Denken ans deutsche Gedenken in der Kleinstadt zum 7.10.

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In der Nacht schlafe ich nicht. Zwei Jahre. Ich sehe die Gesichter vor mir, die Filme, wie vor zwei Jahren. Es fühlt sich an wie gestern.

Von Eva M. Grünewald

Der 7. Oktober 2023: Ich besuchte die Abschlussveranstaltung eines Online-Kurses als Psychologische Ersthelferin. Fünf Termine hatte ich bereits absolviert, am 7. Oktober stand nun unter anderem das Thema Trauma auf der Agenda. Es war langweilig, ich hatte den Eindruck, eigentlich alles bereits zu wissen, mir schien Vieles, was erzählt wurde, nicht erwähnenswert, denn mit Hilfe des Menschenverstands logisch herzuleiten. Also begann ich, während der Vorträge abzuschweifen, ein bisschen im Internet zu surfen, meine Emails zu checken. Es war auf der Serverstartseite, wo ich am frühen Nachmittag die ersten Bilder vom brennenden Sderot sah. Und die angstvollen Augen Noa Argamanis. So meine ich mich zu erinnern.

Damit bin ich abgetaucht. Den Kurs beendete ich unaufmerksam, immerhin bestand ich die Prüfung zwei Wochen später, bin also psychologische Ersthelferin und soll somit erkennen können, wenn Menschen traumatisiert sind oder unter Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Doch seither befinde ich mich in einer anderen Welt.

Zwei Jahre.

So viel ist in dieser Zeit passiert. Für mich, für meine Familie, so Vieles, das hier in Deutschland Tag für Tag stattfindet. Auch Schönes und Gutes. Ich denke zurück, und die Bilder unserer Jahre laufen wie durch einen Filter. Dazwischen die Bilder des 7. Oktober, die Gesichter der Menschen, die ich nicht einmal persönlich kenne.

Während ich schlaflos auf den Morgen warte, denke ich über die vergangenen zwei Jahre nach, über die Ereignisse, die hier, mir selbst passierten, doch scheinen die schönen und guten Dinge weit weg, während mit jedem Monat der 7. Oktober näher rückte. Baklava auf der Sonnenallee; die fehlende Empathie der stummen Freunde, die vorher so laut jedes Unrecht der Welt anprangerten; das nie endende „Aber“; die Freundinnen, die über den Sexismus unserer Gesellschaft schimpfen, doch mit Blick auf israelische Frauen schweigen; die Schriftzüge auf dem Schultisch der Tochter; die Freunde, deren Ressentiments plötzlich laut werden; die Kollegen, die auch einmal eine palästinensische Meinung hören wollen und Ahmad Mansour als Rassisten titulieren; die Stummen, Unpolitischen, die Mallorca- und Holland-Urlauber, die plötzlich hungernde Kinder in ihrem Status posten, doch darauf hingewiesen, dass die Geschichte des Bildes unvollständig und verzerrt wieder gegeben werde, meinen, das sei doch nicht wichtig; die vormaligen Freunde, die meinen, man dürfe für mich nur noch die Jüdische Allgemeine lesen; die zuvor geschätzten Personen des öffentlichen Lebens, die plötzlich auf Boykott-Aufrufen auftauchen; die Nachbarn, die sich lautstark auf dem Balkon über „die Juden“ unterhalten, die aus Gaza ein KZ machen; die Schilder „Juden sind hier unerwünscht“; die Nachrichten von verprügelten Studierenden, von Angriffen und Ermordungen weltweit.

Und zwischen diesen Bildern immer wieder der Gedanke an Hersh Goldberg-Polin, Carmel Gat, Shani Louk, an all die Ermordeten des 7. Oktober in Israel. An ihre Familien.

Der Gedanke an Gali und Ziv Bermann, an Alon Ohel, Matan Zangauker, Matan Angrest, Evyatar David, an die 48 Menschen, die sich immer noch in Gaza befinden.

An ihre Familien. Wie muss es diesen Müttern gehen. Wie sollen sie schlafen.

Die Geschichten der Überlebenden, der Horror, den sie durchlebten. Die Familien, die wissen, dass es ihren Angehörigen immer noch so gehen kann. Wie sollen sie schlafen?

Nach meiner schlaflosen Nacht, am frühen Morgen das erste Bild in einer WhatsApp-Gruppe von der Mahnwache in unserer Kleinstadt. Ein gutes Gefühl. Es gibt wohl doch noch Empathie, so will es einen kurzen Moment scheinen.

Im Status einer Bekannten lese ich kurz darauf, der 7. Oktober sei „leider auch so ein schreckliches Datum für die Geschichtsbücher“. 48 Geiseln in Gaza, 20 von ihnen sind laut der Vermutungen noch am Leben. Menschen, ihre Familien und Freunde, kämpfen noch immer, seit zwei Jahren, täglich um ihr Leben.

Geschichtsbücher. Der Ort für Juden.

Eine andere Bekannte beruft sich in ihrem Status auf Dunja Hayali. Kürzlich hieß es, sie habe sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, doch zu einem solchen Datum kann sie es sich offensichtlich nicht nehmen lassen, ihre penetrante Äquidistanz in die Welt zu speien.

Nicht einmal an einem solchen Tag ist sie fähig zu wirklicher Empathie.

Aber wenn dereinst – und hoffentlich bald – der Krieg vorbei ist und alle Geiseln zu Hause sind und der 7. Oktober in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat, dann kann sie sicherlich wieder bei diversen Preisverleihungen eine jüdische Freundin finden, an deren Seite sie Krokodilstränen vergießen kann.

