finden. Das ganze Verdienst unserer neuen Gesellschaft besteht nur darin, daß sie das Aufkommen und Gedeihen der Genossenschaften durch Kredit und — was wichtiger war — durch die Unterweisung der Massen gefördert hat. In der Wissenschaft des vorigen Jahrhunderts war die Bedeutung der Genossenschaften längst klargestellt worden. Im praktischen Leben rangen sie sich nur schwer und zufällig durch. Die Genossen waren in vielen Fällen zu schwach, um bis an den Erfolg, der kommen mußte, durchzuhalten. Sie hatten auch mit der dumpfen oder offenen Gegnerschaft bedrohter Interessen zu kämpfen. Die Lebensmittelhändler waren selbstverständlich über die Konsumvereine nicht sehr froh. Die Möbelfabrikanten waren von dem Tischlergenossenschaften nicht entzückt. Alle Trägheit, alle Reibungswiderstände, alle Hemmungen eingealterter Zustände wirkten gegen die Entstehung der Genossenschaften. Und doch ist das die mittlere Form zwischen Individualismus und Kollektivismus. Der einzelne wird nicht der Anregungen und Freuden des Privateigentums beraubt, und dennoch kann er sich im Zusammenstehen mit Genossen der kapitalistischen Übermacht erwehren. Der Jammer, der Fluch ist von unseren Armen genommen, daß sie am Erzeugnisse weniger verdienen und den Verbrauch teurer bezahlen als die Reichen. Bei uns ist das Brot des Armen ebenso billig wie das des Reichen. Es gibt keinen Lebensmittelwucher. In der alten Gesellschaft wären Hunderttausende von Händlern dabei zugrunde gegangen. Wir ließen die Händler alten Stils gar nicht erst entstehen, sondern richteten von Anfang an die Konsumvereine ein. Da haben Sie wieder den Vorzug unserer Lastenfreiheit. Wir mußten niemanden zugrunde richten, um unseren armen Massen zu helfen.“

„Aber die Zeitung?“ fragte Friedrich. „Wir sprachen von Zeitungen. Wie können die genossenschaftlich eingerichtet werden? Gehören sie sämtlichen Redakteuren, oder wie ist das?“

„Sehr einfach. Die genossenschaftliche Zeitung gehört den Abonnenten. Der Abonnementsbetrag ist die Einlage der Mitglieder, die darüber hinaus nicht haften. Je größer der Leserkreis, um so bedeutender sind die Einnahmen aus Inseraten und Ankündigungen verschiedener Art. Dieser Gewinn gebührt eigentlich den Lesern oder wenigstens den Abonnenten, und er wird zum Jahresschluß den Mitgliedern rückvergütet. So daß in besonders günstigen Fällen die Abonnenten schließlich ihre Einlage ganz wiedererhalten. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie mehr als die Einlage erhielten.“

„Fabelhaft! Unglaublich fabelhaft“, schrie Kingscourt. „Da kriegt man also eine Prämie für fleißiges Zeitungslesen?“

„Ja, haben Sie denn in Europa und Amerika nie davon gehört, welche Einkünfte die großen Zeitungen hatten? Sie wurden auch immer billiger, obwohl die Ausgaben für Depeschen und Mitarbeiterhonorare sich riesig steigerten. Die größten Blätter wurden unter den Entstehungskosten hingegeben, und dabei wuchs der Gewinn der Unternehmer immer mehr. Darin war also schon das Prinzip der Gewinnvergütung an die Abonnenten enthalten. Dasselbe finden Sie hier bei uns, nur gelangt auch der Löwenanteil des Unternehmers zur Verteilung an die Mitglieder der Zeitungsgenossenschaft. Die Redaktion ist der geschäftsführende Ausschuß, und Sie können versichert sein, daß diese hochstehenden Arbeiter, deren Geist ja das bedruckte Papier erst lesenswert macht, besser daran sind als früher. Sie sind es, die das Geld für die Abonnenten verdienen, und dafür hat auch der gewöhnliche Mann das Einsehen. Es kommt die Dankbarkeit für die guten, schönen und gerechten Aufsätze hinzu, durch die Tag um Tag die allgemeine Bildung gepflegt und erweitert wird. Unsere Zeitungen ergänzen den Volksunterricht unermüdlich, sie belehren, aber sie unterhalten auch; sie dienen den praktischen Bedürfnissen des Verkehrs, des Handels und der Industrie nicht minder eifrig, als der Kunst und Wissenschaft. Und wie anders freudig arbeiten diese Journalisten im Bewußtsein ihrer öffentlichen Wichtigkeit und des zu erwartenden rückhaltlosen Dankes. Um wieviel ernster nehmen sie ihre Aufgabe, für die es nunmehr auch eine Verantwortung gibt.“

„Das klingt verführerisch“, warf da Friedrich ein. „Nur scheint mir, daß solche genossenschaftlichen Zeitungen den Launen der Menge sklavisch unterworfen sein müssen. Die Redaktion, in ihrer ganzen Existenz von den Lesern abhängig, wird augendienern, dem Publikum schmeicheln, den Leidenschaften der Abonnenten zu fröhnen suchen.“

„Wenn dem so wäre“, entgegnete David, „wäre das vielleicht etwas Neues? Hat es nicht auch früher solche Erscheinungen gegeben? Es gab Redakteure, die ängstlich nach den Stimmungen des Publikums aushorchten und auslugten, die das eine verschwiegen und das andere übertrieben, je nachdem sie glaubten, es ihren Lesern recht zu machen. Und dabei waren sie erst noch im Ungewissen, ob sie es auch trafen. Anders jetzt. In den jährlichen Versammlungen wird Rechenschaft gegeben, aber auch vom organisierten Publikum der Zeitung für die Zukunft eine Richtschnur erteilt.“

„Gräßlich!“ rief Kingscourt. „Versammlungen von hunderttausend Abonnenten!“

„Wo denken Sie hin? Die Abonnenten wählen hundert oder zweihundert Vertrauensmänner, die das besorgen. Der Vorgang ist einfach. In der Zeitung selbst kandidieren Leute für dieses kurze Amt. Der Abonnementschein hat einen Kupon, der als Wahlzettel dient. Fünfhundert oder tausend übergeben ihre Wahlzettel einem Vertrauensmann für die Generalversammlung. Ein solcher pflegt in der Zeitung selbst zu inserieren: Ich gedenke in der Generalversammlung diesen und diesen Standpunkt einzunehmen. Wer mit mir einverstanden ist, möge mir seinen Zettel einschicken.“

„Schön“, sagte Friedrich, „dem Publikum wird reichlich Rechnung getragen. Aber darin, sehe ich noch keinen Vorteil für das Volk. Die neuen Gedanken und Bewegungen werden selten gleich verstanden. Sie könnten es ebensogut Kindern anheimstellen, ob sie etwas lernen wollen, wie dem Publikum, ob es seine Anschauungen verbessern, erneuern oder verliefen will. Ihre öffentliche Meinungsgenossenscbaft muß notwendig zur Volksverdummung in den extremsten Formen, nämlich zu Reaktion und Revolution führen. Die Leute werden entweder taub gegen den Wert des Neuen oder blind gegen den Wert des Alten sein. Der Nutzen einer geistigen Führung, die nur vom begabten Individuum kommen kann, geht ihnen verloren.“

