Altneuland – Drittes Buch

Das blühende Land

 

Erstes Kapitel

Es war ein wonnevoller Frühlingsmorgen, an dem die Gesellschaft von Friedrichsheim aufbrach, um nach Tiberias zu fahren. Ein mächtiger Reisewagen mit motorischem Betrieb hielt vor der Freitreppe. Das Gefährt konnte ein Dutzend Personen fassen.

„Donnerwetter!“ schrie Kingscourt gutgelaunt. „Das ist ja die Arche Noah. Da hätte all sündhaft Vieh und Menschenkind Platz.“

„Wir werden im ganzen nur elf Personen sein“, sagte David.

„Elf? Ich sehe nur neun“, zählte Kingscourt. „Sie scheinen Fritzchen für drei zu rechnen. War übrigens kein schlechter Einfall, daß Sie den Burschen mitnehmen.“

Fritzchen schien auf dem Arm seiner Kinderfrau zu verstehen, daß von ihm die Rede war. Mit lautem jauchzenden „O — o!“ streckte er die Händchen verlangend nach Kingscourts weißem Bart aus.

„Wir werden unterwegs noch zwei Freunde abholen“, sprach Frau Sarah. „Reschid Bey und den Architekten Steineck.“

Unterdessen hatten Diener vielerlei Handgepäck an den Wagen herangebracht und es in die unter den Sitzen befindlichen Hohlräume geschoben. Nur ein Speisekorb, welcher Milchflaschen für Fritzchen und noch einige Lebensmittel enthielt, wurde auf einen oberen Platz gestellt. Hintenauf stiegen der Heizer und ein schwarzer Diener. Auf den vorderen gepolsterten Bänken saßen Mirjam, Sarah und Friedrich. Kingscourt wollte in dem durch eine Glaswand geschützten Wagenteile sitzen, angeblich, um vor dem Winde geborgen zu sein, in Wirklichkeit, weil er gehört hatte, daß Fritzchen da unterkommen solle. Er kletterte auch zuerst hinein und ließ sich das Kind reichen. Als aber Fritzchen auf Kingscourts Arm war, klammerte es sich fest an ihn und mochte um keinen Preis mehr zu seiner Kinderfrau zurück. David, der als letzter einstieg, versuchte es mit väterlicher Strenge. Vergeblich.

Kingscourt war sehr böse, wenigstens in Worten: „So’n ungezogener Bengel! Wirst du gleich weggehen!“

David bat: „Geben Sie ihn mir! Ob er nun heult oder nicht.“

Kingscourt dachte nicht im entferntesten daran, das Bübchen loszulassen. Er hatte es sich auf den Schoß gesetzt und kitzelte es an der Brust, unter dem Kinn, bis es laut lachte.

„So’n Kerl! Dem liegt freilich nichts daran, wenn der alte Kingscourt zum Gespött von ganz Haifa wird. Zum Glück kennt mich hier keiner!“

Und so fuhr der Reisewagen zum Tore von Friedrichsheim hinaus. Hinten der schwarze Diener blies lustige Stückchen auf seinem blechernen Horn. Fritz klatschte vergnügt in die Hände.

„Guck‘ mal!“ sagte Kingscourt, „das ist ja fast wie in der guten Zeit. Der Schwager mit dem Posthorn.“

David bemerkte: „Er bläst, um uns bei Reschid anzukündigen. Wir wollen unterwegs keine Zeit verlieren.“

Sie fuhren die nun schon bekannte Karmelstraße talwärts. Richtig stand Reschid Bey schon vor seinem Hause, reisefertig. Die Begrüßung war herzlich und fröhlich. Hinter dem Holzgitter eines Fensters im ersten Stock erhob sich eine schöne, weiße Frauenhand und winkte mit dem Taschentuche.

Frau Sarah rief lächelnd hinauf zur Unsichtbaren:

„Grüß dich Gott, Fatma! Wir werden dir deinen Mann unbeschädigt zurückbringen, sei ganz ruhig!“

Und Mirjam rief:

„Küß mir deine Kinder, Fatma!“

Nun war auch das kleine Gepäck Reschids im Wagenkasten versorgt. Der Bey saß neben David. Noch die letzten Abschiedsgrüße an die winkende weiße Frauenhand hinter dem Holzgitter, und die Motorarche pustete weiter.

Friedrich wandte sich zu seiner Nachbarin Mirjam:

„Die arme Frau muß nun allein zu Hause bleiben.“

„Sie ist ein so zufriedenes, heiteres Weib“, erwiderte Mirjam.

„Ich bin überzeugt, daß sie ihrem Manne die Freude dieses Ausflugs von Herzen gönnt. Und er führe nicht mit uns, wenn es für sie eine Kränkung wäre. Er und sie sind wahrhaft gute Menschen.“

„Immerhin bewundere ich die Frau, die gefügig hinter ihrem Gitter bleibt — an solch einem Morgen, meine Damen!“

„Nicht wahr?“ sagte Sarah mit strahlender Miene. „Solche Frühlingstage gibt es nur in unserem Lande. Das Leben schmeckt hier besser, als irgend anderswo.“

Auch Friedrich fühlte sich durchströmt von Glück, er wußte es sich gar nicht zu erklären. Er war wieder jung, ja übermütig, und in dieser Laune gefiel es ihm, seine reizende Nachbarin zu necken:

„Wie ist es aber mit der Schule, Fräulein Mirjam? Heute haben Sie wohl die Pflichten ein bißchen an den Nagel gehängt?“

Mirjam lachte:

„Er weiß nichts, rein nichts mehr vom Judentum! … Erfahren Sie denn, mein Herr, daß heute unsere Osterferien begonnen haben. Wir fahren ja darum zu den Eltern nach Tiberias, weil wir dort den Seder feiern wollen. Hat Ihnen David nichts davon gesagt?“

„Ihr Bruder deutete einige Male darauf hin, daß wir in Tiberias mehr von der Judenwanderung hören sollten. So war’s also zu verstehen? Nun, die Wanderung aus Mizraim kenne ich ja noch von meiner Knabenzeit her.“

„Vielleicht hat er auch etwas anderes gemeint“, sprach Mirjam in nachdenklichem Tone.

Der Reisewagen war inzwischen am unteren Ende der Karmelstraße angekommen, hatte aber nicht die Richtung nach dem Mittelpunkte der Stadt, sondern rechts ab genommen. Es war die Vorstadt, die der Kison durchfloß. Sie kamen auf einen mit Bäumen bepflanzten Kai. Vor einem entzückenden Palästchen hielten sie an. Da stand ein heftig gestikulierender Herr, der einen grauen Schnurrbart hatte und mit zurückgeworfenem Kopfe über den Rand seines abrutschenden Kneifers hinweg die Ankömmlinge betrachtete:

„Ich wäre an eurer Stelle gar nicht gekommen!“ schrie er ihnen entgegen. „Seit einer halben Stunde steh‘ ich mir da die Beine in den Leib. Ich werde nie wieder pünktlich sein.“

David hielt ihm statt jeder Antwort die Taschenuhr vor die Augen.

„Das beweist nichts“, rief Steineck, „Ihre Uhr geht zu langsam. Ich glaube überhaupt nicht an Uhren… Da, nehmen Sie meine Pläne! Aber nicht verdrücken, bitte! So, und jetzt rückwärts fertig.“ Er hatte die drei großen Kartonrollen, die er unter dem Arme gehalten, David und Reschid zugeschoben und war schnaufend in den Wagen geklettert. Aber kaum war dieser in Bewegung, so schrie Steineck klagend auf:

„Halt, halt! Zurück! Ich habe meine Reisetasche vergessen.“

„Man wird sie Ihnen mit dem großen Gepäck nachschicken“, beschwichtigte ihn David. „Sie wissen, daß ich unser Gepäck auf der Eisenbahn direkt nach Tiberias schaffen lasse, weil wir doch den Umweg machen.“

„Unmöglich!“ jammerte der Architekt. „Ich habe meine Rede in der Reisetasche. Wir müssen zurück.“

Sie mußten zurück. Die Handtasche wurde geholt, aufgeladen, Steineck atmete erleichtert und wurde plötzlich sehr gut gelaunt. Es waren aber in diesem Augenblicke zwei der größten Schreihälse in dem verhältnismäßig engen Räume der Motorarche beisammen: Kingscourt und Steineck. Gleich dem alten Menschenfeinde, pflegte auch Steineck die gleichgültigsten Dinge mit furchtbarem Poltern vorzutragen. Kaum waren sie einander vorgestellt worden, brüllten sie sich gegenseitig in die Ohren. David und Reschid hörten es ergötzt mit an. Plötzlich legte aber Kingscourt den Zeigefinger an den Mund, und veranlaßte dadurch auch Steineck, zu schweigen.

„Herr Steineck“, flüsterte der Alte, „Sie waren zwar sehr laut, aber Fritzchen ist dabei doch eingeschlafen.“ Und er hob, während die anderen lachten, das Kind, das ihm auf dem Schoße schlummerte, behutsam auf und legte es in den Arm der rückwärts sitzenden Kinderfrau.

„Mr. Kingscourt“, raunte Steineck sehr gekränkt, „ich glaube nicht, daß ich lauter gesprochen habe als Sie.“

Die Straße, auf der sie fuhren, bot den beiden Fremden immer neue Gelegenheit zu staunenden Fragen. Der Verkehr war hier natürlich viel schwächer als in der Stadt, es gab jedoch Leben genug. Radfahrer und Motorwagen eilten an ihnen vorüber. Auf einem weichen Reitpfade zur Seite des Fahrwegs tauchten ab und zu Reiter auf, manche in der malerischen Tracht der Araber, andere in europäischer Kleidung. Auch sah man öfters Kamele, einzeln und in Zügen, die malerischen und primitiven Überbleibsel einer überwundenen Epoche. Die Fahrstraße war vorzüglich glatt, und man rollte angenehm dahin. Rechts und links kleine Häuser mit Gärten, weiterhin wohlbestellte Felder, von jungem Grün überhaucht. Es fiel Kingscourt auf, daß von den Drähten, die längs der Straße auf Stangen hingezogen waren, Abzweigungen in die einzelnen Häuser gingen.

„Sind das Telephondrähte?“ erkundigte er sich. „Und was ist das für eine Art Leute, die hier wohnt?“

Reschid Bey klärte ihn auf: „Hier wohnen zumeist Handwerker. Das hier ist ein Schuhmacherdorf. In diesen Drähten wird ihnen elektrischer Strom für ihre kleinen Maschinen zugeleitet. Ist Ihnen das etwas Neues?“

„O nein, das war schon zu meiner Zeit bekannt. Aber praktisch wurde dieser Kraftverschleiß wenig ausgenützt. Und woher kommt der Strom, wenn ich fragen darf?“

„Es gibt verschiedene Elektrizitätsgesellschaften. Die Leute hier beziehen den Strom zumeist von den Gebirgsbächen des Hermon und Libanon oder vom Toten-Meer-Kanal.“

„Nein!“ schrie Kingscourt überrascht.

„Ja!“ brüllte Steineck.

David aber sagte:

„Diese Handwerker sind auch halbe Bauern. In beiden Eigenschaften sind sie genossenschaftlich verbunden. Ihre gewerblichen Erzeugnisse liefern sie im Wege der Genossenschaft an die großen Warenhäuser, Versandgeschäfte und Exporteure ab. Zugleich bilden sie aber auch landwirtschaftliche Verbände. Da gibt es die mannigfaltigsten Formen. In der Nähe der größeren Städte ist die gewerbliche Tätigkeit überwiegend und der Feldbau daneben unbedeutend, so daß ein solcher Handwerker über seinen Eigenbedarf hinaus nur wenig Bodenfrüchte zieht, beispielsweise Obst und Gemüse für die städtischen Markthallen. In der Küstenzone, die ganz den Charakter der Riviera hat, werden, wie in der Umgebung von Nizza, Tomaten, Artischoken, – Melonen, petits pois, haricots verts und dergleichen gezogen. Unsere Frühgemüse schicken wir mit der Bahn in alle Weltgegenden, nach Paris, Berlin, Moskau, St. Petersburg. Dann gibt es wieder Gegenden, wo das umgekehrte Verhältnis ist, wo das Landwirtschaftliche vorwiegt und das Gewerbliche nur den Charakter einer bescheidenen, wenn auch modernen, mit guten technischen Hilfsmitteln arbeitenden Hausindustrie hat. Das sind unsere Dörfer, die über das ganze blühende Land zerstreut sind. Zum Beispiel da drüben in der Ebene von Jesreel. Sie dürfen freilich keine solchen armen Schmutznester erwarten, die man in früheren Zeiten Dörfer nannte. Wir werden heute noch Gelegenheit haben, das neue Dorf zu sehen, den Typus, der sich unzählig in Palästina wiederholt, west- und ostwärts vom Jordan.“

Sie waren über eine Brücke des Kison gefahren, und der Wagen rollte schneller zwischen herrlichen Orangen- und Zitronengärten hin. Die roten und gelben Früchte leuchteten aus dem Laube.

„Hol‘ mich der Deibel, das ist ja Italien!“ sagte Kingscourt.

„Kultur ist alles!“ brüllte Steineck, als ob er einen Widerspruch niederzukämpfen hätte. „Wir Juden haben Kultur hierher gebracht.“

Reschid Bey lächelte freundlich:

„Verzeihen Sie, mein Bester! Diese Kultur war auch früher da, wenigstens andeutungsweise. Schon mein Vater hat Orangen in großer Zahl gepflanzt.“ Er wandte sich zu Kingscourt und deutete mit dem Finger nach einer Anlage zur Rechten: „Das weiß ich besser als Freund Steineck, denn hier ist meines Vaters Garten, jetzt der meinige.“

Es war eine Pracht, wie die wohlgepflegten Bäume dastanden. Auf den immerblühenden Limonenstämmen sah man Blüten, grüne und gelbe Früchte nebeneinander.

Steineck donnerte: „Ich will nicht leugnen, daß ihr schon vor uns eure Bojaren hattet, aber verwerten könnt ihr sie erst jetzt ordentlich.“

Reschid Bey nickte: „Das ist richtig. Unsere Erträgnisse sind sehr erheblich gewachsen. Unser Orangenexport hat sich verzehnfacht, seit wir die guten Verkehrswege nach der ganzen Welt haben. Alles ist ja durch eure Einwanderung mehr wert geworden.“

„Eine Frage, Reschid Bey!“ warf Kingscourt ein. „Die Herren werden sie mir nicht übel nehmen, dazu sind sie ja viel zu gescheit. Sind die früheren Bewohner von Palästina durch die Einwanderung der Juden nicht zugrunde gerichtet worden? Haben sie nicht wegziehen müssen? Ich meine: im großen und ganzen. Daß einzelne dabei gut fuhren, beweist ja nichts.“

„Welche Frage!“ entgegnete Reschid. „Für uns alle war es ein Segen. Selbstverständlich in erster Reihe für die Besitzenden, die ihre Landstücke zu hohen Preisen an die jüdische Gesellschaft verkaufen konnten oder auch weiter behielten, wenn sie noch höhere Preise abwarten wollten. Ich für meinen Teil habe die Grundstücke unserer neuen Gesellschaft verkauft, weil ich dabei meine Rechnung besser fand.“

„Sagten Sie nicht vorhin, das wären Ihre Gärten, an denen wir vorbeifuhren?“

„Freilich! Nachdem ich sie der Gesellschaft verkauft hatte, pachtete ich sie wieder.“

„Da hätten Sie sie doch gleich nicht hergeben sollen.“

„So war es aber für mich vorteilhafter. Da ich mich der neuen Gesellschaft anschließen wollte, mußte ich mich auch ihren Landregeln unterwerfen. Die Mitglieder haben kein Privateigentum an Grund und Boden.“

„Friedrichsheim gehört nicht Ihnen, Herr Littwak?“

„Das Grundstück nicht. Ich habe es nur bis zum nächsten Jubeljahre gepachtet, wie Freund Reschid seine Gärten.“

„Jubeljahr? Bitte, erklären Sie sich gefälligst näher. Mir scheint wirklich, daß ich da drüben auf meiner Insel viel verschlafen habe.“

„Das Jubeljahr“, sagte David, „ist keine neue, sondern eine sehr alte Einrichtung unseres Lehrers Moses. Nach siebenmal sieben Jahren, also in jedem fünfzigsten Jahre, fielen die verkauften Grundstücke wieder an den ursprünglichen Besitzer ohne Entschädigung zurück. Wir haben das allerdings ein bißchen anders gemacht. Bei uns fallen die Grundstücke an die neue Gesellschaft. Schon Moses wollte dadurch der sozialen Gerechtigkeit in der Bodenverteilung dienen. Sie werden einsehen, daß unsere Methode diesem Zwecke nicht schlechter dient. Die Wertvermehrung des Boden kommt nicht einzelnen, sondern der Gesamtheit zustatten.“

Steineck glaubte einen Einwand Kingscourts im vorhinein zerstreuen zu müssen: „Sie werden vielleicht sagen, daß dann niemand mehr Lust haben wird, auf einem nicht ihm gehörenden Boden Verbesserungen und schöne Bauten aufzuführen.“

„O nein, mein Herr, das werde ich nicht sagen. Für ein solches Rindvieh müssen sie mich nicht halten. Ich weiß, daß in London die Leute ihre Häuser auf fremden Grundstücken bauen, die sie auf 99 Jahren gemietet haben. Das ist doch ganz dasselbe … aber ich wollte Sie fragen, mein lieber Bey, wie es den früheren Einwohnern erging, die nichts besaßen — den vielen arabischen Mohammedanern?“

„Mr. Kingscourt, diese Frage beantwortet sich von selbst“, sagte Reschid. „Die nichts besaßen, also nichts zu verlieren hatten, die haben natürlich nur gewinnen können. Und sie haben gewonnen: Arbeitsgelegenheit, Nahrung, Wohlergehen. Es hat nichts Armseligeres und Jämmerlicheres gegeben, als ein arabisches Dorf in Palästina zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Bauern hausten in erbärmlichsten Lehmnestern, die zu schlecht waren für Tiere. Die Kinder lagen nackt und ungepflegt auf der Straße und wuchsen auf wie das liebe Vieh. Heute ist das alles anders. Von den großartigen Wohlfahrtseinrichtungen haben sie profitiert, ob sie wollten, oder nicht. Als die Sümpfe des Landes ausgetrocknet wurden, als man die Kanäle anlegte und die Eukalyptusbäume pflanzte, welche den Boden gesund machen, da wurden diese einheimischen, widerstandsfähigen Menschenkräfte zuerst verwendet und gut gelohnt. Blicken Sie nur da hinaus ins Feld! Ich erinnere mich noch aus meiner Knabenzeit, daß hier Sümpfe waren. Diesen Boden hat die neue Gesellschaft am billigsten erworben und hat ihn zu dem besten gemacht. Die Äcker gehören zu dem blanken Dorfe, das Sie dort auf dem Hügel sehen. Es ist ein arabisches Dorf. — Sie bemerken die kleine Moschee. Diese armen Menschen sind viel glücklicher geworden, sie können sich ordentlich ernähren, ihre Kinder sind gesünder und lernen etwas. Nichts von ihrem Glauben und ihren alten Gebräuchen ist ihnen verstört worden — nur mehr Wohlfahrt ist ihnen zuteil geworden.“

„Ihr seid eigentlich kurios, ihr — Mohammedaner! Seht ihr denn diese Juden nicht als Eindringlinge an?“

„Christ, wie sonderbar ist Ihre jetzige Rede!“ antwortete der freundliche Reschid. „Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nichts nimmt, sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert, warum sollten wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder, warum sollten wir sie nicht lieben? Ich habe unter meinen Glaubensgenossen nie einen besseren Freund gehabt, als diesen David Littwak da. Er kann zu mir kommen bei Tag oder Nacht und von mir verlangen, was er will, ich werde es ihm geben. Und ich weiß auch, daß ich auf ihn rechnen kann wie auf einen Bruder. Er betet in einem anderen Hause als ich zu demselben Gotte, der über uns allen ist. Aber diese Gotteshäuser stehen nebeneinander, und ich glaube immer, daß unsere Gebete, wenn sie erst einmal im Aufsteigen sind, sich irgendwo in der Höhe vereinigen, und dann setzen sie den Weg zusammen fort, bis sie ganz oben sind bei unserem Vater.“

Reschid hatte in schlichtem Tone gesprochen, der alle bewegte, auch Kingscourt. Dieser räusperte sich:

„Hm — hm. Ganz recht, ganz schön. Das läßt sich hören. Aber Sie sind ein gebildeter Mann. Sie haben in Europa studiert. All das gilt ja doch nicht von den gemeinen Stadt- und Landleuten.“

„Viel eher von diesen, Mr. Kingscourt. Sie müssen schon entschuldigen, aber Duldsamkeit habe ich im Abendlande nicht gelernt. Wir Mohammedaner haben uns von jeher besser als ihr Christen mit den Juden vertragen. Schon in der Zeit, als die ersten jüdischen Kolonisten hier erschienen, zu Ende des vorigen Jahrhunderts, kam es vor, daß streitende Araber einen Juden zum Richter wählten oder sich geradezu an den Waad einer jüdischen Niederlassung um Rat, Hilfe oder Urteil wandten. Da gab es wirklich keine Schwierigkeit. Und so lange die Richtung des Dr. Geyer nicht die Oberhand bekommen wird, so lange wird auch das Glück unseres gemeinsamen Vaterlandes dauern.“

„Ja, was ist’s denn mit diesem Geyer, von dem ich immer wieder sprechen höre?“

Steineck wurde dunkelrot im Gesichte, und er schrie: „Ein vermaledeiter Pfaffe ist er, ein Augenverdreher, Leuteverhetzer und Herrgottsfopper. Die Intoleranz will er bei uns einführen, der Halunke. Ich bin gewiß ein ruhiger Mensch, aber wenn ich so einen intoleranten Kerl sehe, den könnte ich mit Vergnügen ermorden.“

„Also Sie sind der Duldsame?“ lachte Kingscourt. „Nun kann ich mir denken, wie bei euch die Duldsamen aussehen.“

„Diese gebärden sich natürlich viel sanfter“, scherzte David.

Der Motorwagen hatte die Ebene verlassen und rollte ostwärts in das wellige Land hinein, bergauf nicht langsamer als bergab. Überall waren die Hügellehnen bis hinauf bebaut, jedes Fleckchen Erde benutzt. An den steileren Hängen erhoben sich Terrassen, wie in der alten salomonischen Zeit. Hier wuchsen Trauben, Granatäpfel und Feigen. Zahlreiche Baumschulen zeigten, welche verständige Sorge die Bevölkerung der Aufforstung dieser einst kahlen Strecken zugewendet hatte. Auf den Kämmen der kleinen Berge ragten die Umrisse von Pinien und Zypressen in den blauen Himmel.

Jetzt kam der Wagen, in ein liebliches Tal, das die Reisenden durch seine Blumenfülle überraschte. Wie ein leuchtender Teppich in weißen, gelben, roten, blauen und grünen Farben war es vor ihnen ausgebreitet. Und es war ihnen zumute, als waren sie in ein Duftmeer hineingeraten. Ein Windhauch trug die wohlriechenden Luftwellen heran, und die beiden Neuankömmlinge waren ganz bezaubert von dem Naturspiele, das sie sich gar nicht zu erklären wußten. Der Aufschluß wurde ihnen zuteil, daß hier eine großartige Blumenkultur für Parfümindustrie eingerichtet sei. Jasmin, Tuberosen, Geranien, Narzissen, Veilchen und Rosen wurden hier in großen Massen gezogen. Dieses Tal war ein einziger Garten. Am Rande des Weges pflegten die arbeitenden Landleute den Vorbeiziehenden Grüße zuzurufen, die bald Littwak, bald Reschid Bey oder Steineck galten. Alle drei schienen viele Bekannte unter diesen sittlich frohgemuten Bauern zu haben. So kamen sie nach der Ortschaft Sepphoris, wo der Wagen zum erstenmal hielt. Auf dem Platze vor der griechischen Kirche stieg David aus und bat seine Freunde, sich einen Augenblick zu gedulden; er müsse dem Popen einen kurzen Besuch machen. Er trat in das schmucke kleine Pfarrhaus ein.

Die anderen verließen auch die Motorarche, um ein paar Schritte bis an den Hügelrand zur Ruine der alten zerstörten Kirche zu gehen. Von da genoß man einen schönen Fernblick über die fruchtbare Ebene bis an den Karmel. Und Mirjam erzählte, daß hier einst ein christliches Gotteshaus zu Ehren Joachims und Annas gestanden sei, welche die Eltern Marias, der Mutter Jesu gewesen waren und hier gelebt hatten. Die neue griechische Kirche diene der Kolonie russischer Christen, die um Sepphoris herum entstanden war. Mit dem Popen sei David befreundet, und lade er ihn ein, zur Sederfeier nach Tiberias zu kommen. Dann erschien David wieder, begleitet von dem stattlichen Popen, der aber bedauerte, nicht gleich mitfahren zu können. Er würde nachmittags mit der elektrischen Bahn über Nazareth nach Tiberias kommen und wahrscheinlich noch vor der Gesellschaft bei Littwaks Eltern eintreffen.

So nahmen sie denn Abschied von dem geistlichen Herrn, und der Reisewagen rollte in nördlicher Richtung der Ebene zu.

 

Zweites Kapitel

Die Glaswand zwischen dem vorderen und dem mittleren Teile des Wagens war gesenkt worden, um das Gespräch auch mit den vorn Sitzenden zu erleichtern. Außerhalb von Sepphoris mußten sie an einer Bahnschranke einige Minuten stillhalten, weil ein Zug angekündigt war. Jetzt sauste er vorüber, nach Süden zu, sehr eilig. Es fiel den Fremden auf, daß der Lokomotive die Rauchfahne fehlte, und sie erfuhren, nachdem sie das Geleise passiert hatten, daß der Betrieb hier, wie auf den meisten Bahnen Palästinas, elektrisch sei. Das war einer der großen Vorzüge der Einrichtung einer neuen Kultur in diesen Gegenden gewesen. Gerade weil hier alles bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts völlig vernachlässigt, in einer Art von Urzustand lag, hatte man gleich die neuesten und höchsten technischen Errungenschaften benützen können. Es war wie bei der Anlage der Städte so auch in allem anderen zugegangen, im Eisenbahnwesen wie beim Kanalbau, in der Landwirtschaft wie in der Industrie. Die Erfahrungen aller Kulturvölker standen ja den jüdischen Ansiedlern, die aus aller Welt herbeiströmten, zu Gebote. Die Gebildeten aber, die von den Universitäten, den technischen, landwirtschaftlichen und Handelshochschulen der zivilisierten Staaten herkamen, waren ausgerüstet mit jeder notwendigen Wissenschaft. Und gerade diese arme junge Intelligenz, für die es keine Verwendung in den antisemitischen Ländern gegeben hatte, und die dort zu einem hoffnungslosen umsturzlustigen Proletariate herabgesunken war — diese gebildete und verzweifelte jüdische Jugend war zum größten Segen Palästinas geworden, denn sie brachte die neueste Wissenschaft in allen praktischen Gestaltungen hierher. So berichtete David.

Friedrich erinnerte sich plötzlich eines Wortes, das in seinem Leben eine Rolle gespielt hatte, und er richtete an seinen Freund eine den anderen unverständliche Frage:

„Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Wissen Sie noch, Kingscourt? Kein Wunder, daß ein Jude sich meldete. In jener Zeit wuchsen unter uns viele solche, wir waren fast alle so.“

Kingscourt jedoch interessierte sich mehr als für Friedrichs Empfindsamkeiten für die Erzählungen Davids:

„Ihr seid aber ein sündhaft pfiffiges Volk — uns habt ihr das alte Eisen gelassen, und ihr fahrt mit den neuen Maschinen.“

Steineck schrie:

„Hätten wir uns vielleicht veraltetes Zeug anschaffen sollen, wenn wir für dasselbe Geld gutes neues kriegen und machen konnten? Übrigens, was Sie hier sehen, gab es alles schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Europa und Amerika, besonders in Amerika. Die drüben waren der verdummten alten Welt weit vor. Natürlich haben wir von den Amerikanern gelernt, im elektrischen Bahnwesen und in noch anderen Dingen.“

„Für uns“, ergänzte David, „war der Übergang zu den besten, modernsten Betriebsformen viel weniger kostspielig, weil wir nichts Altes zu amortisieren hatten. Schlechtes rollendes Material brauchten wir nicht bis zur Abnützung mitzuschleppen. Unsere Waggons enthalten alle Bequemlichkeiten, Ventilation, helles Licht bei Nacht, keine Belästigung durch Rauch und Staub, und man wird fast gar nicht aufgerüttelt, obwohl wir mit bedeutender Geschwindigkeit fahren. Die Insassen der Arbeiterzüge werden nicht in Pferchen gemartert, wie ehemals. Wir achten selbstverständlich auf die Volksgesundheit in einem so wichtigen Verkehrsmittel. Es wird Sie auch interessieren, wie billig die Bahnbenützung bei uns ist. Wir haben für die Personenbeförderung das Tarifsystem nachgebildet, welches im Lande Baden unter der Regierung des guten weisen Großherzogs Friedrich eingeführt wurde. Das Aufsuchen der Arbeitsgelegenheit wollten wir im allgemeinen Interesse so leicht und frei wie möglich machen. Sie werden bei uns die Erscheinung nicht sehen, daß von einem Orte, wo man Menschenkraft wie einen Bissen Brot braucht, nach einem anderen Orte, wo Arbeitswillige den Bissen Brot nicht finden können, Eisenbahnwagen leer hin und her geschleift werden, weil die Fahrpreise zu hoch sind. Vom Libanon bis ans tote Meer und von der Mittelmeerküste nach dem Dscholan und Hauran ziehen sich die Schienenstränge zur Befruchtung des Landes, wie eine Kanalisation der Menschenkraft. Selbstverständlich ist auch der Frachtverkehr, einheimischer wie Transit, sehr erheblich, da wir Kornkammern und Hafen, sowie Anschluß an die kleinasiatischen und nordafrikanischen Linien haben… Doch von all diesen sozialen und wirtschaftlichen Vorzügen unseres Bahnverkehrs will ich jetzt nicht sprechen. Diese Dinge sind Ihnen ja geläufig, meine Herren, obwohl Sie zwanzig Jahre außer der Welt waren. Das alles haben die Menschen schon vor zwanzig Jahren aus täglicher Erfahrung gewußt.“

„Auch wenn sie noch so beschränkt waren“, warf Steineck liebenswürdig ein.

David fuhr fort: „Aber was man nicht kannte, war die Schönheit unseres teuren Landes. Viel ist freilich durch unsere Kulturarbeit geschaffen worden, aber die natürlichen Reize der Gottesgabe lagen durch viele Jahrhunderte ungesehen, ungekannt, vergossen da. Wo finden Sie in der Welt noch ein Land wie unseres, das Ihnen in allen Jahreszeiten den Frühling so nahe erreichbar macht? Es gibt eine warme, eine gemäßigte und eine kalte Zone, die nicht weit auseinander liegen. Im Süden des Jordantales die beinahe tropische Landschaft, an der weichen Meeresküste die Wonnen der italienischen und französischen Riviera, und unfern die tragisch großartigen Gebirge des Libanon und Antilibanon, der schneebedeckte große Hermon. Und das alles ist in wenigen Stunden Eisenbahnfahrt zu erreichen. Gott hat unser Land gesegnet!“

„Ja“, sagte Reschid, „bei uns ist das Reisen ein großer Genuß. Ich setzte mich manchmal in den Aussichtswaggon und fahre ganz planlos spazieren, nur um beim Fenster hinauszuschauen.“

„Verehrtester Gastgeber“, bemerkte Kingscourt; „ich meine, Sie hätten uns damit vor allem bekannt machen müssen – ohne Ihrer famosen Arche nahetreten zu wollen. Man fährt wirklich recht sanft.“

David entschuldigte sich: „Aus zwei Gründen, meine Herren, ließ ich Sie heute nicht auf der Bahn fahren. Erstens, weil Sie im Motorwagen mehr von Land und Leuten sehen. Zweitens, weil in den Tagen vor Ostern ein ungeheurer Fremdenandrang auf der Linie Haifa-Nazareth-Tiberias herrscht. Nun ist zwar auch dieses kosmopolitische Treiben, dieses Durcheinander aller Nationen, der Zug von Pilgern nach den heiligen Stätten der Christenheit in hohem Grade fesselnd. Aber zuerst wollte ich Ihnen doch das organische Leben unseres Gemeinwesens zeigen.“

„Ja, wie haben Sie die Frage der heiligen Stätten gelöst?“ sagte nun Friedrich.

„Das war kein Kunststück“, entgegnete David. „Als im vorigen Jahrhundert diese Frage durch die zionistische Bewegung in Fluß kam, hielten es viele Juden, gleich Ihnen, Herr Doktor, für unmöglich, mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden. Infolge Ihrer langen Abwesenheit hatten Sie, wie ich sehe, auch jetzt noch an dieser veralteten Anschauung. Zunächst ergab es sich vor etwa fünfundzwanzig Jahren aus der publizistischen Erörterung, wie aus den Äußerungen maßgebender Staatsmänner und Kirchenfürsten, daß dieses Hindernis nur in der Einbildung allzu ängstlicher Juden existierte. Die heiligen Stätten der Christenheit hatten sich doch seit undenklicher Zeit im staatlichen Besitze von Nichtchristen befunden. So wie man schon seit mehreren Jahren keine Kreuzzüge geführt hatte, so war auch allmählich eine andere und jedenfalls viel höhere Auffassung für die Besitzverhältnisse dieser vom Glauben geheiligten Orte geltend geworden. Gottfried von Bouillon und seine guten Ritter empfanden es als eine Kränkung, daß Palästina in den Händen der Muselmanen war. Wo haben Sie ein ähnliches Gefühl bei den Rittern und Grafen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wahrgenommen? Und die Regierungen? Hätten die vielleicht den Parlamenten eine außerordentliche Kreditforderung zur Eroberung des heiligen Landes vorzulegen gewagt? Die Sache war nämlich die, daß ein solcher Krieg weniger gegen den Großtürken als gegen andere christliche Mächte hätte geführt werden müssen. Es wäre ein Kreuzzug nicht gegen den Halbmond, sondern gegen ein anderes Kreuz gewesen. So war man zu der Ansicht gelangt, daß der sogenannte Status quo für alle Teile das Beste sei. Aber das war doch nur eine realpolitische Nützlichkeitserwägung. Daneben ging auch noch eine höhere, eine, wenn ich das Wort gebrauchen kann, idealpolitische Auffassung. Um den Sachbesitz konnte es sich bei den heiligen Stätten wohl nicht handeln. Den religiösen Empfindungen schien mehr Genüge geleistet, wenn diese Orte der Andacht sich in niemandes ausschließendem Besitze befanden, als wenn sie irgendeiner einzelnen Macht gehörten. In einer Begriffsbildung, die dem römischen Recht entlehnt war, erschienen all die heiligen Stätten als res sacrae, extra commercium. Das war das sicherste, das einzige Mittel, sie für immerwährende Zeiten zum Gemeingute aller Gläubigen zu machen. Und wenn Sie nach Nazareth, Jerusalem oder Bethlehem kommen, werden Sie versöhnte Pilgerzüge wallen sehen. Auch mich, der ich ein überzeugter Jude bin, ergreifen, diese Bilder tiefster Andacht mit eigener Gewalt.“

„Man fühlt sich an Lourdes in den Pyrenäen erinnert, wenn man nach Bethlehem oder Nazareth kommt“, sagte Steineck. „Auch ein so kolossaler Fremdenverkehr, neue Hotels, Massenherbergen und Klöster.“

In solchen Gesprächen waren sie nach der Ebene gelangt. Eine langgestreckte Niederung, reich bebaut mit Weizen und Gerste, Mais und Hopfen, Mohn und Tabak. Blanke Dörfer und einzelne Wirtschaftshöfe im Tale und an den Berglehnen. Saftige Weideplätze, auf denen Rinder und Schafe beschaulich grasten. Da und dort sah man das Eisen großer landwirtschaftlicher Maschinen blitzen. Und in der Sonne dieses Frühlingstages machte die ganze Landschaft einen unsagbar friedvollen und glücklichen Eindruck.