„Sie haben mich nicht ausreden lassen, Herr Doktor. Ich sagte nicht, daß die genossenschaftliche Zeitung die einzige Form sei. Diese ist nur an Stelle derjenigen Publizitätsunternehmungen getreten, welche durch den Umfang der Anlage, die Kosten der technischen Herstellung und den teuren Nachrichtendienst einen großindustriellen Charakter hatten. Wir haben aber auch Zeitungen, die von einzelnen gemacht und geführt sind. Ich selbst besitze eine solche. Ich brauche sie in dem Kampfe, den ich gegenwärtig in unserer neuen Gesellschaft auszufechten habe. Mein Hauptgegner, der Rabbiner Dr. Geyer, hat auch sein eigenes Blatt. Ich werde meine Zeitung nicht länger herausgeben, als der Streit dauert. Geyer wird es wahrscheinlich anders halten, denn er lebt von diesem Hader. Und so gibt es noch vielerlei im Eigentum Einzelner befindliche und als solche kenntliche Zeitungen, die verschiedenen Zwecken dienen. Kommt eine neue Richtung, tritt ein schöpferischer Geist auf, so können sie sich in der öffentlichen Meinung betätigen. Gewiß werden sie auch recht bitter zu kämpfen haben, gleichwie in der vorigen Zeit. Sie werden den Ernst ihrer Überzeugungen, ihren Mut, ihre Ausdauer erhärten müssen, und das ist nicht schlecht. Glauben Sie mir, wir sind durch unseren Mutualismus nicht ärmer geworden an kräftigen Individualitäten, sondern reicher. Der Einzelne wird bei uns weder zwischen den Mühlsteinen des Kapitalismus zermalmt, noch von sozialistischer Gleichmacherei geköpft. Wir kennen und schätzen die Entwicklung des Individuums, so wie wir seine wirtschaftliche Basis, das Privateigentum, respektieren und schützen.“

„Na, Gott sei Dank!“ sagte Kingscourt, „ich dachte schön, ihr hättet den Unterschied von Mein und Dein aufgehoben.“

„Dann wäre wohl das alles, was Sie schon gesehen haben und noch sehen werden, nicht entstanden“, erklärte David. „Nein, so verrückt waren wir nicht. Den Ansporn zur Arbeit, Bemühung, Entdeckung und Erfindung haben wir nicht aus der Welt geschafft. Die größere Begabung muß ihre größere Talentrente, die größere Anstrengung ihren größeren Lohn haben. Den Reichtum brauchen wir als Lockung für die Strebsamen und als Nahrung für die seltene Kunst. Ich selbst gehöre zu den besser Bemittelten. Ich bin Schiffsreeder. Meine Unternehmung ist von der Art derjenigen, die nach wie vor nur von Einzelnen oder von Aktiengesellschaften mit Erfolg betrieben werden können. Das ist ja ein Hauptvorzug des Mutualismus, daß er das Fortbestehen und Neubegründen anderer wirtschaftlicher Formen nicht ausschließt In meinem Hause werden Sie zum Beispiel eine interessante Mischform finden. Ich bin der Eigentümer der Firma. Meine Arbeiter bilden untereinander eine Genossenschaft, die mir gegenüber immer selbständiger wird, und zwar mit meinem Willen, meiner Unterstützung. In den Anfangen meiner Unternehmung und ihrer Genossenschaft hatten sie nur einen Konsumverein, der sich zur Sparkasse erweiterte. Sie müssen bedenken, daß unsere Arbeiter als Mitglieder der neuen Gesellschaft ohnehin für Unfälle, Krankheit, Alter und Tod versichert sind. Ihre Sparkraft wird somit nicht zersplittert. Ich habe freiwillig ihre Spargenossenschaft durch Zuweisung eines Gewinnanteiles gestärkt. Ich tat es nicht aus Edelmut, sondern aus Egoismus, weil ich mir dadurch außer ihrer Arbeitshingebung auch noch den günstigen Verkauf meines Unternehmens sicherte für den Zeitpunkt, in dem ich mich vom Geschäft zurückziehen werde. Dann verwandle ich meine Reederei in eine Aktiengesellschaft und habe für diesen Fall der Spargenossenschaft meiner Arbeiter das Vorkaufsrecht auf Grundlage einer mäßigen Verzinsung schon im vorhinein eingeräumt. Darum sind meine Arbeiter auch meine besten Freunde. Es gibt zwischen uns weder Lohnstreitigkeiten noch andere. Es ist, wenn Sie wollen, das patriarchalische Verhältnis, aber in den modernsten Verkehrsformen ausgedrückt. Wenn ein Aufwiegler zu meinen Arbeitern käme, brauchte ich ihn nicht gewaltsam entfernen zu lassen — sie würden ihn einfach hinauslachen. Sie wissen, woran Sie sind, und damit hat aller unklare Sozialismus ein Ende.“

Kingscourt brummte gemütlich:

„Sie sind noch ein junger Mensch und halten schon so verdammt weit.“

„Ich habe eben früh angefangen. Wir waren unter den ersten Einwanderern. Persönliches Verdienst war es nicht, oder nur zum geringeren Teile. Der allgemeine Aufschwung hat mich mit hinaufgetragen. Aber das will ich Ihnen erst in Tiberias erzählen.“

„Warum in Tiberias?“ fragte Friedrich.

„Sie werden dort den Grund erfahren, da Sie wahrscheinlich keine Ahnung haben, welches Fest wir begehen… Jetzt aber wählen Sie endlich Ihre Abendunterhaltung, meine Herren. Wollen Sie lieber das Programm aus der gesprochenen Zeitung hören?“ Er nahm zwei Hörmuscheln von der Wand, an der sie hingen, und reichte sie seinen Gästen.

„Euer Hochwohlgeboren, damit imponieren Sie mir nicht. Den Zauber kenn‘ ich. Eine solche Telephonzeitung war schon vor fünfundzwanzig Jahren in Budapest im Betrieb.“

„Ich wollte Ihnen durchaus nichts Neues zeigen. Übrigens ist auch diese gesprochene Zeitung eine genossenschaftliche.“

„Die wird aber kein Erträgnis abwerfen, da es keine Inserate gibt.“

„Im Gegenteil. Diese Ankündigungen werden am höchsten bezahlt. Den Inseratenteil der gedruckten Zeitungen muß der Leser nicht anschauen, er kann darüber hinwegblättern. Hingegen ist er gegen die Reklame wehrlos, die aus diesen Muscheln kommt. Horchen Sie, vielleicht wird gerade eine verlesen.“

Sie nahmen die Hörmuschel ans Ohr. Zuerst vernahmen Sie die Anzeige eines Dockbrandes in Yokohama, dann den kurzen Bericht über eine Pariser Theaterpremiere, die neuesten Baumwollkurse von Newyork — und jetzt erscholl es deutlich, noch schärfer betont, als das Frühere:

„Bei Samuel Kohn bekommt man die edelsten Edelsteine, sowohl echte wie falsche, zu den garantiert brillantesten Preisen. Bei Sa-mu-el Kohn, Große Galerie 47.“

Sie lachten herzlich.