Sie kamen durch einige kleinere Ortschaften, blickten in stattliche Bauernhöfe hinein, sahen Männer und Frauen bei der Arbeit, Kinder beim Spiele, und Greise, die sich still vor den Häusern sonnten. Den Fahrenden fiel es auf, daß die Fußgänger auf dem Wege sich mehrten, je weiter man kam. Alle strebten offenbar einem gemeinsamen Ziele zu, und dieses schien eine endlich auf der Höhe gelegene große Niederlassung zu sein. Sie überholten die Fußgänger, Männer und Frauen, die ihnen Grüße und auch „Hedad!“ zuriefen. Einzelne rückten aber ziemlich verdrossen ihre Hüte oder blickten sogar mißmutig zur Seite. Noch lebendiger wurde es hinter dem Motorwagen. Kaum war er vorbei, so kamen aus jedem Bauernhof Leute heraus, die sich hinterdrein in Bewegung setzen, manche laufend. Einige schwangen sich auf Pferde und ritten im Galopp nach. Andere endlich bestiegen Fahrräder und bemühten sich, den mechanischen Wagen zu überholen. Davids Gäste hatten bald den Eindruck, daß sie erwartet würden.

Und so war es wirklich. Die Niederlassung, deren ländlichen Reichtum sie an den prächtigen Wirtschaftsgebäuden, am wohlgenährten Vieh, an der hochstehenden Kultur der Felder wahrnehmen konnten, war die Ortschaft Neudorf. Eine Menschengruppe harrte ihrer vor dem schmucken Gemeindehause, und als der Motorwagen hielt, brauste den Ankömmlingen ein hundertstimmiges „Hedad!“ entgegen.

„Hedad ist so viel wie hoch“, sagte Reschid zu Kingscourt gewendet, als sie ausstiegen.

„Hab‘ ich mir gleich gedacht, daß es entweder hoch oder nieder heißt“, schmunzelte der Alte.

Indessen konnten sie nicht gleich ins Haus eintreten, weil ein kleiner Chor von sauber gekleideten Schulkindern unter dem Kommando des Lehrers ein hebräisches Begrüßungslied anstimmte. Das mußten sie stehend anhören. Fritzchen war wieder munter und sang auf dem Arme seiner Kinderfrau das Lied in unartikulierten Lauten mit.

Dann trat der Gemeindevorsteher Friedmann, ein kräftiger Bauer von etwa vierzig Jahren, vor und hielt eine kurze Ansprache, in der er die Gäste, und insbesondere die Parteiführer Littwak und Steineck, willkommen hieß. Er sprach im russisch-jüdischen Dialekte.

„Alle Wetter!“ brummte Kingscourt dem neben ihm stehenden David ins Ohr, „das wußt‘ ich gar nicht, daß Sie ein Parteiführer sind.“

„Nur vorübergehend, Mr. Kingscourt; für ein paar Wochen. Meine Profession ist es nicht.“

Aber ein anderer Bauer war vorgetreten, auch ein stämmiger, sonnengebräunter Mensch. Er drehte seinen Hut ein wenig verlegen zwischen den harten Händen und sprach mit unsicherer Stimme:

„Herr Littwak und Herr Steineck, Sie werden schon erlauben, daß ich auch etwas sag‘.“

Einige Fäuste streckten sich nach dem unvermuteten Redner aus, um ihn wegzuziehen. Mehrere schrien:

„Mendel soll nicht reden! Er hat nicht zu reden.“

Mendel stand jedoch trotzig da, und seine Entschlossenheit wuchs, als man ihn verhindern wollte.

„Ich werd‘ reden!“

Es erhob sich ein Lärm. „Nein, nein!“ schrie die Mehrzahl. Mendels Anhänger wetterten dazwischen: „Ja, er soll nur reden!“

David beruhigte sie mit einer Geberde seiner erhobenen Hand:

„Gewiß soll er reden!“

Mendel sagte höhnisch zu seinen Gegnern: „Ihr seht! … Herr Littwak is gescheiter, wie ihr chamoirim! Also was ich sagen will, is nur das: Friedmann hat nix geredt für de ganze Gemeinde.“

Wieder verworrener Lärm:

„O ja! O ja! Er ist der Vorsteher!“

Mendel fuhr unbekümmert fort:

„Die Gäst‘ darf er begrüßen, ja. Das muß er. Da hat er gesprochen für uns alle Männer von Neudorf. Wir sind nit grob gegen unsre Gäst‘. Aber als Parteiführer darf er die Herren da nix begrüßen. Bei uns in Neudorf gibt es noch en andere Partei, was nit den Herrn Littwak sei‘ Partei is. Das hab‘ ech Ihner sag’n woll’n, Herr Littwak und Herr Steineck.“

Der Sturm der Zuhörer hatte sich während Mendels Rede gelegt, ja es schien sogar, als wären viele mit dieser Einschränkung einverstanden, weil so die Gastfreundlichkeit mit dem Parteistandpunkt zugleich gewahrt blieb.

„Oho?“ erkundigte sich Kingscourt bei Steineck. „Wir scheinen da in Feindesland geraten zu sein?“

„Fressen werden sie uns nicht“, gab der Architekt zur Antwort. „Wir sind ja hier, um sie zu bekehren. Ich werde ihnen ihre Bauernschädel schon zurechtsetzen … Um Gotteswillen, wo hab‘ ich meine Rede?“ Er durchsuchte seine Handtasche, die er sich vom Diener hatte reichen lassen. „Meine Rede ist nicht da!“

Frau Sarah lachte: „Sie hatten sie doch in der Reisetasche?“

„Jetzt fällt mir ein, ich habe sie in den Koffer gesteckt.“

Mirjam sagte: „Sprechen Sie doch aus dem Stegreif!“

Steineck machte ein verzweifeltes Gesicht. Mit Stegreif reden hatte er gewöhnlich kein Glück.

Im Haufen der Landleute öffnete sich eine Gasse. „Reb Schmul kommt!“ hatten einige gerufen und man machte ihm ehrfurchtsvoll Platz.

Rabbi Samuel war ein alter, gebückt einhergehender Mann von ungemein mildem Wesen. Er nahm Davids Hand in seine zitternden Greisenhände und begrüßte ihn herzlich, so daß man sehen konnte, er stehe nicht auf der Seite Mendels und der Trotzigen.

Mirjam aber erzählte den Fremden in leisem Tone, wer dieser weißbärtige Rabbi war. Er sei mit den ersten Einwanderern ins Land gekommen, als diese jetzt so fruchtbare Ebene dürftig dalag und die Ebene von Asochis dort hinter den nördlichen Höhen noch von Sümpfen durchzogen war, und im Süden die weite Ebene von Jesreel noch die alte Mißwirtschaft aufwies. Rabbi Samuel war der Tröster und Seelsorger der Männer von Neudorf gewesen, die zum größten Teile von Rußland herkamen und den Kulturkampf mit dem alten Boden aufnahmen. Er war und blieb der einfache Landrabbiner, harrte bei seiner Gemeinde aus, obwohl er von größeren Stadtgemeinden oft genug berufen worden war. Denn er wurde wegen seines gottesfürchtigen und weisen Lebenswandels allgemein verehrt. Der östliche Teil der Ortschaft, wo das Häuschen des Rabbiners stand, hieß der Garten Samuels. Und an den Festtagen, wenn Rabbi Samuel im Tempel von Neudorf predigte, kamen die Andächtigen von weit her, um seinen Worten zu lauschen.

Der Vorsteher Friedmann ließ jetzt den Gästen den Willkommstrunk und einen Imbiß reichen. Auf dem Platze hinter dem Gemeindehause war eine luftige Halle improvisiert. An hoben Stangen und Baumästen waren lange Streifen von Segeltuch gespannt, die genügenden Schatten gewährten. Dahin begab sich die Menge.

Ein leichtes Gerüst war als Rednerbühne aufgerichtet. Davor, in der ersten Reihe, standen Stühle für Rabbi Samuel und die Gäste. Die übrigen hatten Bänke, oder sie mußten stehen.

Friedmann sprach zuerst und ermahnte die Zuhörer, die Redner nicht zu stören, auch wenn man nicht mit allem Vorgebrachten einverstanden wäre. Das verlange der gute Ruf von Neudorf. Dann gab er dem Architekten Steineck das Wort. Dieser bestieg die Erhöhung, räusperte sich mehrmals und begann, erst stockend, dann immer lebhafter:

„Liebe Genossen! Mir ist — hm ein — hm — Unfall zugestoßen, auf der Reise — hm. Ich habe nämlich meine — hm — meine Rede verloren. Ich habe mir nämlich für euch eine Rede ausgearbeitet. Es war eine gute, schöne Rede, das müßt ihr mir glauben, weil ihr sie nicht kennen lernen werdet.“

Einige lachten. Steineck fuhr fort:

„Wir sind in unserer neuen Gesellschaft — hm — an einem Wendepunkt angelangt — hm — an einem Wendepunkt. Ich sage euch nichts als das: an einem Wendepunkt!“

Der Redner wischte sich den Schweiß ab.

„Worin besteht dieser Wendepunkt, meine lieben Freunde? … Aber bevor ich mich diesem Wendepunkt — hm — zuwende, möchte ich — hm — auf die Vergangenheit zurückgreifen. Was war die Vergangenheit, eure, unsere Vergangenheit? Hm? Das Ghetto!“

Rufe: „Sehr richtig!“

„Wer hat euch aus dem Ghetto herausgebracht? Hm? Wer?“

Mendel rief mit starker Stimme dazwischen: „Wir selbst!“

Rufe: „Ruhe! Ruhe!“

Steineck aber wurde hitziger:

„Wer ist das, wir selbst? Hm? Ist es Mendel oder ein anderer?“

Mendel schrie wieder: „Das Volk!“

„Ich bitte mich nicht zu unterbrechen! Hm. Ich nehme übrigens das Wort von Mendel auf. Das Volk, ja! Gewiß, das Volk. Hm. Aber allein war das Volk das nicht imstande. Hm. Unser Volk war zerstreut in der ganzen Welt, in kleinen hilflosen Gruppen. Bevor es sich selbst helfen konnte, hat man es zusammenbringen müssen.“

Mendel lärmte wieder:

„Ja, ja, die Führer, das wissen wir schon!“

Jetzt fuhr aber Friedmann mit einer Donnerstimme dazwischen:

„Augenblicklich schweigst du, Mendel! Ich bitte, Herr Steineck, reden Sie weiter.“

„Hm, ja, ich rede weiter. Die Führer, sagt Mendel. Ich glaube, hm, er sagt es höhnisch. Aber es ist wahr. Hm. Wo war euer Geyer, der euch jetzt aufhetzt, damals? Ich will es euch sagen. Euer Doktor Geyer war damals ein antizionistischer Rabbiner. Ich habe ihn gekannt. Er war auch damals unser wütender Gegner, schützte aber andere Gründe vor, oh, ganz andere. In einer Sache ist er freilich immer derselbe geblieben, hm. Ich will euch sagen, was er war, ist und sein wird. Er ist der Rabbiner des nächsten Vorteils. Als wir Zionisten der ersten Stunde uns auf den Weg machten, unser Volk und unser Land aufzusuchen, da hat uns der Herr Rabbiner Dr. Geyer gescholten. Ja, Narren und Betrüger hat er uns gescholten.“

Ein junger Landmann von etwa fünfundzwanzig Jahren näherte sich der Rednerbühne und sprach in höflichem Tone:

„Entschuldigen Sie, Herr Steineck! Das ist nicht möglich. Man hat doch immer gewußt, daß wir Juden ein Volk sind und daß Palästina unser angestammtes Land ist. Also kann Dr. Geyer unmöglich jemals das Gegenteil behauptet haben.“

„Er hat es aber getan!“ schäumte Steineck. „Er hat unser Volk und Land verleugnet. Er hat aus dem Gebetbuch heraus Zion gelesen, und dann hat er den Schafen, die ihm zuhörten, weiszumachen gewagt, daß damit etwas anderes gemeint sei. Unter Zion soll man etwas anderes verstehen als Zion! Alles andere sollte man darunter verstehen, nur das eine, wahre nicht. Zion war überall, nur nicht in Zion!“

Einige schrien: „Nein, nein! Das hat Geyer nicht gesagt. Das ist unmöglich!“

Aber Rabbi Samuel war aufgestanden. Zitternd stützte er sich auf seinen Stock und erhob die andere Hand, worauf sofort alle still wurden.

„Es ist wahr!“ sagte der Greis. „Es hat gegeben solche Rabbiner. Vielleicht war Geyer auch einer von ihnen. Das weiß ich nicht. Da muß ich Steinecken glauben. Aber es hat gegeben solche Rabbiner, es hat gegeben solche…“ Er setzte sich erschöpft nieder.

Steineck aber, in dessen Munde die Worte sich zu überstürzen anfingen, da er einmal im Zuge war, sprach:

„Die Rabbiner des nächsten Vorteils haben uns das Leben sauer gemacht, und das tut der auch jetzt. Damals, in unserer schweren Anfangszeit, hat er gar nicht wollen, daß von Palästina gesprochen wird. Jetzt ist er palästinensischer, als wir alle. Er ist der Patriot, er ist der Nationaljude — wir sind die Fremdenfreunde, und wenn wir ihm noch lange zuhören, sind wir die schlechten Juden oder gar auch Fremde in seinem Land Palästina. Ja, das ist es: er will uns absondern von der Gemeinschaft. Mißtrauen sät er zwischen euch und uns. Die Augen verdreht er, der fromme Mann, und dabei lugt er scharf aus nach dem nächsten Vorteil. Früher, im Ghetto, waren die Reichen in der Gemeinde die Einflußreichen, da hat er nach dem Munde der Reichen gesprochen. Den Reichen war die nationale palästinensische Idee unbequem, da hat er also das Judentum in ihrem Sinn ausgelegt. Da hat er gesagt, daß das jüdische Volk nicht heimkehren darf, weil das den Herren Kommerzienräten und Hochbankiers die Kreise gestört hätte. Da haben er und seinesgleichen die Fabel von der Mission des Judentums erfunden. Das Judentum sollte dazu da sein, den Völkern Lektionen zu geben. Darum mußten wir in der Zerstreuung leben. Wenn uns die Völker nicht ohnehin gehaßt und verachtet hätten, so hätten sie uns schon wegen einer solchen Arroganz auslachen müssen. Und Zion war nicht Zion! Die Wahrheit aber war, daß wir keine Lektionen gegeben, sondern bekommen haben, Tag für Tag, fort und fort, blutige, schmerzliche Lektionen — bis wir uns ermannt haben und bis wir noch einmal den Weg aus Mizraim heraus gesucht und gefunden haben. Ah, freilich, dann ist auch Herr Dr. Geyer nachgekommen, mit seiner alten Arroganz und Scheinheiligkeit. Und in den jüdischen Gemeinden sieht es jetzt auch, Gott sei Dank! anders aus. Nicht mehr die Reichen machen das Gesetz, sondern alle. Die Vorsteherschaft in den Gemeinden ist jetzt nicht mehr eine Prämie für gute Geschäfte, wie es ehemals der Fall war. Die Vorsteher werden jetzt nicht nach ihrem Reichtum, sondern nach ihrer Achtbarkeit und Tüchtigkeit gewählt. Da muß natürlich den Instinkten der Menge geschmeichelt werden. Da muß natürlich eine Theorie für den nächsten Vorteil der Menge gefunden werden, — oder wenigstens für das, was die Menge als ihren nächsten Vorteil ansieht, und darum wird das Schlagwort gegen die Fremden ausgegeben. Ein Nichtjude soll in die neue Gesellschaft nicht aufgenommen werden. Je weniger Leute sich an die Schüssel setzen, desto mehr fällt an einen ab. Ihr glaubt vielleicht, daß das euer nächster Vorteil ist. Aber es ist nicht wahr. Verarmen würde das Land und verdorren, wenn ihr diese blödsinnige, engherzige Politik macht. Wir sehen und fallen mit dem Grundsatz, daß wer sich zwei Jahre in den Dienst der neuen Gesellschaft gestellt hat, wie es vorgeschrieben ist, wenn er sich diese zwei Jahre ordentlich aufgeführt hat, Mitglied werden kann, welcher Nation oder Konfession er auch immer angehören mag. Und darum sage ich euch, daß ihr daran festhalten sollt, was uns großgemacht hat, am Freisinn, an der Duldung, an der Menschenliebe. Zion ist nur dann Zion! Ihr werdet einen Delegierten zum Kongreß wählen. Wählet einen, der nicht an den nächsten Vorteil denkt, sondern an den dauernden. Wenn ihr aber einen Geyerianer wählt, so seid ihr nicht wert, daß euch die Sonne unseres heiligen Landes scheint. So. Ich habe gesprochen.“

Der Beifall war nicht groß. Einigemale hatte der Redner wohl Eindruck auf seine Zuhörer gemacht, aber der Schluß hatte sie, wie man deutlich sehen konnte, verstimmt. Nur einem hatten gerade die Schlußworte gefallen, und er sagte es auch dem Architekten, der sich in Schweiß gebadet neben ihn hinsetzte. Dieser eine war Mr. Kingscourt, doch besaß dieser kein Stimmrecht in Neudorf.

 

Drittes Kapitel

„Will noch jemand reden?“ fragte Friedmann, der Vorsitzende.

„Ich!“ schrie Mendel und war mit einem Satz auf der Rednerbühne.

„Der Herr Architekt Steineck hat uns e Red‘ gehalt’n. Me kenn sag’n, es war e scheene Red‘, me kenn auch sag’n, es war a grobe Red‘. Ich sag‘, es war e grobe Red‘.“

Friedmann fiel ihm ins Wort:

„Du, Mendel, beleidigen wirst du nicht! Das erlaub‘ ich nicht.“

Aber Mendel entgegnete:

„Beleidigen? Wer beleidigt? Er hat uns beleidigt. Er hat gesagt, mir sein nit wert, daß uns bescheint de Sonn‘. Worum sein mir es nit wert? Weil mir nit woll’n ereinlass’n e jed’n. Wer hat sech geplagt un gerackert mit den Boden? Mir! Wer hat erausgeklaubt de Staner? Mir! Wer hat, ausgetrocknet de Sümpf, gegrab’n de Kanal‘, gepflanzt de Bäum‘, wer hat geschwitzt un gefror’n, bis dos alls fertig war? Mir, mir, mir! Un jetzt auf amol soll es nix uns gehörn? Na, dos is ka Red‘. Mir sennen ehergekummen, da war hier nix, gar nix. Jetzt is da e Musterwirtschaft. Da drin steckt unser Schweiß un Blut un unsere Arbeit. Dos mit’n nächsten und dauernden Vorteil, dos versteh‘ ech nit. Vielleicht versteht’s Etz es besser? Was den Dr. Geyer betrefft, der liegt mir stark auf. Was er früher gesogt hat, liegt mir auch stark auf. Aber jetzt hat er recht, dos waas ech. Wos mir uns geschafft hob’n mit unsere Händ, dos muß uns bleib’n, dos lass’n mir uns nit wegnemmen, von niemanden. So! Mehr hob ech nit zu sog’n.“

Schüchterner Beifall regte sich in der Menge, aber man hielt sich offenbar aus Rücksicht auf die Gäste von einem lauten Ausbruch zurück.

Nachdem Mendel abgegangen war, schritt David Littwak zur Tribüne. Sein Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck, als er mit klarer, weithin vernehmbaren Stimme anfing:

„Meine Freunde! Ihr werdet mich anhören. Ihr wißt, ich bin aus eurem Blut. Ich habe wie ihr auf dem Felde gearbeitet, an meines Vaters Seite. Ich habe mich etwas höher hinaufgeschwungen, aber ich kenne die Schmerzen und Freuden des Landmannes. Ich weiß, wie euch zu Mut ist, und dennoch sage ich euch, daß Mendel nicht recht hat.

Vorerst denkt niemand daran, euch etwas wegzunehmen, was euch gehört. Wenn das einer versuchen wollte, würde ich bis zu meinem letzten Atemzuge an eurer Seite kämpfen. Nein, es handelt sich gar nicht darum, eure guten erworbenen Rechte zu schmälern. Die Früchte eurer Arbeit sollen euch bleiben und werden sich mehren. Die Frage steht anders, ganz anders, als man es euch sagte.

Mendel ist guten Glaubens, aber er irrt sich. Vor allem irrt er sich darin, wenn er meint, daß alles, was wir sehen können, das Werk eurer Hände ist. Eure Hände haben es gemacht, aber eure Köpfe haben es nicht erdacht. Ihr seid zwar, gottlob! nicht so unwissend, wie es die Bauern früherer Zeiten und anderer Länder waren, aber doch kennt ihr die Herkunft eurer eigenen glücklicheren Verhältnisse nicht. Was ist Neudorf? Wer es zum erstenmal sieht, ohne die Geschichte der Niederlassung zu kennen, der wird sich höchstens wundern oder freuen, daß an der alten Römerstraße nach Tiberias, im Wadi Rummane diese blühende Ortschaft entstanden ist. Ich bin heute mit zwei fremden Herren herausgefahren, und ich war stolz, ihnen unsere Herrlichkeiten zeigen zu können, unsere Felder, auf denen jetzt die Gerste blüht, unsere Weiden und Baumschulen, unsere grünen Gärten, unsere schmucken Häuser, unsere Zuchttiere und Maschinen, unsere Bewässerungen und unsere eroberten Moore. Ich sage unser, obwohl mir keine Spanne Feld und kein Stück Vieh gehört. Alles ist euer, aber ich fühle mich da so zu Hause, daß ich ‚unser‘ sagen kann.

Und wenn mich die Herren fragen, wer das alles in zwanzig kurzen Jahren hervorgezaubert hat, so werde ich ihnen genau so wie Mendel antworten: Wir, wir, wir!

Ja, aber wie? Sind wir einfach hergegangen und haben mit unseren Händen gearbeitet, wie Mendel sagt? Mit unseren ungeschickten Händen, die früher so wenig die Feldarbeit gewohnt waren? Wie konnten wir solche Resultate erzielen, die man früher hier nie erzielt hat? Wenigstens hat man sie nie erzielt, bevor die deutschen protestantischen Bauern am Ende des neunzehnten Jahrhunderts hierherkamen und einzelne Kolonien gründeten. Und diesen Tüchtigsten der Tüchtigen haben wir es gleichgetan, haben sie sogar überflügelt Wie ist das zugegangen?

Es ist wahr, ihr habt gearbeitet, mit der ganzen Begeisterung, die wir Juden für unsere heilige Erde haben. Für andere war das ein unergiebiger Boden, für uns war es ein guter, weil wir ihn mit unserer Liebe düngten. Unsere ersten ruhmreichen Kolonisten haben das schon vor dreißig Jahren gezeigt. Und doch waren jene Ansiedelungen ökonomisch nicht viel wert, weil sie nach einem falschen Prinzip errichtet waren. Die dort drüben konnten mit all ihren modernen Maschinen doch nur das alte Dorf machen. Ihr aber habt das neue Dorf, und das ist nicht allein eurer Hände Werk, meine Freunde!

Und ihr werdet es für einen Scherz halten, wenn ich euch sage, daß Neudorf gar nicht in Palästina gebaut worden ist, sondern anderswo. Es ist gebaut worden in England und Amerika, in Frankreich und in Deutschland. Es ist entstanden aus Erfahrungen, Büchern und Träumen. Die mißglückten Versuche von Praktikern wie von Phantasten mußten euch zur Lehre dienen, ihr wißt es gar nicht.

Ehemals gab es Bauern, die so fleißig waren wie ihr und doch auf keinen grünen Zweig kommen konnten. Der Bauer alten Stils kannte seinen eigenen Boden nicht. Er wußte nicht, was in seiner Erde stak, denn er war zu beschränkt, um die Scholle chemisch untersuchen zu lassen. Er schwitzte nur darauf los, wandte mehr Kraft auf, als nötig war, oder an der unrichtigen Stelle oder mit ungeeigneten Mitteln. Der alte Bauer konnte nicht ökonomisch arbeiten, weil er wie im Nebel nicht drei Schritte vor sich hin sah. Brauchte er für Verbesserungen Kredit, geriet er in Wucherschulden, so daß auch der beste Ertrag schon auf dem Halm hin war. Gegen Hagelschlag und Ungezieferplage war er nicht versichert. Zur Bewässerung und Entwässerung des Bodens reichte seine einzelne Kraft nicht aus. Bei Mißwachs kam er ins Elend und eine gute Ernte machte ihn nicht reich, weil er den Weltmarkt nicht aufsuchen konnte. Er hatte zu wenig oder zu viele Arbeitskräfte. Seine hungrigen Kinder konnte er nichts lernen lassen, und so wuchsen sie in derselben Dumpfheit auf, wie er selbst und seine Vorfahren. Und als die neuen Verkehrsmittel aufkamen, da schien es, als wären alle nur für den Untergang der alten Bauern ersonnen. Der Ackerbau wurde in jungfräulichen Ländern großwirtschaftlich. Die Maschinen machten den großen Grundbesitzer noch reicher und den kleinen noch ärmer. Eine neue Hörigkeit entstand. Der freie Bauer mußte Knecht werden und seine Kinder wanderten als Lohnsklaven in die Gefangenschaft der Fabrik.

Im Bauernstande war die alte Gesellschaft an ihrer breiten Grundlage getroffen, und viele rechtschaffene Männer haben darüber geseufzt, haben studiert und probiert, wie man es bessern könnte. Alle Hilfsmittel der Wissenschaft und Erfahrung wurden aufgeboten. Das eine war jedem klar, daß im Zeitalter der Maschinen die Grundbedingungen der menschlichen Existenz unserer neuen Kenntnis der Naturkräfte angepaßt werden mußten. Das neunzehnte Jahrhundert war ein merkwürdig hinkendes Zeitalter.

Im Anfange dieser kuriosen Zeit nahm man die konfusesten Schwärmer ernst und hielt die praktischsten Erfinder für verrückt. Der große Napoleon glaubte nicht, daß das Dampfschiff Fultons etwas Nützliches sei. Hingegen gewann der verworrene Fourier gleich einen Anhang für seine Phantastereien, die den Wohn- und Arbeitsort für einige hundert Familien bilden sollten. Stephenson, der Begründer der Eisenbahn, und Cabet, der Träumer von Ikarien, waren Zeitgenossen. So könnte ich euch noch viele Namen nennen, die ihr vielleicht zum erstenmal hört.“

Alle hatten diesen Worten, die mehr ein belehrender Vortrag als eine Volksrede sein wollten, ruhig gelauscht. Jetzt, in der Atempause Davids, erhob sich Mendel und sagte höflich, aber laut:

„Zu der Sach‘! Wos hat dos mit unser Neudorf zu schaff’n?“

David entgegnete gelassen:

„Sehr viel, meine Freunde!

Jeder neuen Maschine pflegte in diesem kuriosen neunzehnten Jahrhundert ein neuer sozialistischer Traum zu antworten. Dieses Jahrhundert ist mir immer wie eine große Fabrik erschienen, in der sinnreiche Apparate von unglücklichen Menschen bedient wurden. Aus dem Fabrikschlote stiegen Rauchwolken in den Himmel, der früher blau gewesen. Diese wunderlich geformten, unbestimmten, zerfließenden Rauchwolken aber stellten die Zukunftsverheißungen der Sozialisten dar. Und wenn die seufzenden Menschen hinaufblickten, sahen sie nicht mehr ihren Himmel von einst, sondern die fabrikrauchgeborenen Wolken eines Zukunftsstaates.

Es gab auch rosigere Wolken, zum Beispiel die berühmte Wolke des Amerikaners Bellamy, der in seinem ‚Rückblicke aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887‘ eine edle kommunistische Gesellschaft darstellt. Dort kann jeder aus der allgemeinen Schüssel so viel essen, als er mag. Der Wolf weidet neben dem Lamm. Schön, sehr schön! Nur sind dann die Wölfe keine Wölfe und die Menschen keine Menschen mehr. Nach Bellamy kam der Staatsromantiker Hertzka und entwarf seine Utopie ‚Freiland‘, ein sehr brillantes Zauberkunststück, vergleichbar dem unerschöpflichen Hute des Taschenspielers. Es sind schöne Träume oder wenn ihr wollt Luftschiffe, aber lenkbar sind sie nicht. Denn diese edlen und menschenfreundliche Erzähler begannen ihre sinnreichen Werke mit einem Beweisfehler. Die Gelehrten unter euch — ich weiß, daß es auch in Neudorf wie vor dreißig Jahren in Katrah gelehrte Bauern gibt —, die werden mich verstehen, wenn ich sage, daß die Erzähler jener Utopien eine petitio principii begingen. Sie bewiesen mit etwas, das erst zu beweisen war: nämlich, daß die Menschen bereits die Reife und Freiheit des Urteils hätten, welche zur Einrichtung einer anderen Gesellschaft nötig sind. Oder vielleicht waren sie sich darüber klar, und es fehlte ihnen nur der feste Punkt, an dem Archimedes den Hebel einsetzen wollte. Sie glaubten, die Maschinerie sei das Wichtigste, um etwas Modernes zu schaffen. Nein, die Kraft ist es, nach wie vor die Kraft, immer nur die Kraft. Freilich, wenn ich einmal über die Kraft verfüge, dann werde ich sie durch die neuesten Erfindungen im Maschinenwesen aufs höchste ausnützen. Wir aber, wir hatten diese Kraft. Woher hatten wir sie? Aus dem ungeheuren und allseitigen Druck, der auf uns ausgeübt wurde, aus der Verfolgung, aus der Not. Das trieb die Zerstreuten zusammen und machte ihre Vereinigung stark, denn es waren nicht nur Arme, sondern auch Mächtige, nicht nur Junge, sondern auch Weise, nicht nur Enthusiasten, sondern auch Gebildete, nicht nur Hände, sondern auch Köpfe dabei. Ein Volk, ein ganzes Volk fand sich zusammen, nein, fand sich wieder. Und wir haben die neue Gesellschaft gemacht, nicht weil wir bessere Menschen waren, sondern nur ganz einfach Menschen mit den gewöhnlichsten menschlichen Bedürfnissen nach Luft und Licht, nach Gesundheit und Ehre, nach Freiheit im Erwerben und Sicherheit im Besitze. Und da wir ans Bauen gehen mußten, haben wir uns eben das Haus von 1900 und nicht etwa das Haus von 1800 oder von 1600 oder aus irgend einer früheren Epoche gebaut. Das ist doch alles selbstverständlich und klar. Wir hatten dabei kein großes Verdienst, wir leisteten nichts Ungewöhnliches, wir taten nur, was zu tun in unserer Zeit, unter unseren Umständen eine historische Notwendigkeit war.“

Mendel wurde ungeduldig und lärmte:

„Zu der Sach‘! Zu der Sach‘!“

David sagte freundlich:

„Ich bin gleich zu Ende, denn ich will euch nur euren Anfang zeigen. Euer Anfang wäre nicht möglich gewesen, ohne die riesige sozialpolitische Arbeit, welche im neunzehnten Jahrhundert geleistet wurde. Einzelne Juden haben sich an dieser Arbeit beteiligt, aber keineswegs Juden allein. Was aus den gemeinsamen Anstrengungen hervorging, darf keine Nation als ihr Eigentum ausgeben. Es gehört allen Menschen. Wer dankbar oder wißbegierig ist, wird vielleicht nach den Pfadfindern auf diesem glücklicheren Wege der Menschheit fragen. Dem angelsächsischen Stamme, meine Freunde, gebührt da der oberste Ruhm. Denn bei den Engländern finden wir zuerst die Ansätze des genossenschaftlichen Wesens, das wir übernommen und fortentwickelt haben. Die deutsche Wissenschaft hat auch ihr tiefes Wort dazugegeben. Wenn jemand von euch darüber mehr wissen will, so werde ich ihm die Bücher zur Geschichte der Kooperation in England, Deutschland und Frankreich zeigen.“

Ein junger Bauer erhob seine Hand, als wenn er zu sprechen wünschte. Friedmann sah ihn und fragte laut:

„Was willst du, Jakob?“

Der Jüngling errötete, weil er nachträglich über seine Kühnheit erschrak, und sprach in bescheidenem Tone:

„Ich hab Herrn Littwak nur sagen wollen, daß wir in der Gemeindebibliothek die Geschichte der Pioniere von Rochdale haben.“

„Geben Sie sie Herrn Mendel zu lesen“, antwortete ihm David. „Es ist eine schöne, lehrreiche Geschichte. Die redlichen Pioniere von Rochdale, wie man sie nannte, haben viel für euch getan. Das heißt, sie haben für die ganze Menschheit viel getan — obwohl sie nur an sich selbst dachten. Wenn ihr heute in euren Konsumverein geht und die besten Waren zum billigsten Preise bekommt, so habt ihr das den Pionieren von Rochdale zu verdanken. Und wenn euer Neudorf heute eine blühende landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft ist, so habt ihr das den armen Märtyrern von Rahaline in Irland zu verdanken. Auch diesen war es nicht klar, welche weltgeschichtliche Tat sie vollbrachten, als sie im Jahre 1831 das erste neue Dorf der Welt mit Hilfe ihres Gutsherrn Mr. Vandaleur begründeten. Ja, es vergingen viele Jahrzehnte, bevor die Gelehrtesten und Klügsten die Idee von Rahaline begriffen. Rochdale mit dem Konsumverein wurde viel früher verstanden, als Rahaline mit dem neuen Dorf auf genossenschaftlicher Grundlage. Als aber wir unsere neue Gesellschaft einrichteten, da legten wir natürlich gleich das neue Dorf an, statt des schlechten alten. Nichts ist hier in Neudorf, was nicht schon in Rahaline war. Der ganze Unterschied ist, daß an Stelle des Mr. Vandaleur hier die große Vereinigung steht, deren Mitglieder ihr auch wieder seid: nämlich die neue Gesellschaft.“