David sagte noch:

„Das wird oft auf eine witzige Weise gemacht, daß der Hörer nicht merkt, es werde auf eine Reklame hinauslaufen. Das Erträgnis dieser Zeitung ist kolossal. Die Abonnenten zahlten ursprünglich einen Schekel monatlich und bekamen mehr zurück. Diese Zeitung hat ja weder Druck-, noch Papier-, noch Zusendungskosten, Aber die Stadt Haifa und die neue Gesellschaft machten sich das Unternehmen tributär. Es steht übrigens auch unter besonderer Aufsicht. In der Zentrale wachen Beamte der neuen Gesellschaft darüber, daß kein Unfug begangen, keine Lügen, Alarmnachrichten oder Unanständigkeiten in den Apparat hineingesprochen werden.“

Friedrich war ein Wort aufgefallen.

„Tributär? Wie kann sich die Stadt oder Ihre neue Gesellschaft, deren Verfassung Sie uns noch schuldig sind, ein Privatunternehmen einfach tributär machen, wenn es ergiebig wird?“

„Das ist ein ganz besonderer Fall. Die Telephonzeitung muß ihre Kabel doch irgendwohin legen. Nun haben wir unter unseren Straßen Hohlräume zur Aufnahme aller möglichen schon vorhandenen und noch kommenden Drahtleitungen und Röhren für Gas, Wasser und Kanalisation. Unter dem Fahrdamm läuft dieser Tunnel mit Mündungen an jedem Hause. Jedes Haus hat einen unterirdischen Eingang für solche Röhren und Drähte. Man muß nicht erst das Pflaster aufreißen, wenn man etwas Neues einführen will. Sie können darin meinetwegen auch einen symbolischen Zug unserer Einrichtungen erblicken. Die großen Städte, die Sie kannten, waren zufällig und planlos entstanden. Leuchtgas, Wasserversorgung, Kanäle, elektrische Leitungen verursachten immer wieder ein Aufreißen der kranken Eingeweide jener Straßen. Dabei wußte man nie genau, in welchem Zustande sich die einzelnen Leitungen befanden, erfuhr es gewöhnlich erst nach einem Schaden, einer Explosion. Wir aber kannten schon die Bedürfnisse moderner Städte, als wir die unsrigen anlegten und bauten deshalb die Straßen vernünftig mit diesem Hohlraum in der Mitte. Das war ziemlich kostspielig, rentiert sich aber großartig. Wenn Sie das Budget von Haifa mit dem von Paris oder Wien vergleichen, werden Sie sehen, was wir durch die unterirdischen Hohlräume ersparen. Darin liegen unter andern auch die Drähte der Telephonzeitung, und es muß dafür eine mit dem Erträgnis gewachsene Miete gezahlt werden. Das kommt ja wieder nur der Allgemeinheit zustatten.“

Kingscourt bekannte:

„Das ist das erste, was mir bei euch imponiert: daß ihr die edelsten Edelsteine des Samuel Kohn zur Straßenpflasterung verwendet. Ihr seid doch ein verflucht pfiffiges Volk! Darauf wäre ich nie gekommen.“

„Ihre Komplimente schmecken bitter, Mr. Kingscourt!“ sagte David freundlich. „Aber vielleicht wird sich Ihr Urteil noch ändern, wenn Sie erst einige Zeit bei uns sind.“

„Schön! Mich sehen Sie prinzipiell bereit einzugestehen, daß ich ’n oller Esel bin – aber ich verlange Beweise dafür!… — Und nun führen Sie uns in Deibelsnamen ins Theater.“

„In welches Sie wollen, lieber Littwak“, ergänzte Friedrich.

„Da Sie keine Wahl treffen wollen, meine Herren, so denke ich, wird’s am besten sein, wir überlassen die Bestimmung den Damen.“

Damit waren die Gäste einverstanden.

 

Fünftes Kapitel

Die Damen waren schon in Abendtoilette. Frau Sarah sagte: „Die Herren werden wohl hier im Theater nicht etwas sehen wollen, was sie ebensogut in London, Berlin oder Paris genießen können. Obwohl wir gerade jetzt eine vorzügliche französische und die beste italienische Schauspielergesellschaft in Haifa haben. Ich meine, die jüdischen Schauspiele werden Sie mehr interessieren.“

„Es gibt jüdische Schauspiele?“ staunte Friedrich.

Kingscourt scherzte: „Haben Sie denn nicht immer jehört und jelesen, daß das Theater janz und jar verjudet ist?“

Frau Sarah warf einen Blick in die Zeitung:

„Man spielt heute im Nationaltheater ein biblisches Drama: Moses!“

„Das ist eine sehr erhabene Dichtung“, erklärte David.

„Aber doch zu ernst. In der Oper gibt man Sabatai Z’wi. In einigen Volkstheatern werden Possen im Jargon aufgeführt. Die sind lustig, aber nicht sehr geschmackvoll. Ich würde die Oper empfehlen.“

Dafür war auch Mirjam. Es sei das schönste jüdische Tonwerk der letzten Jahre, die doch so reich waren an musikalischen Hervorbringungen. Aber man müsse sich beeilen, weil die Fahrt nach dem Opernhause eine halbe Stunde dauere.

„Werden wir noch Plätze kriegen?“ fragte Kingscourt.

David antwortete:

„An der Kasse wäre wohl um diese Stunde nichts mehr zu haben, weil die meisten Genossenschafter heute ihr Bezugsrecht ausgeübt haben dürften. Aber ich habe von der Gründung des Hauses her meine Loge.“

„Auch die Oper eine Genossenschaft?“ rief Löwenberg.

„Abonnement, Fritze! Sie nennen das hier Genossenschaft. Wird ähnlich sein wie bei der Zeitung.“

„Ganz ähnlich“, lachte David. „Lassen Sie sich nicht verblüffen, Mr. Kingscourt. Es gibt nichts Neues bei uns, es sieht nur so aus.“

Er hatte ein paar weiße Handschuhe hervorgeholt und begann sich sie über die Finger zu ziehen.