Wieder hob jener junge Bauer die Hand auf, und als der Redner erstaunt einhielt, sagte er bescheiden:

„Wollen Sie uns nicht die Geschichte von Vandaleur und Rahaline sagen, Herr Littwak?“

„Gern, meine Freunde! … Zu jener Zeit war Irland ein armes Land mit der unglücklichsten Bevölkerung. Die Landpächter waren Lumpenproletarier, ja sogar Diebe und Mörder geworden. Es gab da einen Gutsherrn, welcher Vandaleur hieß. Der hatte eine besonders ungestüme Pächterschaft auf seinen Gütern. Anfangs 1831 war das Elend sehr groß. Die Landleute begingen aus Not einige scheußliche Verbrechen. Mr. Vandaleur hatte einen Verwalter, der wegen seiner Strenge bei den Arbeitern verhaßt war, und in ihrer Verzweiflung ermordeten sie diesen rohen Vogt. Was tat nun Vandaleur? Etwas Großes. Statt die Leute noch härter zu behandeln, verfiel er auf den übermenschlichen Gedanken, ihnen Gutes zu tun. Er rief die trotzigen und verwahrlosten Männer zusammen, vereinigte sie zu einer Arbeitergenossenschaft und gab dieser Genossenschaft sein Gut Rahaline in Pacht. Der Zweck dieser Vereinigung war, daß sie ein gemeinsames Kapital benutzen, sich gegenseitig unterstützen, eine bessere Lebensweise führen und ihre Kinder ordentlich erziehen sollten. Die Vorräte und Werkzeuge der Wirtschaft sollten so lange Eigentum des Grundherrn Mr. Vandaleur bleiben, bis sie von der Genossenschaft ihre Reinerträge in einen Reservefonds bringen. Die Genossenschaft verwaltete sich selbst. Ein Komitee wurde von den Mitgliedern frei gewählt, es bestand aus neun Männern. Jeder dieser neun Räte hatte eine Abteilung unter sich: der eine die Landwirtschaft, der andere die Manufaktur, der dritte die Handelsgeschäfte, der vierte die Jugenderziehung, und so weiter. Die täglichen Arbeiten wurden vom Komitee bestimmt. Jeder mußte mitarbeiten nach seinen Kräften. Der Lohn, der den Mitgliedern von der Genossenschaft ausgezahlt wurde, war der in der Gegend übliche. Von ihrem Lohn mußten sie geringe Abgaben an den Krankenfonds und dergleichen leisten. Sie waren scheinbar Lohnarbeiter eines Pächters, aber der Pächter waren sie selbst. Mr. Vandaleur behielt sich nur die Oberaufsicht bei diesem Versuche vor. Und der Versuch gelang wunderbar gut. Mr. Vandaleur bezog aus Rahaline mehr Rente und Zinsen, als je vorher. Und die Arbeiter, die im tiefsten Elend gelebt hatten, begannen plötzlich, ohne jeden Übergang, wie von einem Zauberstabe berührt, zu gedeihen. Sie arbeiteten mit Lust und Erfolg. Sie wußten, daß sie es für sich selbst taten, und das gab ihnen Wunderkräfte. Dieselben Männer von Rahaline, die ihren Vogt ermordet hatten, verrichteten die größten Arbeiten ohne Aufseher. Denn sie beaufsichtigten sich gegenseitig. Über die Arbeitsdauer und Leistung eines jeden Arbeiters wurde Buch geführt, und am Ende der Woche erhielt jeder so viel, wie er wirklich verdient halte. Keine Gleichheit im Verdienst! Dem Tüchtigen mehr, dem Faulen weniger!“

„Bravo!“ schrie hier jemand aus der Menge, und man lachte ein bißchen.

David aber fuhr fort:

„Es wurde bald festgestellt, daß ein Arbeiter von Rahaline im Durchschnitt doppelt so viel leistete, wie ein Arbeiter der Umgegend. Und es war doch derselbe Boden, es waren dieselben Menschen. Aber sie hatten das erlösende Prinzip gefunden: die landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft. Die Lohnzahlung erfolgte nicht in Geld, sondern in Arbeitsnoten, die nur im Kramladen von Rahaline Kurs hatten. Aber alles, was sie brauchten, bekamen sie in ihrem Kramladen, der auch der Genossenschaft gehörte. Der Laden führte nur Waren bester Qualität zu Engrospreisen. Die Geschichtsschreiber melden uns, daß die Leute von Rahaline in ihrem Laden alles um fünfzig Prozent billiger bekamen. Jedes Mitglied war steter Beschäftigung und desselben Betrages aus dem Unterhaltungsfonds an jedem Tage des Jahres sicher. Die Kranken und Invaliden fanden Unterhalt und Pflege. Beim Tode des Vaters war für die Kinder gesorgt … aber ich will auch da nicht lange erzählen, was ihr in Büchern besser finden könnt. Ich werde euch lieber die Bücher von Webb-Potter, Oppenheimer, Seifert, Huber und wie sie alle heißen, für eure Bibliothek schicken.“

Noch einmal ließ sich der bescheidene junge Arbeiter vernehmen:

„Herr Littwak, wie ist es dann in Rahaline weitergegangen?“

David entgegnete:

„Im Laufe von nur zwei Jahren blühte Rahaline außerordentlich auf. Wohnungen und Möbel, Essen, Kleidung, Lebenshaltung und Kindererziehung zeigten den Wohlstand gesunder Bauern. Die jährlichen Reinerträge über die Pachtsumme wuchsen, und die Genossen von Rahaline wären wohl nach kurzen Jahren die Eigentümer des Pachtgutes geworden — wenn Mr. Vandaleur sein eigenes Werk nicht im Stiche gelassen hätte. Vandaleur verlor sein Vermögen am Spieltisch in Dublin, und er entfloh nach Amerika. Seine Gläubiger verkauften Rahaline, die Pachtgenossen wurden vertrieben, und die glückliche Insel versank wieder in einem Meer von Elend … Aber die Lehre von Rahaline ging nicht verloren. In der Wissenschaft wurde sie aufbewahrt, und als wir unser Volk auf den geliebten Boden von Palästina zurückführten, da haben wir Tausende von Rahalines geschaffen. Ein Vandaleur wäre dazu nicht stark und verläßlich genug gewesen. Es mußte eine große mächtige Gesamtperson sein. Und diese Gesamtperson ist unsere neue Gesellschaft. Die ist euer Gutsherr, die hat euch das Land und die Arbeitsmittel verschafft, denen ihr euren jetzigen Wohlstand verdankt. Aber auch die neue Gesellschaft hat das alles nicht aus sich selbst, hat es nicht nur aus den Köpfen ihrer Führer oder aus den Taschen ihrer Gründer. Die neue Gesellschaft beruht vielmehr auf den Ideen, die ein gemeinsames Produkt aller Kulturvölker sind. Versteht ihr jetzt, meine lieben Freunde, was ich meine? Es wäre unsittlich, wenn wir einem Menschen, woher er auch komme, welchen Stammes oder Glaubens er auch sei, die Teilnahme an unseren Errungenschaften verwehren wollten. Denn wir stehen auf den Schultern anderer Kulturvölker. Schließt einer sich uns an, erkennt er unsere Gesellschaftsordnung an, nimmt er die Pflichten unserer Gemeinschaft auf sich, dann soll er auch alle unsere Rechte voll genießen. Was wir besitzen, verdanken wir den Vorarbeiten anderer. Darum gehört es sich, daß wir unsere Schuld abzahlen. Und dafür gibt es nur einen Weg: die höchste Duldung. Unser Wahlspruch muß jetzt und immer lauten: Mensch, du bist mein Bruder!“

Der alte Rabbi Samuel erhob sich und mit seinen zitternden Händen klatschte er dem Redner Beifall. Die Menge folgte diesem Beispiel; sie jubelten David zu, der die Tribüne verlassen wollte. Aber Mendel schrie mit gewaltiger Stimme:

„Dann werd’n uns die Fremden unser Brot wegessen.“ David kehrte auf den Stufen um, winkte der Menge zu, daß er noch etwas zu sagen habe:

„Nein, Mendel, das ist ein Irrtum! Die später kommen, machen euch nicht ärmer, sondern reicher. Der Reichtum eines Landes sind seine arbeitenden Menschen. Das wißt ihr ja von euch selbst. Je mehr Arbeiter kommen, um so mehr Brot gibt es, wenn die Gesellschaftsordnung so gerecht ist wie die unsrige. Natürlich sollt ihr den später Kommenden nicht eure guten Felder, nicht eure erworbenen Rechte ausliefern. Aber so wie es für Neudorf gut ist, wenn immer mehr Ansiedlungen an seinem Rand entstehen, so ist es auch für die neue Gesellschaft. Jeder muß die Güter schaffen, die er genießen will. Und je mehr Güter geschaffen werden, desto mehr besitzt unsere Gemeinschaft. Die älteren von euch, die die Geschichte von Neudorf tätig miterlebt haben, wissen das aus eigener Erfahrung. Zuerst waren hier einige zwanzig Familien. Ich frage: war es für die schlecht, daß allmählich noch dreißig, noch fünfzig, noch hundert Familien hinzugekommen sind? Ich frage: sind die ersten Ansiedler ärmer oder reicher geworden?“

Stürmisch erscholl die Antwort der Leute, die ihn erst jetzt völlig verstanden:

„Littwak hat rechtl Es geht jetzt allen besser. Ja, besser!“

David schloß: „Da habt ihr also die Antwort. Was bisher gegolten hat, gilt noch weiter. Je mehr Menschen kommen, um zu arbeiten, desto besser wird es allen gehen. Darum sollen wir nicht nur aus Nächstenliebe rufen: Mensch, du bist mein Bruder! Wir müssen auch aus Eigennutz sagen: Bruder, du bist willkommen! … Die älteren von euch wissen, wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen hat, wie öd und wüst. Die ersten Ansiedler haben das beste Land besetzt. Die zweiten haben minderes genommen und es auch gut gemacht. Immer schlechteres Land haben die späteren bekommen und haben es urbar gemacht, steiniger Boden wurde fruchtbar, Sümpfe wurden ausgetrocknet. Denn an den Grenzen einer Niederlassung übt auch schlechter Boden eine Anziehungskraft aus. Und heute ist Neudorf ein Garten, ein weiter, herrlicher Garten, in dem es gut zu leben ist. Aber alle eure Pflanzungen sind nichts wert, und sie werden verdorren, wenn bei euch Freisinn, Großmut und Menschenliebe nicht gedeihen. Die sollt ihr hegen und pflegen, die sollen bei euch blühen. Und weil ich das von euch erwarte, darum rufe ich: Hoch! Hoch! und noch einmal hoch Neudorf!“

Jetzt war die Begeisterung da. „Hoch Littwak! Hoch Neudorf!“ schrien die Männer und Frauen. Sie hoben den Redner, der sich lachend vergebens dagegen sträubte, auf ihre Schultern und trugen ihn im Kreise herum.

An diesem Tage verlor Dr. Geyer die Stimmen der Wähler von Neudorf.

 

Viertes Kapitel

Die Reisegesellschaft besichtigte dann noch die musterhaften landwirtschaftlichen Einrichtungen von Neudorf. Mr. Kingscourt interessierte sich besonders für die chemische Versuchsstation und das moderne Maschinenhaus der Gemeinde. Friedrich Löwenberg verweilte länger in der Volksschule und in der mit populärwissenschaftlichen Werken reich versehenen öffentlichen Bibliothek. Mirjam, die als Lehrerin Bescheid wußte, gab ihm über alles Auskunft. Er war zuerst froh erstaunt, aber je mehr er von den schönen und nützlichen Vorkehrungen für die geistige und körperliche Hebung des heranwachsenden Geschlechtes erfuhr, um so trauriger wurde seine Miene, und endlich seufzte er tief.

„Was haben Sie, Herr Doktor?“ fragte Mirjam freundlich.

„Es fällt mir schwer aufs Herz, Fräulein Mirjam! Ich sehe jetzt, daß ich eine Pflicht versäumt habe. Ich hätte mittun können, mittun müssen an diesem wundervollen Werke der Volksaufrichtung. Ich war einer von den Gebildeten und hätte verstehen müssen, was in der Zeit sich vorbereitete. Aber nein, ich war nur mit meinen eigenen jämmerlichen Schmerzen beschäftigt. Ich lief davon, ich verbrauchte zwanzig Jahre in der dümmsten Nutzlosigkeit. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mir zu Mute ist. Ich – ich schäme mich.“

Sie wollte begütigend abwehren.

„Nein, Fräulein Mirjam, versuchen Sie nicht, mich zu trösten. Sie, mit Ihrem nützlichen Leben, Sie können mir nur aus Erbarmen widersprechen, nicht aus Überzeugung. Ich schäme mich meiner Untätigkeit, meines Egoismus. Ein gebildeter Jude meiner Zeit hatte die Pflicht, sich seines armen Volkes anzunehmen. Diese Pflicht habe ich schmählich versäumt. Beklagen Sie mich, Fräulein Mirjam, aber verachten Sie mich wenigstens nicht!“

„Verachten? Wie könnte ich das?“ erwiderte sie mit ihrer weichen Stimme. „Sie, den Wohltäter unseres Hauses verachten?“

„Ach, bitte, sprechen Sie nicht mehr davon!“ sagte er. „Sie demütigen mich nur, wenn Sie mich loben. Ich weiß ja zu gut, daß ich kein Lob verdiene. Es gibt eine Pflicht der Intellektuellen, wie es in alten Zeiten ein Noblesse oblige gab. Es ist die Pflicht, an der Erhöhung des Menschengeschlechtes mitzuwirken, jeder nach seiner Kraft und Einsicht! Mit all Ihrer Güte, Fräulein Mirjam, werden Sie mir nicht begreiflich machen können, daß ich mir keinen Vorwurf zu machen habe.“

„Ist es denn schon zu spät?“ gab sie zur Antwort. „Sie können ja noch in die Reihen der neuen Gesellschaft eintreten. Man wird Ihnen einen Platz anweisen, wo Sie sich betätigen können. Bei uns ist jede Kraft willkommen. Sie hörten es von meinem Bruder. Und wie gern wird man Sie aufnehmen!“

„Glauben Sie das wirklich, Fräulein Mirjam?“ sagte er beglückt. „Es wäre noch nicht zu spät?. Ich könnte noch ein nützlicher Mensch werden?“

„Gewiß!“ lächelte sie. In ihm wallten Hoffnungen auf. Er fühlte sich plötzlich verjüngt, er sah ein neues Leben vor sich auftauchen. Aber dann fiel es ihm ein, und er seufzte stärker:

„Ach nein, Fräulein Mirjam! Es wäre zu schön. Ich kann nicht tun, wie ich‘ wollte. Ich darf nicht hierbleiben. Ich bin nicht frei.“

Da wurde sie um einen Schatten blässer, und ihre Stimme zitterte leicht:

„Sie sind nicht frei?“

„Nein, ich bin für Lebenszeit an jemanden gebunden.“

Sie sagte tonlos: „Darf man wissen, wer es ist?“

„Mr. Kingscourt!“ Und er setzte ihr sein Verhältnis zu dem Alten auseinander. Er habe sich Kingscourt durch Ehrenwort verpflichtet, ihn nie zu verlassen. Er könne also nicht länger im Lande verweilen, als es seinem Freunde gefiele, und das werde wohl nicht übermäßig dauern.

Mirjams Gesicht hatte sich bei dieser Auskunft aufgehellt. Sie fragte:

„Und wenn Mr. Kingscourt Ihnen Ihr Wort zurückgibt?“

„Er wird es nicht, wenn ich ihn nicht darum bitte. Aber schon eine solche Bitte wäre Treulosigkeit und Undankbarkeit gegen diesen prächtigen Menschen. Ich habe keinen besseren Freund als ihn auf der Welt, und er hat nur mich. Was sollte aus ihm werden, wenn ich ihn verließe?“

„Er müßte eben auch bei uns bleiben!“ meinte Mirjam.

Das hielt Friedrich, wie er den Alten kannte, für ganz und gar ausgeschlossen. Im günstigsten Falle würde Kingscourt noch ein paar Tage oder Wochen im Lande herumreisen, die Sehenswürdigkeiten betrachten, aber dann ginge es unaufhaltsam weiter nach Europa.

Während sie so sprachen, hatten die übrigen ihren Rundgang beendet. Im Hause des Vorstehers Friedmann wurde den Gästen das einfache Mittagsmahl vorgesetzt. Man saß noch ein Stündchen bei Tische und redete allerlei über Neudorfs Vergangenheit und Zukunft. Die meisten Dörfler waren nach der vormittägigen Versammlung zur Arbeit und auf die verstreuten Höfe zurückgekehrt. Nur eine kleine Anzahl von Leuten, die im Kern der Ortschaft wohnten, war bei der Abfahrt des Motorwagens zugegen. Diese schwenkten die Hüte und ließen Tücher flattern, als Davids Gesellschaft zum Dorfe hinausfuhr.