Handschuhe! Und gar weiße. Weder Kingscourt noch Friedrich hatten welche. Auf ihrer Insel im stillen Ozean waren sie zwanzig Jahre lang solcher Flausen enthoben gewesen. Aber da man doch nun wieder in die verzweifelte Lage geraten war, mit Damen ins Theater gehen zu müssen, wollte man sich wie ein zivilisierter Mensch benehmen. Kingscourt fragte, ob man auf dem Wege nach der Oper beim Laden eines Handschuhmachers vorbeikäme. Nein. Es gebe überhaupt keine derartigen Läden. Da wäre der alte Herr beinahe böse geworden:

„Uzen Sie mich? Sie haben doch selbst schon die Lederhülsen auf den Daumen. Oder machen Sie sich die selbst? Sie sind wohl auch in der Genossenschaft der Handschuhmacher?“

Es war ein Mißverständnis, das unter allgemeiner Heiterkeit aufgeklärt wurde. Es gab nämlich keine besonderen Geschäfte für Handschuhe, weil man diese wie alle anderen Bekleidungsgegenstände in den großen Kaufhäusern feilhielt.

Vor der Freitreppe von Friedrichsheim standen zwei Motorwagen bereit, als die Gesellschaft aufbrach, um nach dem Opernhause zu fahren. Im ersten nahm Frau Sarah, Mirjam und Friedrich Platz, im zweiten Kingscourt und David. Es war ein Abend des Südens, an die weichen Nächte der Riviera gemahnend. Unter ihnen lag das Lichtmeer von Haifa. Im Hafen und auf der Reede bis nach Akko hin gab es Schwärme von Glühkörperchen im spiegelnden Wasser, das waren die Lampen der vielen Schiffe.

Als sie am Hause Reschid Beys vorbeikamen, hörten sie den Gesang einer wundervollen Frauenstimme heraus.

Mirjam sagte:

„Die da singt, ist die Gattin Reschid Beys. Sie ist unsere Freundin, ein sehr artiges, gebildetes Geschöpf. Wir kommen oft mit ihr zusammen, aber nur in ihrem Hause. Die mohammedanischen Gebräuche, an denen Reschid festhält, machen es ihr schwer, zu uns zu kommen.“

„Aber Sie dürfen nicht glauben, daß Fatma sich darum nicht wohl fühlte“, fügte Sarah hinzu.

„Es ist eine vollkommen glückliche Ehe. Sie haben reizende Kinder. Nur tritt die Frau nicht aus ihrer friedlichen Abgeschlossenheit heraus. Das ist gewiß auch eine Form der Glückseligkeit. Ich begreife sie ganz gut, obwohl ich ein vollberechtigtes Mitglied der neuen Gesellschaft bin. Wenn es der Wunsch meines Mannes wäre, würde ich ohne weiteres das Leben Fatmas führen.“

„Das kann ich bestätigen“, ergänzte Mirjam, indem sie ihre Hand liebkosend auf die Hand der neben ihr sitzenden Schwägerin legte.

Friedrich sprach nachdenklich:

„Ich verstehe. Hier in Ihrer neuen Gesellschaft kann jeder nach seiner Fasson leben und selig werden.“

Sarah erwiderte:

„So ist es, Herr Doktor! Jeder und jede.“

Nun waren sie wieder in den hellerleuchteten Straßen der Stadt. Vor einem riesigen Gebäude, aus dessen weiten Fensteröffnungen Lichtfluten herausdrangen, hielten die beiden Wagen. Das war doch nicht etwa die Oper? Nein! Ein Warenhaus nach Pariser Art war es.

„Das ist ja der bon marché!“ rief Kingscourt.

David lächelte:

„Etwas Ähnliches. Wir haben nur solche Kaufhäuser. Es gibt gar keine kleinen Läden.“

„Was? Die habt ihr alle umgebracht? Die armen kleinen Schufte von Händlern habt ihr mausetot gemacht?“

„Nicht doch, Mr. Kingscourt! Wir haben sie nicht zu töten gebraucht, weil wir sie gar nicht entstehen ließen.“

Friedrich, der mit den Damen ein wenig nach den ausliegenden Modeschätzen geblickt hatte, mischte sich nun in das Gespräch:

„Wie? Sie haben den Kleinhandel verboten? Ist das Ihre Freiheit?“

„Bei uns ist jeder frei und kann tun und lassen, was er will“, entgegnete David. „Bestraft werden nur dieselben Verbrechen und Vergehen, die man in den Kulturländern Europas zu ahnden pflegte. Verboten ist bei uns nichts, was nicht auch dort verboten war. Und wir halten ja den Kleinhandel nicht für eine Schlechtigkeit, sondern für etwas Unwirtschaftliches. Das war eines der Probleme, die unsere Gesellschaft lösen mußte. Es war höchst wichtig, besonders in den Anfängen, weil ja große Massen unserer Leute vom Kleinhandel herkamen. Mein guter Vater selbst — Sie erinnern sich wohl noch, Herr Doktor – verdiente sich unser bißchen hartes Brot als Hausierer, und das ist die ärmste, unglücklichste Art des Kleinhandels. Er ging mit seinem Kästchen von Schenke zu Schenke.“

„Hören Sie mal, Herr Littwak“, brummte Kingscourt, „Sie scheinen sich dessen nicht zu schämen?“

„Ich? Ich bin weit davon entfernt, mich dessen zu schämen. Für mich hat er sich geplagt und schinden lassen. Da wäre ich doch der letzte Mensch.“

„Lassen Sie sich die Hand drücken! Das gefällt mir.“ Und er schüttelte die Rechte des jungen Mannes ganz energisch.

Während sie nach der Abteilung der Handschuhe weitergingen, forschte Friedrich noch:

„Wie sind Sie nun der Frage des Kleinhandels beigekommen, wenn nicht durch ein Gesetz oder Verbot?“