Rechts und links von der Landstraße wohlgepflegte Felder, Wein- und Tabakpflanzungen, Baumschulen, und nirgends mehr ein Fuß breit wüsten Landes. In einiger Entfernung vom großen Wege sahen sie eine Mähmaschine über das Kleefeld streichen. Ab und zu schwankte ein mit Heu hochbeladener Wagen an ihnen vorbei; Heu von Luzerne für Viehfutter. Mirjam erklärte dem in diesen Dingen unbewanderten Friedrich die natürlichen und wirtschaftlichen Vorgänge in der Landschaft, die sie durcheilten. Da und dort lugte schon die Sommersaat, Mais und Sesam, Linse und Wicke aus der Erde. Auf den Brachfeldern durchfurchten elektrische Pflüge den noch vom Winterregen etwas feuchten Boden, um ihn für die nächste Wintersaat vorzubereiten. Der Tabak war gerade aus den Saatbeeten übergepflanzt, und die Leute waren damit beschäftigt, von den zwei Pflänzchen, die der vorsichtige Bauer an jeder Stelle zusammensetzt, das schwächere zu entfernen. Die Hopfenstöcke waren schon in vollem Austreiben, und die Landleute holten sich Eukalyptusäste herbei, um sie als Stützen der Hopfenranken zu benutzen. Andere gebrauchten zu demselben Zwecke Drahtgeflechte. Die aber Äste vom Eukalyptus nahmen, ließen an diesen die Zweige unbeschnitten, damit sich die Hopfenranken auch gut verzweigen könnten und ihre Blüten mehr Schutz vor den Sonnenstrahlen genössen.

Architekt Steineck mischte sich hier ins Gespräch und sang ein begeistertes Loblied auf den Eukalyptus, diesen herrlichen australischen Baum, dessen hundert Arten in unzähligen Schiffsladungen lebend herbeigeschafft worden waren, als die große planmäßige Kulturarbeit in Palästina begann. Ohne den Eukalyptus, der so schnell wächst, der die Sümpfe wie mit Zauberkraft, austrocknet und auch sonst noch, so viele Eigenschaften der Nutzbarkeit und Schönheit hat — ohne den Eukalyptusbaum hätte man vielleicht überhaupt nichts anfangen, gewiß aber keine solchen raschen Kulturerfolge erzielen können.

„Ja“, sagte Frau Sarah scherzend, „Herr Steineck hat dafür auch unseren guten Eukalyptus aus Dankbarkeit in Stein verewigt. Seine Lieblingsornamente an den Häusern sind vom Eukalyptus genommen.“

So fuhren sie weiter, und es war Heiterkeit von der Landschaft in ihrem Gemüte. Denn ein lieber Frühling sproßte um sie her. Alle Raine und Wegränder bedeckt mit herrlichstem Blütenflor, mit kleinen blauen Iris und hochragenden rosenfarbenen Schwertlilien, mit sonnenäugigen Tulpen und prächtigen Orchideen. An manchen Stellen waren in die Felder hinein Pflanzungen von Mandelaprikosen- und Maulbeerbäumen verstreut.

Durch eine romantische Schlucht lief jetzt der Fahrweg. Das waren die Felsen mit den abenteuerlichen Höhlenlöchern, in denen sich einst in verschollenen bösen Tagen die Verteidiger des jüdischen Landes vor ihren Feinden bis zum letzten Kampfe verborgen hatten.

David erinnerte mit einigen bewegten Worten an diese Zeit. Und noch eine kurze Strecke mußten sie fahren, da machte die Straße eine Biegung und vor ihnen lag plötzlich im Nachmittagssonnenglanze die holde Ebene von Genezareth; vor ihnen lag der See. Ein Ausruf des Entzückens entrang sich dem Munde Friedrichs bei diesem unerwarteten und herrlichen Anblick.

Auf der weiten Fläche des Sees von Genezareth zogen viele große und kleine Schiffe ihre leuchtenden Furchen. Segel schimmerten und Messingteile der elektrischen Barken blitzten. Am jenseitigen Ufer und überall im Grün der beforsteten Höhen sah man weiße Villen glänzen. Und hier war Magdala, ein funkelnd neues, zierliches Städtchen mit Gärten, mit schmucken Häusern. Aber die Reisenden fuhren ohne Aufenthalt weiter gegen Tiberias, südwärts am Strande hin. Sie hatten ein Schauspiel von heller Lebensfreude vor sich, etwas, das an die glorreichen Saisontage an der Riviera zwischen Cannes und Nizza erinnerte. Allerlei lustiges Fuhrwerk mit eleganten Leuten trieb vorüber. Zumeist waren es Motorwagen von hübscher Gestalt für zwei, drei und mehr Insassen. Doch sah man auch altertümliche, mit Pferden oder Mauleseln bespannte Karren und zwischendurch Radfahrer, Reiter und auf dem glatten Fußpfade längs des Wassers wohlgelaunte Spaziergänger. Es war das internationale Publikum jener Badeorte, die den modischen Zulauf haben. Kingscourt und Friedrich erfuhren jetzt, daß Tiberias wegen seiner heilkräftigen warmen Quellen und wundervollen Lage von den wohlhabenden Winterflüchtlingen aus Europa und Amerika aufgesucht werde, die gewohnt waren, den ewigen Frühling in Sizilien oder Ägypten aufzusuchen. Sobald die ersten vornehmen Hotels in Tiberias errichtet waren, begann der Fremdenstrom auch hierher zu fließen. Geschickte Schweizer Gastwirte hatten die klimatischen Vorzüge und landschaftlichen Schönheiten der Gegend von Tiberias zuerst erkannt, ausgenützt und dabei glänzende Geschäfte gemacht.

Der Motorwagen fuhr jetzt an einigen dieser Hotels vorbei. Auf den Balkonen saßen Damen und Herren und betrachteten das bunte Schauspiel der Fahrstraße, das heitere Treiben auf dem See. Hinter den Gasthöfen waren Tenniswiesen, auf denen Mädchen und Jünglinge in weißer Tracht Ball spielten. Auf einigen großen Terrassen gab es Musik, ungarische, rumänische und italienische Banden im Nationalkostüm. Dies alles nahmen Davids Gäste nur im Vorübereilen wahr, denn ihr Ziel war ferner. Sie durchfuhren die Stadt Tiberias der Länge nach vom Norden nach Süden, blickten flüchtig in die netten Gäßchen, die sich von der Hauptverkehrsader abzweigten, sahen Plätze mit feinen stillen Palästen und einen orientalisch lebhaften kleinen Hafen. Sie sahen stattliche Moscheen, Kirchen mit dem lateinischen und griechischem Kreuz, und Synagogen in steinerner Pracht. Dann waren sie am Südende der Stadt, wo es wieder Villen und Hotels gab, die sich in schmucker Reihe, nur von Gärten unterbrochen, beiläufig eine halbe Gehstunde weit bis zu einem größeren Haufen von Gebäuden fortsetzten: dort befanden sich die heißen Quellen, die ausgedehnten Badeanstalten.

Ungefähr in der Mitte zwischen der Stadt und den Bädern, vor dem Gitter einer in Laubwerk halb verborgenen Villa machte der Motorwagen halt.

„Wir sind angelangt!“ rief David, indem er seinen Sitz verließ.

Das Gitter öffnete sich. Ein alter Herr trat auf die Steinschwelle, lüpfte mit freudigem Gesichtsausdruck sein Käppchen und fragte:

„David, mein Kind, wo ist er?“

Friedrich wußte nicht, wie ihm geschah. Auch hier, im Hause des alten Littwak, wurde er schon sehnsüchtig erwartet. Es ging dabei freilich nicht mit Wundern zu, denn die fröhlich unerwartete Botschaft von seiner Ankunft war den Eltern Davids und Mirjams durch das Telephon von Friedrichsheim aus mitgeteilt worden.

Und dieser stattlich und frei auftretende alte Mann war jener kümmerliche Hausierer, dem Friedrich einst in dem Wiener Kaffeehause ein Almosen hatte reichen wollen. Welch eine merkwürdige, glückliche Veränderung. Und doch war alles auf die natürlichste Weise von der Welt gekommen. Die Littwaks hatten eben zu den ersten gehört, welche beim Beginn der großen Kulturarbeit hierhergeeilt waren. Sie ernteten die Früchte des wirtschaftlichen Aufschwunges, den sie redlich mitbereiten geholfen hatten.

Aber es gab auch einen Schmerz im Hause, und zu diesem Schmerze wurde Friedrich vor allen Dingen geführt. Das war die kranke Mutter Davids und Mirjams. Oben im ersten Stocke, auf der Veranda, von der man eine so schöne Fernsicht über den See genoß, da lag sie mehr als sie saß in ihrem Lehnstuhle. Sie streckte Friedrich ihre abgezehrte gelbliche Hand entgegen, als er zu ihr hintrat, und ihre schmerzensreichen Augen blickten aus dem wächsernen Gesichte mit unendlicher Dankbarkeit zu ihm auf.

„Ja“, sagte sie nach den einleitenden Begrüßungs- und Dankesworten mit leidender Stimme, „ja, lieber Herr Doktor, Tiberias is schön, und die Bäder sein gut — aber herkommen muß man, solang es noch Zeit is. Bei mir war es schon zu spät! Zu spät!“

Mirjam stand neben ihr und streichelte ihr das Gesicht: „Mutter, du siehst besser aus, seit du hier bist. Die Kur hat dir wohlgetan. Du wirst es erst recht spüren, wenn du wieder zu Hause bist.“

Frau Littwak lächelte wehmütig:

„Mein gut‘ Kind, ich bin schon so auch zufrieden. Ich bin ja beinah schon im Garten Eden. Schauen Sie da hinaus, Herr Doktor, was ich da vor mir hab‘. Nicht wahr, der Garten Eden?“

Friedrich trat, wie sie ihn anwies, an die Brüstung der Veranda und blickte in die Landschaft hinaus. Da schimmerte der See von Genezareth. Vom Frühling weich die Umrisse der Ufer und fernen Höhen. Jenseits die steilen Abhänge des Golan, die sich in den Wassern spiegelten. Am Nordrande des Sees die Mündung des Jordanflusses und dahinter großartig, in schneeiger Majestät der Hermon, wie ein greiser Riese die kleineren Berge, die verjüngten Lande überschauend. Und hier zur Linken, immer näher die milden Buchten, die lieblichen Gestade, die Ebene von Genezareth, Magdala, Tiberias, das neue steinerne Juwel, überragt von den dunklen Mauern der Burgruine auf dem Berge. Und überall ein Grünen und Blühen, eine junge duftende Welt.

„Es ist der Garten Eden!“ sagte Friedrich ganz leise vor sich hin, und als er Mirjam neben sich fühlte, ergriff er unwillkürlich ihre Hand und preßte sie sanft, als ob er ihr dafür danken wollte, daß das Leben noch so schön sei.

Die Kranke sah es von ihrem Lehnstuhl aus. Eine Freude stieg in ihr auf, ihr Herz klopfte stärker.

„Kinder!“ murmelte sie unhörbar, und versank in Träume.

 

Fünftes Kapitel

In der kleinen Villa, welche die alten Littwaks für die Dauer des Kurgebrauches gemietet hatten, konnten die Gäste nicht beherbergt werden. Nur Mirjam wohnte bei ihren Eltern. David hatte für sich und seine Freunde in einem Hotel neben den Badeanstalten Zimmer bestellt. Das Gepäck aller war schon dahin gesendet worden, und als sie nach der Begrüßung von Littwaks Eltern nach ihrem Quartier fuhren, um sich vom Wegstaube zu säubern, da war für sie schon Ordnung und Bequemlichkeit vorbereitet. In der Halle des Hotels wurden sie von einer älteren Dame und zwei Herren freundlich erwartet. David machte diejenigen, die einander noch nicht gesehen hatten, bekannt. Die Dame war eine Jüdin aus Amerika, Mrs. Gothland. Sie hatte etwas so Mildes in ihrer Art, daß jeder von ihr sehr bald bezaubert war. Unter den grauen Haaren hatte ihr gütestrahlendes Gesicht noch immer einen Liebreiz. Von den beiden Herren war der eine, der den klappenlosen schwarzen Schlußrock der anglikanischen Geistlichen trug, der Reverend William H. Hopkins, Seelsorger der englischen Kirchengemeinde in Jerusalem. Er hatte einen langen weißen Prophetenbart, schöne schwärmerische blaue Augen und er freute sich zum größten Erstaunen Kingscourts, als ihn dieser zuerst irrtümlich für einen Juden hielt. Der andere Herr in Mrs. Gothlands Gesellschaft war des Architekten Bruder, der Bakteriologe Professor Steineck, ein lustiger, hastiger und zerstreuter Gelehrter, der so laut sprach, als ob er immerfort mit einem Auditorium von Schwerhörigen zu tun hätte. Mit seinem Bruder geriet er in der Regel nach fünf Minuten Beisammenseins in Streit, obwohl sie einander vergötterten. So geschah es auch jetzt. Der Architekt hatte den Fremden vorgeschlagen, das Institut Steineck, die berühmte Werkstätte seines Bruders, zu besichtigen.

Der Professor sträubte sich dagegen und schrie stirnrunzelnd:

„Ich bin bereit, Sie verstehen? Aber es gibt bei mir nichts zu sehen. Nicht der Mühe wert. Ein Haus mit mehreren Zimmern und Meerschweinchenställen. In jedem Zimmer steht ein Mensch, der experimentiert. Das ist alles. Sie verstehen? Mein Bruder bringt mich immer in solche Verlegenheiten.“

Mrs. Gothland lächelte:

„Die Herren werden Ihnen nicht glauben. Ihr Institut ist als eine Sehenswürdigkeit bekannt.“

Hierauf lachte Professor Steineck, daß es in der Halle dröhnte:

„Falsch! Mikroben wollen Sie sehen? Es ist das Charakteristische der Mikroben, daß man sie nicht sieht, das heißt, nicht mit freiem Auge. Das sind mir schöne Sehenswürdigkeiten. Überhaupt kennt man meinen Standpunkt. Züchte sie nur einerseits und bekämpfe sie andererseits. Sie verstehen?“

„Nein!“ brummte Kingscourt ergötzt. „Kein Wort versteh‘ ich. Es scheint so eine Art chemischer Küche zu sein. Was kochen Sie da eigentlich, Herr Professor?“

Dieser schmunzelte sehr gemütlich:

„Pest, Cholera, Dyphtheritis, Tuberkulose, Kindbettfieber, Hundswut, Malaria…“

„Pfui Deibel!“

Mrs. Gothland sagte:

„Nämlich die Heilmittel gegen alle diese Feinde der Menschheit. Wir wollen ihn aber nicht lange fragen und auch ohne ihn sein Institut besuchen. Fremden von Distinktion ist der Eintritt nicht verboten. Es wird uns schon jemand herumführen.“

„Halt!“ rief der Professor, „so will ich denn in Gottesnamen mitgehen. Sonst stoßen Sie gerade auf meinen dümmsten Assistenten, der Ihnen den Streptokokkenbazillus für den Cholerabazillus ausgibt. Sie verstehen?“

„Kein Wort!“ gestand Kingscourt.

Die Gesellschaft löste sich für ein Weilchen auf. Der Architekt hatte die Pläne eines neuen englischen Spitals, das in der Nähe von Jerusalem erbaut werden sollte, für Mr. Hopkins mitgebracht, und die beiden hatten nun miteinander einiges zu besprechen. Frau Sarah wollte vor allem Fritzchen versorgen. David bat um Urlaub, weil er noch in das Franziskanerkloster müsse, um den Pater Ignaz, einen der zur Feier des heutigen Abends geladenen Gäste, abzuholen. Es wurde verabredet, daß man zum Nachtessen in der Villa des alten Littwak wieder zusammenkomme. Mrs. Gothland übernahm es, die Herren pünktlich hinzuführen, und dann fuhr sie in Begleitung Kingscourts, Friedrichs, Reschid Beys und des Professors nach dem Institut Steineck, das in einer Viertelstunde erreicht war. Es lag südlich am Seeufer, hinter einem Bergvorsprunge und war ein schmuckloses Gebäude von mäßiger Ausdehnung.