„Ganz einfach! Durch das, was Sie hier sehen: durch das große Warenhaus. Diese Riesenbasare und Versandgeschäfte mit Zweigniederlassungen an vielen Orten mußten im Zeitalter der Dampfmaschinen und Eisenbahnen entstehen. Es war keinem Zufall, keinem Genieblitz eines geistreichen Kaufmannes zu verdanken. Es lag eiserne Notwendigkeit in dieser Entwicklung. Die Art der Massenproduktion erzwang sich diese Art des Absatzes. Natürlich gingen dabei die kleinen Geschäftsleute dumpf und fassungslos zugrunde, wie die Fuhrmänner auf der Landstraße, als die Eisenbahn erschien. Nur pflegten die Kutscher ihr Los schneller zu erraten, als die Ladenmenschen mit ihrer kurzsichtigen Pfiffigkeit. — Diese waren übrigens auch viel hilfloser, weil ihr Geschäftchen hauptsächlich aus ihrem Kapitälchen bestand, und das war in der Regel schon verloren, wenn ihnen die erste Ahnung der Gefahr aufstieg. Sie waren an ihrem Ruin unschuldig, die guten Krämerseelen. Sie waren von der neuen Zeit ohne Kriegserklärung überfallen worden. Bei uns aber – das ist einer der Schlüssel unseres Erfolges – kam es gar nicht zur Einrichtung der überlebten Wirtschaftsformen. Wir fingen gleich mit der Neuzeit an. Niemand war so dumm, sich einen kleinen Laden neben einem großen Kaufhause zu errichten. Niemand ging mehr mit dem Pack auf dem Rücken von Haus zu Haus oder von Ort zu Ort, wenn er wußte, daß ihm die Versandgeschäfte mit Preislisten, Mustersendungen und Zeitungsannoncen längst zuvorgekommen waren. Kleinhandel und Hausierhandel versprachen keinen Gewinn mehr — darum wandten sich unsere Leute diesen Erwerbszweigen gar nicht erst zu, als sie in die neuen Verhältnisse kamen. Im alten Europa, das so vielerlei erworbene Rechte ungleichen Datums zu schützen hatte, war das eine böse Frage. Der untere Teil des kaufmännischen Mittelstandes geriet durch die großen Magazine in Todesgefahr. Sollte man die großen Kaufhäuser von Amts wegen sperren — bei welchem Umfange, begann das Warenhaus ‚groß‘ zu sein? Sollte man sie durch Steuern erschöpfen? Davon hatte der Fiskus eine Kleinigkeit und die Händler nicht viel. Aber das Publikum wollte, brauchte diese Häuser, wo man ohne Zeitverlust alle möglichen Gegenstände zu Preisen des Massenumsatzes findet. Der Fabrikant kann den großen Häusern billiger liefern als den kleinen. Kurz: Produktion und Konsumtion forderten das moderne Warenhaus. Bei uns wurde dadurch niemand ruiniert, weil das Verkehrsleben erst begann. Dagegen war damit für uns ein sozialpolitischer Zweck verknüpft: wir konnten so die Seele und den Leib unserer kleinen Leute von gewissen alten, unwirtschaftlichen und schädlichen Formen des Handels heilen.“

Die Damen gaben leichte Zeichen der Ungeduld, als David so ausführlich erklärte. Man würde zu spät in die Oper kommen. Aber Kingscourt wollte doch noch etwas wissen, während er seine großen, roten Hände der Verkäuferin hinhielt, die sie ihm in die weißen Handschuhe pressen mußte:

„Da stimmt mir etwas nicht. Euer Hochwohlgeboren! Heute, seh‘ ich, habt ihr ’nen großen Verkehr. Aber so war’s doch nicht gleich? Man hat doch nicht diese Warenpaläste auf die nackte Erde hingestellt, und dann sind plötzlich die Kunden ‚reingeströmt. Das können Sie Ihrem Fritzchen erzählen, nicht so ’nem alten Wüstenpilger wie mir.“

„Nein, Mr. Kingscourt, so war es auch nicht. Die Dinge haben sich natürlich und selbstverständlich entwickelt. Als die Judenwanderung nach Palästina im großen Maßstabe begann, da war von einem Tage auf den anderen ein enormer Warenbedarf eingetreten. Wir produzierten noch gar nichts und brauchten alles. Dieser Zustand war in der ganzen Welt bekannt, weil sich die Juden Wanderung in größter Öffentlichkeit vollzog. Infolgedessen beeilten sich die Inhaber von Warenhäusern, an den wichtigsten Punkten Palästinas Zweigniederlassungen zu errichten. Nicht nur Juden benutzten diese Konjunktur, ihre Ladenhüter loszuwerden. Deutsche, englische, französische, amerikanische Kaufhäuser waren im Handumdrehen aufgebaut. Zuerst waren es nur eiserne Baracken. Als mit dem Strom der Einwanderung die Bedürfnisse sich mehrten und verfeinerten, als es nicht mehr galt, die armen Ankömmlinge der ersten Zeit zu versorgen, weil sie anfingen, seßhaft und bemittelt zu werden — da verwandelten sich die Baracken allmählich in steinerne Kaufhäuser. Die neue Gesellschaft hütete sich davor, sie zu bedrängen oder zu unterdrücken. Im Gegenteil, sie wurden begünstigt, weil sie den doppelten Vorteil boten, die notwendigen Massenartikel rasch und billig ins Land zu schaffen, und unsere kleinen Leute vom unfruchtbaren Handel abzuhalten. Wir wollen kein Volk von Krämern sein.“

„Wirklich?“ fragte Friedrich. „Es gibt keine Händler außer den großen Warenhäusern?“

„O doch!“ war die Antwort. „Die Menschen sind ja bei uns nicht reglementiert. Es gibt weder eine monarchische noch eine sozialistische Tyrannei. Jeder treibt es, wie er’s will. Die kostbarsten und die mindestwertigen Sachen, zum Beispiel Schmucksachen und alter Trödel, werden von Einzelnen gehandelt. Aber das sind durchaus nicht lauter Juden. Griechen, Levantiner, Armenier, Perser stellen zu diesen Beschäftigungen ein ansehnlicheres Kontingent als die Juden, insbesondere als die Juden, die Mitglieder unserer neuen Gesellschaft sind.“

„Wie? Gibt es auch Juden, die nicht zu Ihrer Gesellschaft gehören?“

„Jawohl … Aber nun wollen wir gehen.“ David wandte sich zur Verkäuferin: „Was kosten die Handschuhe der beiden Herren?“

„Sechs Schekel.“

Kingscourt blickte verwundert:

„Alle Deibel! Was ist das?“

David lächelte:

„Unsere Währung. Wir haben unsere althebräische Münze neu gewertet. Ein Schekel ist so viel wie ein französischer Franc. Da Sie nicht vorgesehen sind, erlauben Sie wohl, daß ich für Sie bezahle.“

Er warf ein Goldstück auf den Kassentisch, erhielt einige Silberlinge zurück, und dann schritten die Damen und Herren dem Ausgange zu.

Kingscourt kniff David in den Arm und schnauzte ihn lustig an:

„Das Jeld habt ihr also nicht abgeschafft in eurer Gesellschaft? Hätte mich auch von euch gewundert.“

David war nun schon mit der Ausdrucksweise des Alten befreundet, und er gab in ähnlichem Tone zurück:

„Nee, Mister Kingscourt, vom Jelde haben wir uns nicht trennen können. Erstens, weil wir verdammt habgierige Juden sind. Zweitens, weil das Geld ein ausgezeichnetes Mittel ist. Man müßte es erfinden, wenn es nicht schon da wäre.“

„Jüngling, Sie reden mir aus der Seele! Das hab‘ ich immer gesagt: das Jeld ist ’ne gute, schöne Sache. Die Menschen haben es nur verdorben.“

 

Sechstes Kapitel

Die Ouvertüre war schon fast vorüber, als sie in die Loge traten. Die Damen beeilten sich, Platz zu nehmen; denn schon sahen viele aus dem Zuschauerraume herauf. Friedrich und Kingscourt waren von der Pracht dieses Opernhauses überrascht. Ja, der Bau hatte aber auch fünf Jahre gedauert und war von der neuen Gesellschaft subventioniert worden. Ein gewöhnliches Theater stand in der Regel binnen Jahresfrist vollendet da, wenn die Genossenschaft nur erst vereinigt war.