Der Professor bemerkte erklärend:

„Wir brauchen für unsere Zwecke kein großes Haus. Mikroben nehmen nicht viel Platz ein. Meine Stallungen befinden sich in den Zubauten, die Sie dort sehen. Ich brauche sehr viele Pferde und anderes Getier. Sie verstehen?“

„Aha, Sie reiten viel aus?“ sagte Kingscourt. „Begreif ich — in dieser prachtvollen Gegend.“

„Was wollen Sie von der Gegend?“ rief Professor Steineck. „Ich brauche die Pferde und Esel und Hunde, kurz, meine ganze Menagerie, zur Herstellung von Serum. Ich erzeuge große Mengen dieser Heilmittel. Meine Ställe reichen bis dort hinunter, wo Sie die Gebäude der Luftfabrik sehen.“

„Wa-as?“ schrie Kingscourt, „verehrtester Pferdevergifter, Sie werden mir doch nicht erzählen, daß hier Luft fabriziert wird. Es gibt doch Luft jenug, sogar janz famose zum Einatmen.“

„Natürlich meine ich flüssige Luft, Mr. Kingscourt! Sie verstehen?“

„Ach so! Das verstehe ich freilich. Das hab‘ ich schon vor meinem Abgang aus der jebildeten Welt in Amerika kennen jelernt. Also diese Industrie habt Ihr auch herbekommen?“

„Diese und jede andere — alle! In der Kälteerzeugung besitzen wir sogar ein gewisses Prestige. Weil wir ein warmes Land haben – wenigstens von hier den Jordan hinunter ist es das ganze Jahr hindurch recht behaglich eingeheizt. Also darum haben wir uns die Kälteindustrien besonders angelegen sein lassen. Sie verstehen? So wie man die besten Öfen in den kalten Ländern hat, während man in Italien im Winter bitterlich friert. Ganz so haben wir uns für die Hitze mit genügendem Eis zu versorgen gewußt. Wenn Sie zum Beispiel um die heiße Jahreszeit auch nur in eines unserer bescheidenen Häuser kommen, werden Sie den kühlenden Eisblock in der Mitte des Zimmers sehen. Wer um eine Kleinigkeit mehr zahlen will, kauft sich einen Blumenstrauß im Eise und stellt ihn auf den Mittagstisch.“

„Kenn‘ ich!“ sagte Kingscourt, „diesen Witz mit den frischen Blumen im Eisblock hab‘ ich schon auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 jesehen.“

„Ich wollte Ihnen auch nichts Neues erzählen. Wir haben uns eben alles Vorhandene zu Nutzen gemacht. Die Kälteartikel sind bei uns ein Volksbedürfnis und werden daher durch die Konkurrenz spottbillig in Massen erzeugt. Der Minderbemittelte kann natürlich nicht wie die Wohlhabenden ins Libanongebirge ziehen, wenn der Sommer kommt. Den ärmeren Europäern geht es ja geradeso. Aber die Wissenschaft hat uns gelehrt, wie wir uns den Aufenthalt auf der Erdoberfläche überall angenehmer und gesünder machen können. Sie verstehen? Wir haben durch unsere technisch vorgebildete Jugend und durch die Unternehmungslustigen alle bekannten Industrien hierher verpflanzt erhalten. Der kosmopolitische Zug der Industrie war eine Erscheinung, die Sie schon zu Ihrer Zeit gesehen haben. Warum hätten wir dies alles nicht auch bekommen sollen, da es einträglich war? In unserer Erde staken Schätze, wenn man sie nur zu heben verstand. Die chemischen Industrien erschienen hier am frühesten, sie sind ja sozusagen am leichtesten transportabel. Mr. Kingscourt, haben Sie vielleicht im vorigen Jahrhundert zufällig an einer Universität Chemie studiert?“

„Nee, zufällig nich!“

„Da hätten Sie es hören können, wie man schon damals in gelehrtem Kreisen über den Wert von Palästina dachte. Reschid Bey, der sich in Deutschland das Doktorat der Chemie geholt hat, mag es Ihnen sagen.“

Reschid sagte bescheiden:

„Sie bringen mich in Verlegenheit, Professor, wenn ich in Ihrer Gegenwart mein bißchen Wissen auskramen soll. Übrigens wußte das vor zwanzig Jahren schon jeder junge Student der Chemie, daß der Boden von Palästina ungehobene Reichtümer enthielt. Das Jordantal und die Gegend um das Tote Meer waren geradezu als Schulbeispiele bekannt. Ein deutscher Chemiker schrieb zu Ende des vorigen Jahrhunderts über das Tote Meer:

‚Dieses am tiefsten unter den Ozeanspiegel gelegene Wassertal bildet eine fast konzentrierte Salzlauge von sich nicht wiederholender Zusammensetzung und es hat Auswürflinge asphaltischer Massen, die auf solche Weise nirgends wieder hervortreten…‘ Wenn Sie die Einrichtung unserer Wasserkräfte besichtigen, meine Herren, werden Sie erfahren, wie wir uns den Niveauunterschied zwischen diesem tiefsten Wasserspiegel der Erde und dem Mittelmeer zunutze machten. Aber das ist eine andere Sache, die Sie später kennen lernen werden. Ich will Ihnen nur sagen, daß das Tote-Meer-Wasser eine nahezu gesättigte salinische Lauge vorstellt, wie sie ähnlich nur in Staßfurt vorkommt. Sie haben gewiß von den Staßfurter Kalisalzwerken gehört, die den Weltmarkt beherrschten. Wir haben das heute in einem noch viel größeren Umfange am Toten Meer…“

„Fabelhaft!“ schrie Kingscourt.

„Gar nicht!“ lächelte Reschid Bey. „Das ist alles so selbstverständlich wie nur möglich. Was man in Staßfurt konnte, kann man doch auch am Toten Meer. Freilich ist dieses unser Wasser viel reicher als irgend ein anderes der Welt. Man muß ordentlich an die alten Sagen denken, in denen ein Hort in Fluten versenkt wurde. Kinder glauben, daß ein solcher Hort nur in güldenen Spangen, Kelten und Münzen bestehen kann. Aber die Salze des Toten Meeres sind auch Gold. Der Bromgehalt dieses Wassers wird von keiner anderen natürlichen Lauge erreicht. Sie wissen doch, welch ein kostbarer Stoff Brom ist. Und was erzeugen wir sonst noch alles in dem fruchtbarsten Bezirke unseres Landes, der früher der ödeste, der tote war! Im Jordantal und am Toten Meer gibt es bituminöse Kalke, aus denen der anerkannt beste Asphalt der Welt hergestellt wird. Der deutsche Chemiker Elschner bemerkte aber auch seinerzeit, daß die geologische Beschaffenheit der Gegend auf das Vorhandensein von Petroleum hindeute. Dieses wurde tatsächlich erbohrt. Schwefel und Phosphate besitzen wir ebenfalls in unerschöpften Massen. Die Bedeutung der Phosphate für die Kunstdüngerfabrikation kennen sie so gut wie ich. Tatsächlich konkurrieren unsere Phosphate erfolgreich mit den tunesischen und algerischen, und dabei ist ihre Gewinnung weit müheloser und billiger als zum Beispiel die der Phosphate im amerikanischen Lande Florida. Die künstlichen Dungmittel, die wir so nahe und wohlfeil haben konnten, trugen begreiflicherweise zum großartigen Aufblühen unserer Landwirtschaft bei … Aber ich fürchte, daß Mrs. Gothland sich bei diesen nüchternen Geschichten langweilen wird.“

„Durchaus nicht!“ versicherte die Dame liebenswürdig.

Der Professor fügte hinzu:

„Im modernen Leben gibt es solche Zusammenhänge zwischen Industrie und Landwirtschaft. Sie verstehen? Alles gehört zu allem. Es muß nur der Unternehmungsgeist und das Wissen da sein, um die Verbindungen herzustellen. Ich selbst, wie Sie mich da sehen, obwohl ich nur ein Esel der Gelehrsamkeit bin, ich schaffe auch für die Industrie und Landwirtschaft.“

„Wenn Sie mir das erklären können, verehrtester Mikrobenzüchter!“ staunte Kingscourt.

„Sollen Sie haben!“ entgegnete Steineck schmunzelnd. „Es war eine bekannte Tatsache der Bakteriologie, daß der Geschmack verschiedener Käse, das Aroma der Tabaksarten von solchen Mikroorganismen herrührt, mit denen ich mich herumzuschlagen pflege. Da haben wir uns also in diesem Institute bemüht, diese kleinen Ursachen delikater Wirkungen herzustellen, um sie den Käsefabrikanten und Tabakpflanzern zu liefern. Die Käsesorten unseres Landes wetteifern jetzt an Güte mit den besten Schweizer und französischen Erzeugnissen. Und im warmen Jordantale werden Rauchkräuter erzielt, die nicht hinter denen von Havannah zurückbleiben.“

Und er führte nun seine Gäste durch die Laboratorien der Anstalt, die dem Pariser Institut Pasteur nachgebildet war. Seine zahlreiche Assistenten ließen sich durch den Besuch nicht sonderlich stören und arbeiteten ruhig mit ihren Prüfgläschen, Mikroskopen und an ihren Herden weiter, nachdem sie auf die gestellten Fragen kurz und höflich Antwort erteilt hatten. Einer schnauzte aber seinen Lehrer Steineck gemütlich grob an:

„Lassen Sie mich in Ruhe, Herr Professor! Ich habe jetzt für solche Fragereien keine Zeit. Der Kerl entschlüpft mir sonst wieder.“

Steineck zog seine Gäste sofort folgsam aus der Stube und sagte draußen:

„Er hat ganz recht. Der Kerl ist nämlich sein Bazillus. Sie verstehen?“

Er führte sie dann in seine eigene Werkstätte, die ebenso einfach ausgestattet war, wie die seiner jungen Gehilfen.

„Hier arbeite ich.“

„Woran, wenn man fragen darf?“ erkundigte sich Friedrich.

Der Blick des Gelehrten wurde träumerisch:

„An der Erschließung Afrikas!“

Die Besucher glaubten, nicht recht gehört zu haben, oder war der Forscher doch ein bißchen übergeschnappt?

Kingscourt wiederholte mit verdächtigem Augenblinzeln:

„Sie sagen: an der Erschließung Afrikas?“

„Jawohl, Mr. Kingscourt. Ich hoffe nämlich, das Mittel gegen die Malaria herauszubringen. Hier in Palästina sind wir zwar mit der Malaria ziemlich fertig geworden. Dank unseren Entsumpfungsarbeiten, Kanalisationen, dank den Eukalyptuspflanzungen. Aber die Verhältnisse sind anders in Afrika. Dort sind alle diese Aufwendungen nicht möglich, weil die Voraussetzung, die Masseneinwanderung, fehlt. Der weiße Mensch, der Kolonisator, geht dort zugrunde. Afrika wird für die Kultur erst dann eröffnet sein, wenn die Malaria unschädlich gemacht ist. Erst dann werden kolossale Gebietsstrecken für die überproduzierten Bevölkerungen der europäischen Staaten zugänglich. Erst dann wird den proletarischen Massen ein gesunder Abfluß verschafft. Sie verstehen?“

Kingscourt lachte:

„Sie wollen also die weißen Menschen in den schwarzen Erdteil verfrachten. Sie Zauberkünstler?“

Aber Steineck erwiderte ernst:

„Nicht nur die Weißen! Die Schwarzen auch. Es gibt noch eine ungelöste Frage des Völkerunglücks, die nur ein Jude in ihrer ganzen schmerzlichen Tiefe ermessen kann. Das ist die Negerfrage. Lachen Sie nicht, Mr. Kingscourt! Denken Sie an die haarsträubenden Grausamkeiten des Sklavenhandels. Menschen, wenn auch schwarze Menschen, wurden wie Tiere geraubt, fortgeführt, verkauft. Ihre Nachkommen wuchsen in der Fremde gehaßt und verachtet auf, weil sie eine andersfarbige Haut hatten. Ich schäme mich nicht, es zu sagen, wenn man mich auch lächerlich finden mag: nachdem ich die Rückkehr der Juden erlebt habe, möchte ich auch noch die Rückkehr der Neger vorbereiten helfen.“

„Sie irren“, sagte Kingscourt; „ich lache nicht. Im Gegenteil — ich finde es sogar großartig, hol‘ mich der Deibel! Sie zeigen mir Horizonte, die ich mir nicht ‚mal im Traume vorgestellt hätte.“

„Darum arbeite ich an der Erschließung Afrikas. Alle Menschen sollen eine Heimat haben. Dann werden sie gegeneinander gütiger sein. Dann werden sich die Menschen besser lieben und verstehen. Sie verstehen?“

Und Mrs. Gothland sprach in sanftem Tone aus, was sich die drei anderen dachten:

„Herr Professor Steineck — Gott segne Sie!“

 

Sechstes Kapitel

Aus der feierlichen Stimmung, in die sie beim Besuche des Steineckschen Institutes geraten waren, kamen die Fremden auf dem Rückweg in eine ergötztere Laune. Denn als sie an der Badeanstalt vorüberfuhren, machte Reschid Boy den Vorschlag, auszusteigen und ein halbes Stündchen im Kurhausgarten bei der Musik zu verbringen. Sie verließen ihren Motorwagen und betraten die schönen Anlagen, in denen jetzt viele Leute saßen, umherwandelten und den Weisen der Kurkapelle lauschten. Es war die gemischte Menge der Badeorte: Müßiggänger, geputzte Damen. Unter den Palmen saßen sie auf Stühlen aus biegsamem Eisenblech, musterten die Vorübergehenden, klatschten und flirteten, wie man es überall in der Welt sehen kann.

Kingscourt stellte das mit grimmigem Behagen fest:

„Na also, da sind sie endlich, die Jüdinnen mit den Edelsteinen! Mir war schon bange danach. Ich dachte mir, das Ganze ist vielleicht eine Fopperei, und wir sind gar nicht im Judenland. Nun seh‘ ich erst, es ist wahr. Da sind die wandelnden Federhüte, die grellen Seidenkleider, die Juwelenisraelitinnen. Nichts für ungut, Mrs. Gothland. Sie sind ja eine andere Nummer.“

Mrs. Gothland nahm es auch durchaus nicht übel, und Professor Steineck lachte dröhnend.

„Geniert uns gar nicht, Mr. Kingscourt! Solche Bemerkungen konnten uns in früherer Zeit verletzen, aber jetzt nicht mehr. Sie verstehen? Früher hat man die Promenadenjüngelchen, die Protzen und Juwelenhebräerinnen als die Vertreter der Judenschaft angesehen. Jetzt weiß man, daß es auch andere Juden gibt. Jetzt können Sie über dieses Gelichter schimpfen, soviel Sie wollen, edler Fremdling! Wenn es finster wird, schimpfe ich mit.“

Im Kurgarten erregte die lachende kleine Gesellschaft, wie sie durch die Hauptallee schritt, Aufsehen. Den Professor kannten offenbar alle Leute, und darum reckten sie sich auch die Hälse aus nach den auffallenden Fremden in seiner Begleitung. Um den neugierigen Blicken zu entkommen, bog Steineck mit den Gefährten in einen Seitenweg ein, doch da gerieten sie erst recht mitten in den Kreis, dem sie hatten entrinnen wollen. Da saßen in einer Rundung von Büschen mehrere Damen und Herren in lebhaftem Geplauder. Einer sprang auf, eilte mit heftigen Bewegungen der Freude auf Friedrich zu und rief ihm laut entgegen:

„Herr Doktor, Herr Doktor! Von wem meinen Sie, daß wir haben gesprochen jetzt die ganze Zeit? Nu? Raten Sie! Von Ihnen! Ich bin so froh!“

Dieser frohe Herr war Schiffmann. Er zog Friedrich in den Kreis, stellte ihn mit sprudelnden Worten vor, schob ihm einen Stuhl zurecht und drückte ihn auf den Sitz nieder. Das alles geschah so verblüffend rasch, daß Friedrich, auch wenn er nicht vor Überraschung widerstandslos gewesen wäre, sich kaum hätte wehren können. Die Überraschung aber war, daß er plötzlich seine Jugendliebe Ernestine Löffler dicht vor sich sah. Sie begrüßte ihn mit Blick und Lächeln, noch bevor sie sprach, und er fand keine Worte. Indessen war Schiffmann zu Steineck, den er kannte, und den anderen zurückgeeilt. Er nötigte sie auch, näherzutreten, ungefähr wie der Straßenverkäufer vor einem Kleidergeschäft. Der Professor hatte sichtlich keine Lust, der Einladung zu folgen; aber Kingscourt meinte, man könne Friedrich doch nicht allein stecken lassen: mitgefangen, mitgehangen. Schiffmann lachte gefällig über diese zweifelhafte Liebenswürdigkeit. Dann schleppte er Stühle herbei, nannte die Namen der Anwesenden: Herr, Frau und Fräulein Schlesinger, Herr und Frau Dr. Walter, Frau Weinberger, Fräulein Weinberger, die Herren Grün und Blau, Herr Weinberger.

Friedrich sah und hörte dies alles wie durch einen Nebel. Alte Zeiten standen wolkig auf. Er sah sich wieder an jenem Verlobungsabend im Löfflerschen Hause. Da war jene unerträgliche Gesellschaft, der er damals verzweifelnd entfloh. Alle gealtert und doch noch dieselben. Nur die beiden jungen Mädchen bedeuteten eine andere Generation. Diese Zarte, die ihn mit fremden Augen ansah, völlig Ernestinens Ebenbild. Er hörte von dem Gespräch ringsum nur schwaches, verworrenes Geräusch, so sehr war er von den Erinnerungen betäubt. Erst als eine Frage ihn geradezu anfiel, erwachte er.

Herr Grün, der Spaßmacher, hatte ihn angeredet:

„Nun, Herr Doktor Löwenberg, wie gefällt es Ihnen da? Was, Sie finden keine Worte? Vielleicht sind Ihnen zu viel Juden da?“

Man lachte. Friedrich entgegnete langsam:

„Offen gestanden, Sie sind der erste, der mich auf diesen Gedanken bringt.“

„Sehr gut, höhöhö!“ wieherte Schiffmann. Die übrigen stimmten in das Gelächter ein. Friedrich bemerkte erst daran, daß man seine Antwort für einen der unartigen Scherze gehalten hatte, die in diesem Kreise üblich waren. Herr Grün, an ärgeres gewöhnt, nahm es nicht übel. Herr Blau, der andere Witzbold, nahm aber grinsend die Verfolgung seines Rivalen auf:

„Grün wär‘ imstande, sogar hier die Leute zu Antisemiten zu machen.“

„Ihre Späße werden alt, Herr Blau“, mischte sich Dr. Walter ein. „Es gibt ja, Gott sei Dank! keine Antisemiten mehr in der Welt.“

„Wenn ich das sicher wüßt'“, entgegnete Blau, „möcht‘ ich mich in diesem Geschäft etablieren.“

Kingscourt neigte sich flüsternd ans Ohr des neben ihm sitzenden Steineck:

„Mein lieber Professor, mir scheint, Sie dürften diesen Herrschaften nichts von Ihrer Negeridee erzählen. Man würde Sie schön auslachen!“

„Beweist nichts gegen meine Idee“, erwiderte Steineck ebenso;

„diese Gesellschaft hat auch anfangs den jüdischen Volksgedanken ausgelacht. Das sind die letzten, denen man etwas Großes erzählen darf.“

Aber Friedrich griff die frühere Bemerkung auf.