In der Loge nebenan saßen zwei geputzte, mit zu viel Edelsteinen geschmückte Damen, eine bejahrte und eine junge, und zwischen ihnen ein älterer Herr. Diese grüßten auffallend devot, und es kam Friedrich vor, wie wenn Littwaks den Gruß eher ablehnten als erwiderten. Die ältere Dame und den Herrn glaubte er schon irgendwo gesehen zu haben, in einer fernen Zeit.

„Wer sind die Leute?“ fragte er David leise.

Dieser zuckte die Achseln: „Ein Herr Laschner mit Frau und Tochter.“

Laschner! Der reiche Börsenmann von Wien. Friedrich sah plötzlich den Abend von Ernestine Löfflers Verlobung vor sich. Es war eine schmerzliche und komische Erinnerung.

„Das muß ich sagen: die hätte ich hier nicht erwartet.“

„Sie sind eben auch nachgekommen, als unser Haus fertig war“, erklärte David. „Man findet ja jetzt hier dieselben Bequemlichkeiten wie in den Großstädten Europas. Man findet aber auch, wenn man ein Laschner ist, dieselbe Verachtung wieder, die man dort genoß. Wir haben das Geld nicht abgeschafft, mein lieber Kingscourt — aber es ist bei uns nicht alles. Die Mitglieder der neuen Gesellschaft sind wirtschaftlich so frei geworden, daß der ehemalige widerliche Respekt vor den reichen Leuten naturgemäß geschwunden ist. Herr Laschner kann Geld haben, kann ausgeben, wieviel er will — den Hut zieht darum noch niemand vor ihm. Ja, wenn er ein anständiger Mensch wäre, so würden wir ihn gern gelten lassen. Was wir von jedem fordern, ist das Gefühl und die Betätigung der Solidarität. Dieser Mensch aber hat sich nicht einmal bemüht, Mitglied der neuen Gesellschaft zu werden. Er wollte die Pflichten unserer Gemeinschaft nicht auf sich nehmen. So lebt er auch hier als ein Fremder. Er kann sich frei bewegen wie jeder andere Fremde; nur genießt er keine Achtung. Das müssen Sie begreifen.“

„Ob ich das begreife!“ murmelte Kingscourt und blickte mit Geringschätzung nach der Loge des Protzen.

Der Vorhang ging auf. Man sah Volksszenen in Smyrna und den kommenden Propheten im Kreise seiner ersten Anhänger. Kingscourt bat seine Nachbarin Mirjam um Aufschluß über den Helden der Oper.

Das junge Mädchen sprach im Flüstertone: „Dieser Sabbatai Z’wi war ein falscher Messias, der am Anfange des siebzehnten Jahrhunderts in der Türkei auftrat. Es gelang ihm, eine große Bewegung unter den Juden des Orients hervorzurufen, aber später fiel er selbst vom Judentume ab und endete schmählich.“

Kingscourt nickte verständnisvoll: „War also ’n janz miserabler Kerl. Da kann man natürlich ’ne Oper draus machen.“

Die Szene stellte den Platz vor der Synagoge zu Smyrna dar. Die Partei der gegen Sabbatai aufgebrachten Rabbiner sang ergrimmte Chöre, nachdem der falsche Messias mit seinen Freunden abgegangen war. Ein junges Mädchen, das für Sabbatai schwärmte, wagte es, der aufgeregten Menge mit einer großen Arie entgegenzutreten. Da kehrte sich die Wut der Leute wider die Verteidigerin und es wäre ihr ohne das Dazwischentreten des zurückkehrenden Propheten gewiß etwas Schlimmes angetan worden. Selbst auf die Feinde übte die Persönlichkeit des Volksverführers eine Macht aus. Die Erbitterten wichen vor ihm scheu zurück. Das Mädchen warf sich ihm zu Füßen. Er hob sie gütig auf und sang mit ihr, wie das in Opern zu geschehen pflegt, ein Duett. Sobald dieses zu Ende war, erfolgte der effektvolle Aktschluß. Gegen Sabbatai wurde der rabbinische Bann ausgesprochen, und im Finale erklärte der Messias seine Absicht, Smyrna in Begleitung seiner Freunde zu verlassen. Das junge Mädchen flehte ihn an, sie mitzunehmen; sie wollte ihm folgen und ihm dienen, wo immer hin er seine Schritte lenke. Und der Vorhang fiel.

Die kleine Gesellschaft in Littwaks Loge plauderte im Zwischenakte weiter über den farbigen Helden dieser Oper.

„Der Schwindler wird es jewiß zu was bringen“, sagte Kingscourt, „das kann ich mir denken.“

Frau Sarah meinte: „Ursprünglich scheint er ein Schwärmer gewesen zu sein. Erst als er den Zulauf der Gläubigen hatte, wurde er unehrlich.“

Mirjam zitierte lächelnd Goethes Wort: „Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre — kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogene der Schelm.“

„Merkwürdig ist nur“, bemerkte Friedrich, „daß solche Abenteurer immer wieder Glauben finden konnten.“

David entgegnete: „Mir scheint, das hat einen tiefen Grund. Das Volk glaubte nicht, was sie sagten, sondern sie sagten, was das Volk glaubte. Sie kamen einer Sehnsucht entgegen. Nein, noch richtiger: sie kamen aus der Sehnsucht hervor. Das ist es. Die Sehnsucht macht den Messias. Nun müssen Sie denken, was das für arme dunkle Zeiten waren, in denen ein Sabbatai oder seinesgleichen erschienen. Unser Volk war noch nicht imstande, sich auf sich selbst zu besinnen, und da berauschte es sich an solchen Gestalten. Spät erst, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als schon alle anderen zivilisierten Völker ihr Selbstbewußtsein erlangt hatten und es betätigten, kam auch unser verstoßenes Volk zu der Erkenntnis, daß es das Heil nur von der eigenen Kraft, und nicht von phantastischen Wundertätern erwarten dürfe. Nicht eine einzelne Person, wohl aber die erwachte und rührige Volkspersönlichkeit müsse das Erlösungswerk vorbereiten. Auch die Frommen sahen endlich ein, daß in dieser Auffassung nichts Gottwidriges enthalten sei. Gesta Dei per Francos, hieß es einst bei den Franzosen — Gottes Taten durch die Juden! sagen unsere echten Frommen, die sich nicht durch parteiische Rabbiner verhetzen lassen. Welcher Werkzeuge sich Gott für seine unerforschlichen Zwecke bedienen will, das steht bei ihm. So war das geklärte Raisonnement unserer Frommen, als sie sich dem nationalen Werke begeistert anschlössen. Und so hat sich das jüdische Volk wieder erhoben.“

„Bravo!“ brummte Kingscourt. In diesem Augenblick wurde an die Logentür geklopft. Auf Davids „Herein!“ schob sich mit unterwürfigem Lächeln ein befrackter graubärtiger Herr in die Loge. Es war derselbe, den Friedrich bei der Ankunft auf dem Hafendamme gesehen hatte, Herr Schiffmann aus dem Café Birkenreis.

„Ich bin so frei, Herr Littwak“, sagte er entschuldigend. „Ich hab‘ von unten gesehen hier oben einen alten Bekannten. Ich weiß nicht, ob der Herr Doktor sich noch kann erinnern an mich.“

„Gewiß, Herr Schiffmann!“ lächelte Friedrich und streckte ihm die Hand entgegen.

„Merkwürdig, soll ich so leben! Sie sind also nicht gestorben?“

„Es scheint nicht… Und Sie haben mich gleich wiedererkannt?“

„Auf Ehre, nein. Es ist mir jemand zu Hilfe gekommen. Eine Dame, die Sie einmal gut gekannt haben. Raten Sie, wer?“ Er lächelte vielsagend.

Friedrich erschrak. Er ahnte plötzlich, wer es war, doch wagte er nicht, ihren Namen auszusprechen.

„Nu? Können Sie nicht raten, Herr Doktor? Haben Sie Ihre alten Freunde und Freundinnen vergessen?“

Friedrich sagte ein wenig rauh: „Ich weiß nichts von Freunden, die ich hier habe — außer diesen da.“

„Sie hat den Anfangsbuchstaben Ernestine!“ schmunzelte Schiffmann.

„Wie? Fräulein Löffler?“

„Nein, Frau Weinberger! Sie werden doch wissen? Sie waren doch bei der Verlobung. Richtig, es war das letztemal, was ich Sie, Herr Doktor, gesehen hab‘. Gleich drauf sein Sie verschwunden.“

„Ja, ja, ich entsinne mich. Und Fräulein — Frau Weinberger lebt auch hier?“

„Freilich! Da unten sitzt sie, neben mir. Ich werd‘ sie Ihnen zeigen…“ Er neigte sich dicht an Friedrichs Ohr, so daß die anderen, die in den Zuschauerraum hinausblickten, ihn nicht hören konnten: „Unter uns gesagt, es geht ihr nicht am besten. Ihr Mann, der Weinberger, is doch ein Schlemihl. In Brünn hat er Pleite gemacht, und dann war er in Wien Agent, und zum Schluß is er da hergekommen, aber auch als Schlemihl. Wenn ich mich nicht hätt‘ angenommen um sie, so möchten sie gut ausschauen. Und Sie wissen doch, das war gewöhnt an seidene Kleider und Logen und Bälle. Jetzt, wenn ich ihr nicht manchesmal Theaterkarten schicken möcht‘, könnt‘ sie zu Haus sitzen und Trübsal blasen. Es ändern sich die Zeiten.“

Friedrich war von diesem Gerede angeekelt und wollte Schiffmanns vertraulichen Mitteilungen ein Ende machen: „Es würde mich allerdings interessieren, Frau Ernestine zu sehen. Wo sitzt sie?“

„In der vorletzten Reihe, am Eck. Wenn Sie sich vorbeugen, können Sie sie sehen. Übrigens geh‘ ich jetzt hinunter. Wenn Sie mich auf meinem Platz werden sehen, neben mir sitzt ihre Tochter und dann sie… Es war mir ein besonderes Vergnügen, Herr Doktor. Sie bleiben doch hier bei uns, hoffentlich? Jedenfalls längere Zeit?“

„Ich weiß nicht. Es hängt von den Umständen ab, Herr Schiffmann.“

„Also schön! Wenn Sie mich wünschen, brauchen Sie mich nur per Telephon rufen zu lassen … Empfehle mich allerseits bestens, meine Damen und Herren.“

Er schob sich seitlich, wie er gekommen war, zur halbgeöffneten Logentür hinaus.

„Den mag ich nun wieder gar nicht“, bemerkte Kingscourt halblaut zu Friedrich, der die Achseln zuckte.

Der zweite Akt begann. Sabbatai hielt Hof in Ägypten. Die Szene zeigte ein üppiges Fest mit Gesängen und Tänzen. Aber Friedrich sah und hörte nicht viel davon. Er war in alte Träume versunken. Dort, neben Schiffmann saß sie. Zuerst unterlag er einer wunderlichen Täuschung. Ernestine Löffler sah noch genau so aus, wie vor zwanzig Jahren. Dieselben jungen feinen Züge, dieselbe zarte Gestalt. War es möglich, daß zwanzig Jahre sie so gar nicht verändert hatten? Aber dann sah er seinen Irrtum ein. Dieses junge Mädchen war nicht Ernestine, sondern deren Tochter. Frau Weinberger war die fette, verblühte, in allzu grelle Farben gekleidete Dame auf dem Nebensitze. Sie sah auch herauf, lächelte einladend und nickte lebhaft mit dem Kopfe, als Friedrich sich vor ihr verneigte.

In diesem Augenblick zerfiel etwas in Staub, was zwanzig Jahre überdauert hatte. In der Einsamkeit von Kingscourts Insel hatte er an Ernestine gelegentlich mit Wehmut zurückgedacht, sein erster Groll war milderen Stimmungen gewichen, und zum Schluß war diese ganze Liebe in verdämmernde Rosenfarben getaucht. Aber wenn er von ihr träumte, sah er sie in der Gestalt jener Zeit.

Den natürlichen Vorgang des Alterns erblickte er nun plötzlich in einem Ergebnisse, das ihn betroffen machte. Er empfand Scham und auch Erleichterung. Um dieses Weib hatte er sich gegrämt.

War es möglich?

Er wurde aus seinem Sinnen von einer warmen, lieblichen Stimme aufgeweckt.

„Wie hat es Ihnen gefallen?“ fragte Mirjam.

„Gott sei Dank, daß es vorbei ist!“ gab er zerstreut zur Antwort.

„Wie? So schlecht fanden Sie den zweiten Akt?“

Er war verlegen: „Nein, ich meinte nicht den zweiten Akt, Fräulein Mirjam! Ich mußte an etwas Altes denken, das ich noch für lebend hielt. Es ist aber tot.“

Sie sah ihn ein wenig erstaunt an und fragte nicht weiter.

Ein fremder Herr war in die Loge getreten. Er wurde vorgestellt: Herr Dr. Werkin, Sekretär der Präsidentschaft. Es war ein schmächtiger Mann mit kurzem braun und grauem Barte, hinter funkelnden Brillengläsern ein Paar forschender Augen. Dr. Werkin kam mit einem Gruße des Präsidenten, der die Herren Kingscourt und Löwenberg in seine Loge bat.

Kingscourt war verblüfft:

„Uns! Was ist das für’n Präsident? Und wieso kennt er uns arme Wüstenpilger?“

David erklärte lächelnd: „Der Präsident unserer neuen Gesellschaft. Er sitzt dort drüben in der ersten Loge, der alte Herr mit dem schneeweißen Barte.“

Sie blickten hinüber.

„Alle Wetter — mir ist auch, als ob ich ihn kennte! Woher nur?“ sagte Kingscourt.