„Ist es richtig“, fragte er, „daß der Judenhaß abgenommen hat?“

„Wie heißt: abgenommen?“ rief Herr Schlesinger. „Sagen Sie: verschwunden.“

„Darüber“, sagte Blau keck, „wird Ihnen niemand bessere Auskunft geben, wie Herr Doktor Veiglstock. Der hat sich benommen, wie ein Kapitän. Er hat das Schiff zuletzt verlassen.“

Der Advokat ärgerte sich:

„Sie, Herr Blau, ich werd‘ Sie bei den Ohren nehmen und Ihnen einsagen, wie ich heiße. Walter heiße ich ein- für allemal. Merken Sie sich das! Obwohl ich mich des ehrlichen Namens meines Vaters nie geschämt habe, das weiß jeder. Früher mußte man den Vorurteilen Konzessionen machen, wenn man nicht geschunden werden wollte.“

„Und das ist jetzt nicht mehr nötig?“ forschte Friedrich.

„Nein. Übrigens ist das ausnahmsweise wahr, was Herr Blau in seiner pseudowitzigen Weise angibt. Ich bin erst vor kurzem hierher übersiedelt. Man kann aber daraus nur ersehen, daß ich nicht, der Not gehorchte, sondern dem eigenen Triebe.“

„Ende Jud, alles Jud!“ meckerte der angenehme Herr Grün, Herr Blau jedoch traute dem Landfrieden nicht mehr und machte daher nur eine ganz leise Bemerkung, die der Advokat nicht hören konnte, über den eingetretenen Mangel an Klienten.

Dr. Walter warf sich nun in die Brust und begann zu erzählen, welche Wirkungen die Auswanderung so vieler Juden in Europa gezeitigt habe. Für ihn, Dr. Walter, sei es ja von allem Anfang an festgestanden, daß die zionistische Bewegung sowohl für die Abziehenden wie für die Zurückbleibenden die heilsamsten Folgen hervorrufen müsse. Er sei einer der allerersten gewesen, welche die Nützlichkeit dieser Bewegung einsahen, und wenn ihm auch seine damalige Lebensstellung nicht gestattete, seinen Empfindungen und Überzeugungen ganz freien Lauf zu lassen, so habe er doch in einer bescheidenen, unauffälligen Weise für den Nationalgedanken gewirkt. Als Beweis führte er hierfür an, daß er damals in seiner Kanzlei einen armen Studenten als Schreiber beschäftigt hatte, und daß er diesem nicht das Brot entzogen ihn nicht weggejagt, obwohl der junge Mann zionistische Versammlungen besucht hatte. Auch zum Nationalfonds habe er, Dr. Walter, sein Scherflein beigetragen, als dieser Volksschatz bereits mehrere Millionen Pfund Sterling enthielt, also die Bürgschaften der Sicherheit in der eigenen Größe hatte.

Herr Blau, der Scherzhafte, suchte eine kleine Revanche für die vorhin erlittene Demütigung:

„Ein Scherflein? Entschuldigen, Herr Doktor, wenn ich frage, ist das eine neue Münze? Scherflein, Scherflein?“

Herr Dr. Walter ließ sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Er zuckte nur die Achseln, sah über den Frager geringschätzig hinweg und erzählte weiter. Daß die nach Palästina Gezogenen hier eine glückliche große Heimat gefunden hätten, sehe und wisse heute schon jeder. Doch auch den Juden, die an ihren Wohnorten verblieben waren, ging es endlich gut. Sie waren von Angriffen verschont, seit die jüdische Konkurrenz schwächer geworden oder ganz verschwunden war. In den mit Juden überfüllten, oder wie man damals zu sagen pflegte, verjudeten Ländern war eine bemerkenswerte soziale Erleichterung eingetreten. Der Abfluß hatte zwar zunächst nur aus den unteren Schichten der Armen und Proletarier sich ergeben, aber dennoch wurde die Wirkung auch bald in den mittleren und höheren Schichten fühlbar. Diejenigen, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten, zogen zuerst nach dem altneuen Lande. Es ging, da die Wanderung eine ganz freiwillige war, nur, wer die Sicherheit hatte, sich durch die Übersiedlung sein Los zu verbessern. Die Arbeitslosen, die Verzweifelnden strömten dahin ab, wo ein breites Feld von Arbeit und Hoffnung sich eröffnete. Diese Erscheinung war doch selbstverständlich. In Palästina gab es die weltbekannte Gelegenheit, in den massenhaft aufsprießenden Unternehmungen sogleich Brot und binnen kurzem sogar einen gewissen Wohlstand zu erwerben. Dazu die lockende Freiheit. Keine Zurücksetzung wegen der Konfession und Nationalität. Schon das war Anziehung genug. Aber es fand auch eine vernünftige Vereinigung aller längstbestehenden jüdischen Wohltätigkeitsgesellschaften statt. Die hatten früher ihre liebe Not gehabt mit den Glaubensgenossen, die durch Verfolgungen und materielles Elend von Land zu Land gehetzt wurden. Ehemals war jeder örtliche Notstand eine allgemeine Plage der Judenheit geworden. Wenn die Ärmsten es in einem der osteuropäischen Länder nicht aushalten konnten und sich auf die jammervolle Reise begaben, so wurden nach und nach auch die entlegeneren Gemeinden in Mitleidenschaft gezogen. Man gab und gab den Wanderbettlern und konnte doch nie ausreichend geben. Unsummen wurden aufgewendet, ohne die Möglichkeit einer Prüfung im einzelnen Falle, folglich auch ohne Gewähr, daß nur die Würdigen bedacht wurden. Und das Ergebnis war keineswegs eine auch nur vorübergehende Linderung der Misere, sondern im Gegenteil die Züchtung von Professionsbettlern, die Unterstützung einer schmählichen Elendindustrie. Durch den zionistischen Gedanken war das Feld gegeben, auf dem sich alle humanitären jüdischen Bestrebungen vereinigen konnten. Die Gemeinden der ganzen Welt unterstützten die Ansiedlung ihrer eigenen Armen in Palästina. Dadurch wurden sie diese hilflosen Kostgänger los, es war billiger als die frühere unüberlegte Methode des Verschickens in irgendeine Fremde und es lag darin zugleich die Bürgschaft, daß nur Arbeitswilligen, Würdigen unter die Arme gegriffen wurde. Wer etwas Redliches schaffen wollte, der fand in Palästina jede Möglichkeit, sich zu betätigen. Wer behauptete, auch in Palästina kein Fortkommen finden zu können, der gab sich schon dadurch als Lump und Faulenzer zu erkennen; er verdiente keine weitere Teilnahme. Es gab in der ersten Zeit Unverständige, die meinten, eine solche Proletarieransiedlung könne nicht gedeihen. Wie dumm und ungebildet diese Auffassung war, das erkannte der Sprecher, Dr. Walter, und alle Leute, die gleich ihm einen weiteren Horizont hatten, von vornherein. Waren denn nicht im ganzen Laufe der Weltgeschichte die neuen Ansiedlungen von Hungerleidern gemacht worden? Die Satten haben keinen Grund, die Grenzen der Kultur hinauszurücken. Die Satten bleiben zu Hause. Aber den Hungrigen gehört die Welt. Die im Glauben beunruhigten Puritaner besiedeln Nordamerika. Die Glücksucher lassen sich in Indien oder Südafrika nieder. Und wo gab es eine Kolonie, die von schlechteren Elementen geschaffen wurde, als Australien, das große, blühende, stolze, reiche Australien. Das war zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine verachtete Sträflingskolonie und wuchs in wenigen Jahrzehnten zu einem mächtigen, gesunden Staatswesen heran. Zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts war es ein Kronjuwel des britischen Weltreiches.

Wie gesagt, Dr. Walter und seinesgleichen, die gebildet genug waren, lachten über den Einwand, daß Proletarier keine Ansiedlungen sollten gründen können. Wenn arme Sträflinge das in Australien vermochten, um wieviel eher waren es die Pioniere des jüdischen Volkes imstande, da sie in ihrer glückverheißenden Arbeit für die Freiheit und Ehre der Nation vom ganzen Hause Israel unterstützt wurden. Die Ereignisse bestätigten auch die Voraussicht Dr. Walters, das wollte er in aller Bescheidenheit betonen. Denn die gewaltigen Besiedlungsarbeiten erforderten auch ein zahlreiches modern vorgebildetes Personal von Ingenieuren, juristischen und kommerziellen Beamten. Plötzlich war damit eine Verwendung für die Massen studierter junger Leute geboten, die früher, in den antisemitischen Zeiten, nirgends hatten ankommen können. Während die gebildeten Juden vormals bei ihrem Abgange von den Universitäten, technischen Hochschulen und Handelsakademien ratlos und hoffnungslos dastanden, bekamen sie in Palästina nun Anstellungen bei den öffentlichen und privaten Unternehmungen. Die Folge war, daß sie ihre christlichen Kollegen nicht mehr genierten. Der Jude hörte auf, ein lästig empfundener Mitbewerber zu sein, und damit schwand natürlich allmählich der wirtschaftliche Haß und Neid. Mehr noch: die nützlichen Eigenschaften der Juden fingen an, erkannt zu werden, als das Angebot auf dem Markte schwächer wurde. Der Wert der Dienste wächst, je weniger man sie anbietet. Jeder weiß das. Warum hätte das nicht auch von den Diensten der Juden im wirtschaftlichen Verkehr gelten sollen? Und so machte sich die Besserung der Zustände von allen Seiten geltend. In Ländern, wo man nicht mehr Juden auswandern lassen wollte, trat ein freundlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung ein. Man gab den Juden die volle Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier der Gesetze, sondern in lebendiger Übung, im täglichen Umgang, in den Sitten und Gebräuchen. Zwangsmaßregeln hätten nicht vermocht, die Juden zur freudigen Mitarbeit in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Verkehr und auf allen übrigen Gebieten der bürgerlichen Betätigung zu bewegen. Die Güte aber brachte das zuwege. Erst als die umhergehetzten Juden in ihrem eigenen Lande zur Ruhe kamen, trat die großgemeinte Emanzipation in jedem Staate in Kraft. Die sich einem anderen Volkskörper assimilieren konnten und wollten, durften es nun in einer offenen, weder feigen noch verlogenen Weise tun. Es gab manche, die den Glauben der sie umgebenden Volksmehrheit annehmen wollten; sie konnten es jetzt, ohne den Verdacht der Stellenjägerei oder Streberei auf sich zu laden. Denn es war nicht mehr nützlich, vom Judentum abzufallen. Die Juden, die sich in allem, nur nicht im religiösen Bekenntnis eins fühlten mit ihren Mitbürgern, erfreuten sich der ungeschmälerten Wertschätzung auch als Angehörige einer Minoritätskonfession. Denn Duldung kann und wird immer nur auf Gegenseitigkeit beruhen, und erst als auch die Juden hier, wo sie die Mehrheit bilden, sich tolerant erwiesen, wurde ihnen aus sittlicher Reziprozität überall dasselbe zuteil.

„Darum“, schloß Dr. Walter seinen kleinen Vortrag mit einem gefälligen Seitenblick auf Professor Steineck, „darum bin ich ein Anhänger und Verfechter der Ideen, die von der Littwak-Steineckschein Partei vertreten werden. Ich werde unentwegt, bis zu meinem letzten Blutstropfen für diese Idee eintreten.“

Herr Blau fügte schneidend hinzu:

„Bitte, vergessen Sie nicht, das Ihrem Herrn Bruder auszurichten, Herr Professor. Wenn Sie Herrn Dr. Walter auf Ihrer Seite haben, dann haben Sie die Majorität.“

Der Advokat wurde dunkelrot im Gesicht:

„Was wollen Sie damit sagen, Sie — Sie?“

„Bitte, gar nichts“, sagte der Witzbold mit gespielter Harmlosigkeit. „Ich habe Sie noch nie anderswo als bei der Majorität gesehen. Darum ist den Leuten, denen Sie sich anschließen, immer zu gratulieren.“

„Wenn Sie mit Ihren faulen Witzen sagen wollen, daß ich meine Ansichten zu ändern pflege, so kann ich darüber nur lachen. Jeder vernünftige Mensch wird mit der Zeit klüger. Die Hauptsache ist: wenn ich einmal von etwas überzeugt bin, so halte ich daran unentwegt fest.“

„Nu ja“, sagte Herr Grün, indem er sich sein ‚uneingesäumtes‘ Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger rieb; „das versteh‘ ich. Wenn Dr. Walter eine Überzeugung hat, so haltet er an ihr fest, unentwegt. Wenn er aber die Überzeugung nicht mehr hat oder eine andere vorzieht, so wär‘ es doch nicht charaktervoll, wenn er die frühere Überzeugung, die er nicht mehr hat, noch mit Gewalt festhalten wollte.“

Herr Schlesinger, der in diesem Kreise als geschäftlicher Vertreter des Barons Goldstein noch immer ein gewisses Ansehen genoß, warf sich mit Autorität zwischen die Streitenden:

„Was ist das, meine Herren? Sind wir hier in einer Volksversammlung? Was gehen uns die Überzeugungen an? Ich kenn‘ nur zweierlei: Geschäft und Vergnügen.“

„Bravo!“ rief Kingscourt. „Und zuerst det Jeschäft.“

„Sie sehen, der Herr denkt auch so“, schloß Schlesinger. „Ist jetzt Geschäftsstunde? Nein. Also lassen wir uns in Ruh‘!“

„Sie treffen doch immer den Nagel auf den Kopf, Herr Schlesinger!“ schmeichelte Schiffmann und wandte sich dann zu Kingscourt und Friedrich mit einer halblauten Erklärung, die jeder hören konnte: „Nicht umsonst genießt er das Vertrauen der Barone von Goldstein. Er ist der Vertreter in Jaffa von diesem großen Haus.“

„Was Sie nicht sagen!“ entgegnete Kingscourt und machte eine bewundernde Miene.

Herr Schlesinger starrte bescheiden vor sich hin, wie ein berühmter Mann, der den Leuten gezeigt wird.

Indessen waren die Damen wieder zu ihren früheren Gesprächen über die neuesten Pariser Hüte zurückgekehrt. Frau Laschner führte das große Wort. Sie bezog ihre Putzgegenstände geradewegs aus der Rue de la Paix.

Frau Ernestine Weinberger aber hatte Friedrich bedeutet, er möge seinen Sessel näher heranrücken, und sie plauderte leise.

„Ja, und das ist meine Tochter. Was, die Zeit vergeht? Wie finden Sie sie? Hübsch, häßlich?“

„Ganz die Mutter!“ sagte der mechanisch.

„Also häßlich? Sie Schlimmer!“ und dazu ein koketter Augenaufschlag.

Ihm war ganz traurig zumute, als er dieses gefallsüchtige, verblühte Frauenzimmer betrachtete. So sehen die Gründe unserer großen Schmerzen nach zwanzig Jahren aus. Man versieht nicht mehr, wie man sich um solches grämen konnte. Ach, die verlorene Zeit!

Sie, die keine Ahnung hatte, was in ihm vorging, schäkerte weiter. Was er denn jetzt vorhabe? Ob er hier bleiben oder nach Europa gehen wolle? Wenn er im Lande bliebe, würde er nun wohl auch daran denken, einen Hausstand zu gründen, ein Weib zu freien.

„Ich?“ sagte er verwundert. „Ich, in meinen Jahren? Das habe ich versäumt, wie manches andere, wichtigere.“

„Jetzt sind Sie nicht ehrlich“, meinte Frau Ernestine Weinberger. „Sie befinden sich noch in den Jahren. Sie sehen viel jünger aus, als Sie sind. Auf Ihrer einsamen Insel haben Sie sich gut konserviert… Warten Sie, ich will ein unbefangenes Kind raten lassen, wie alt Sie sind … Fifi, rat‘ einmal, wie alt Herr Dr. Löwenberg ist.“

Fräulein Fifi Weinberger, das unbefangene Kind, blickte ihn ein bißchen an, senkte dann die Augen und lispelte:

„Anfang der Dreißig, Mama!“

„Ach nein, liebes Fräulein! Da haben Sie mich nicht genau angesehen!“

„Oh doch!“ lispelte sie wieder. „Ich sah Sie ja neulich in der Oper, als sie mit Mirjam Littwak waren.“

„A propos“, sagte Ernestine, „wie gefällt Ihnen Mirjam Littwak? Ich meine nicht: äußerlich. Sie ist ja ganz hübsch. Aber ihre Art, ihre Pose. Sie tut ein bißchen groß mit Pflichterfüllung und solchen Scherzen. Sie spielt Lehrerin. Das ist jetzt hier das Neueste.“

Friedrich war empört:

„Meine Gnädige, so viel ich weiß, spielt Fräulein Littwak nicht die Lehrerin, sondern sie ist es wirklich. Sie nimmt ihre Aufgabe so ernst, wie es sich gebührt.“

„Schau, schau, wie Sie Fräulein Littwak verteidigen!“ spöttelte Ernestine.

„Mein Freund gibt mir ein Zeichen“, sprach Friedrich, indem er sich erhob. „Wir müssen uns verabschieden.“

Er empfahl sich und ging mit seinen Freunden weg. Kingscourt faßte ihn unter den Arm‘ und sagte:

„Fritz, raten Sie mal, was ich mir die ganze Zeit in der furchtbar netten Gesellschaft gedacht habe!“

„Keine Ahnung!“

„Daß es für uns Zeit wird, abzureisen. Darum waren wir doch nicht Räuber und Mörder, um beim Vertreter der Barone von Goldstein zu enden. Oder wollen Sie vielleicht hier vor Anker jehen?“

„Sie fragen, Kingscourt? Sie wissen sehr gut, daß ich Ihnen gehöre und mit Ihnen gehe, wann Sie wollen, wohin Sie wollen.“

Da blieb der Alte stehen und drückte ihm die Hand.

–> Viertes Buch

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