Friedrich erinnerte sich: „Der Augenarzt von Jerusalem — Doktor …“

„Doktor Eichenstamm!“ ergänzte David. „Er ist der Präsident, den wir uns gewählt haben.“

„Und der hat uns nach zwanzig Jahren wiedererkannt?“ staunte Kingscourt noch immer.

Dr. Werkin sagte: „Seine Tochter hat die Herren erkannt und den Präsidenten auf Sie aufmerksam gemacht.“

David wandte sich an den Sekretär:

„Darf ich mitkommen, Herr Doktor?“

„Gewiß, Herr Littwak. Der Präsident möchte von Ihnen etwas über Ihren Kampf mit dem Geyer hören.“

Sie ließen sich von Dr. Werkin nach der Präsidentenloge führen. In dem eleganten kleinen Salon, der durch einen Türvorhang vom offenen Teile der Loge getrennt war, erwartete sie der alte Präsident stehend, auf einen Stock gestützt.

„Welch ein Wiedersehen, meine lieben Herren, nicht wahr?“ sprach der Alte mit leise zitternder Stimme und reichte einem nach dem anderen die freie Hand.

„Ja, hol‘ mich der Deibel, Herr Präsident, wenn ich das alles erwartet habe.“

„Wir wollen uns setzen, meine lieben Herren – ich bin nicht mehr sehr rüstig, Sie sehen!“ lächelte der Präsident und sank in den Lehnstuhl, den ein Diener heranschob. „Ja, ja — für unser Volk ist dies jetzt die bessere Zeit, aber für mich war es jene. Sie wissen: senectus ipsa morbus … Nun, wie es kommt, so muß es uns Menschen recht sein.“

Dann deutete er auf die neben ihm stehende Dame, die sehr einfach in schwarze Seide gekleidet war: „Meine Tochter Doktor Sascha hat Sie erkannt und mich an den Tag von der Klagemauer erinnert. Ach, das ist weit, meine lieben Herren! … Ja, ja, die einstige Klagemauer!“

„Die einstige?“ sagte Friedrich. „Ist sie auch nicht mehr? Nicht einmal dieser letzte Rest?“

Der Präsident betrachtete ihn kopfschüttelnd: „Sie waren wohl noch nicht in Jerusalem, da Sie so fragen?“

David näherte sich bescheiden:

„Nein, Herr Präsident! Die Herren sind erst angekommen. Sie haben noch sehr wenig sehen können.“

Der Präsident legte dem Sprecher freundlich die Hand auf den Arm: „Ich freue mich, Sie zu sehen, mein lieber Littwak. Ich freue mich immer über Sie, besonders jetzt. Halten Sie nur aus in dem Kampfe! Sie haben recht, Geyer hat unrecht. Mein letztes Wort an unsere Juden wird sein: Der Fremde soll sich bei uns wohl fühlen! Und Sie, Littwak, Gott erhalte Sie so, wie Sie sind… Sie haben noch wenig von unserem Lande kennengelernt, meine lieben Herren? O doch. Sie kennen einen unserer Besten. Auf diesem David Littwak da bin ich stolz, wie wenn ich etwas dafür könnte, daß er so tüchtig und rechtschaffen ist.“

David war blutrot geworden. Er senkte die Augen wie ein Knabe und stammelte: „Herr Präsident!…“

„Lassen Sie es sich gefallen, Littwak, daß ich Sie ins Gesicht lobe. Ich bin ein alter Mann und will von Ihnen nichts erschmeicheln … Sehen Sie, meine lieben Herren aus der Fremde: ich bin die Welle, die geht, und er ist die Welle, die kommt … Gib mir auch ein Täßchen Tee, Sascha!“

Der Tee wurde nach russischer Art serviert. Als die Herren im Laufe des Gespräches erwähnten, daß sie zwanzig Jahre fern von der Kulturwelt gelebt hätten, meinte Dr. Sascha:

„Tut es Ihnen nicht leid um die versäumte Zeit? Sie hätten an so viel Großem mitwirken, so vielen Menschen Gutes erweisen können.“

„Nee, gar nicht leid, Fräulein Doktor!“ erklärte Kingscourt. „Wir sind zwei ausgepichte Menschenfeinde. Wir wollen niemandem Gutes tun, als uns selbst. Das ist unser olles Programm. Was, Fritze?“

„Sie scherzen!“ sagte Sascha darauf. „Ich verstehe wohl, daß Sie scherzen. Gutes tun, ist doch ein Glück, dem nichts anderes gleichkommt.“

David sprach: „Fräulein Sascha redet aus Erfahrung, denn sie kennt dieses Glück. Sie leitet die größte Augenklinik der Welt. Wenn Sie es erlauben, Fräulein Doktor, will ich die Herren in Ihre Anstalt führen, sobald wir nach Jerusalem kommen. Dort ist schon vielen Menschen das Augenlicht gerettet oder wiedergegeben worden. Es war eine ungeheure Wohltat für die orientalischen Länder. Patienten kommen aus ganz Asien und Nordafrika. Der Segen, der von unseren Heilanstalten wie ein Strom ausgegangen ist, hat uns hier in Palästina und in den Nachbarländern noch mehr Freunde gemacht, als alle unsere technischen und industriellen Einrichtungen.“

Fräulein Sascha wehrte das Lob ab: „Herr Littwak überschätzt meine geringen Leistungen. Ich habe nichts Neues gemacht. Aber wir haben einen großen Mann im Lande, das ist Steineck, der Bakteriologe. Das Institut Steineck müssen Sie kennen lernen, da werden Sie Ehrfurcht empfinden.“

„Haben Sie schon einen Reiseplan, meine lieben Herren?“ fragte der alte Dr. Eichenstamm.

„Zunächst will ich meine Gäste nach Tiberias führen, Herr Präsident. Wir fahren morgen zu meinen Eltern.“

„Zum Pessachfeste, nicht wahr?“ sagte der Präsident. „Grüßen Sie Ihre Eltern von mir, Littwak! Und wenn die Herren nach Jerusalem kommen, bringen Sie sie auch in mein Haus. Ich rechne darauf.“

Er reichte wieder jedem der Herren die Hand, und sie nahmen Abschied, weil die hereindrängenden Klänge des Orchesters den Beginn des dritten Aktes anzeigten.

Als sie nun durch das leere Foyer schritten, rief Kingscourt:

„Scheint ein braver Kerl zu sein, euer Präsident. Aber ’n bißchen alt und gebrechlich. Warum habt ihr euch gerade den ausgesucht?“

„Das kann ich Ihnen mit einem Worte sagen, Mr. Kingscourt“, erwiderte David. „Wir haben ihn gewählt, weil er es nicht wollte.“

„Oho, das ist noch schöner.“

„Ja, wir haben einen Grundsatz bei unseren Weisen gefunden: Die Ehren gebe man dem, der sie nicht sucht!“

–> Drittes Buch

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