Später am Tag gehe ich zur Mahnwache, die bis in die Abendstunden in der Kleinstadt vor dem Rathaus steht. Als ich eintreffe, befindet sich ein selbstgebastelter Davidstern auf dem Boden, darauf Kerzen, Schilder mit „Bring them home!“-Aufschrift, einige Israel-Fahnen. Alles wirkt selbstgebastelt. Drei Anwesende kann ich optisch der jüdischen Gemeinde zuordnen, die „Omas gegen Rechts“ erkenne ich an ihren Buttons. Man munkelt, die Deutsch-Israelische Gesellschaft stecke hinter der Organisation. Wer es auch sei, ich bin ihnen dankbar. Es sind mehr Menschen anwesend, als ich erwartet habe und ich empfinde Erleichterung, Dankbarkeit, sogar Freude. Und doch… Vor zwei Wochen waren Kommunalwahlen – sollte ich nicht einige Gesichter von Plakaten kennen? Wo sind die Parteien? Die Offiziellen?

Ich höre, wie ein Mann neben mir erzählt, dass er auf dem Weg zur Mahnwache die Geschäftsführerin der örtlichen Gedenkstätte getroffen hätte, doch sie hatte einen wichtigen Termin. „Zum Glück ist viel Polizei hier“, meint er, um sich blickend. „Zum Glück sind ein paar Menschen mehr als die Polizei hier“, sagt sein Gesprächspartner.

Irgendwann sehe ich, wie die Oberbürgermeisterin aus dem Rathaus kommt. Kürzlich wollte sie noch Babys aus Gaza retten, doch auch das hat ihr nicht die nötigen Stimmen gebracht. Ihren Nachfolger sehe ich nicht. Jetzt steht sie bei den Vertretern der Jüdischen Gemeinde. Fünf Minuten? Dann ist sie nicht mehr zu sehen.

„Bist du meine Nachbarin?“, fragt mich plötzlich eine junge Frau. Davon weiß ich nichts. Sie hatte auf Nebenan.de recherchiert und so von einer Nachbarin erfahren, dass es diese Veranstaltung gebe. Die Nachbarin kennt sie jedoch nicht persönlich, und diese wollte anonym bleiben. Da ich alleine bin, hätte ich es sein können. Bin ich nicht.

Eine weitere junge Frau stößt zu uns. Auch sie ist alleine. Sie blickt sich von Zeit zu Zeit unsicher um. „Wartest du noch auf jemanden?“, fragt die erste Frau. „Nein“, erklärt die zweite. „Es soll doch gleich auch eine palästinensische Demo hier in der Nähe geben. Ich gucke nur, ob schon welche von denen zu sehen sind.“

Beide Frauen senken den Altersdurchschnitt der Veranstaltung um einige Jahre. Ich frage, was sie bewegt, hier zu sein. „Der Anstand und die Menschlichkeit“, sagt die erste Frau. Die Zweite nickt. „Wer auch nur ein bisschen Empathie empfindet, muss an einem Tag wie heute hier sein.“  Darum haben sie beide – unabhängig voneinander – im Internet recherchiert, wo am 7. Oktober eine Gedenkveranstaltung stattfinde. Etwas Offizielles konnten sie in der Kleinstadt nicht finden.

Warum der Anteil der U40 oder gar U30 so gering ist, will ich von ihnen wissen. Sie sind Studentinnen und erzählen, dass sie Angst haben. Sie denken, dass die schweigende Mehrheit auf unserer Seite sei. Doch die schweigende Mehrheit habe Angst. Ich bin nicht sicher, welches „uns“ gemeint ist, das jüdische, das israelische, oder vielleicht das menschlich Anständige? Sie schildern die angespannte Atmosphäre in den Hörsälen und Seminaren. Man traue sich nicht mehr, dem Israelhass etwas entgegenzusetzen, etwas Positives über Israel oder Amerika zu sagen, die palästinensische Seite zu kritisieren. Israelische Dozenten verschwinden aus dem Vorlesungsverzeichnis, zu Iwrit-Kursen wird privat und heimlich eingeladen.

Die zweite Frau erzählt, eine Freundin von ihr habe einen Sticker „Believe Israeli Women“ auf dem Kühlschrank und wenn Besuch käme, würde sie eine Postkarte darüber hängen. Sie selbst habe eben eine Kommilitonin gesehen und habe nun Angst, dass diese sie ebenfalls gesehen hätte und es weitererzählen könne.

Ich sage ihnen, wie froh ich bin, dass sie die beiden Frauen da sind. Als ich einem Bekannten begegne, verliere ich sie aus den Augen.

Plötzlich wird der Ring der Polizisten enger. Sie scheinen sich zu vervielfältigen und den Kreis um die Mahnwache zu schließen. In zehn Minuten habe ich meine Teilnahme an einer kleinen, jüdischen Gedenkveranstaltung an einem anderen Ort zugesagt. Ich stehle mich durch den Kreis der Polizei, noch bevor die andere Demo begonnen hat und gehe zu meiner jüdischen Gedenkfeier.

Hier wird über die Geiseln gesprochen. Und über Antisemitismus.

Nachtrag: Am Morgen des 8. Oktober höre ich, dass in der Nachbarstadt ein Mann mit einer Israel-Fahne verprügelt und in der Kleinstadt eine Gaza-Ausstellung installiert wurde. Im Zentrum: der künstlerisch in Szene gesetzte Vorwurf, Israel hungere Kinder aus.

Nachtrag zum Nachtrag:

Am Morgen des 9. Oktober höre ich, dass die lebenden Geiseln innerhalb der nächsten 72 Stunden freikommen. Meine Tochter weckt mich mit dieser Nachricht und wir weinen vor Freude. Im Morgenmagazin spricht Anna Planken auch von den Geschichtsbüchern und vom Silberstreif der Hoffnung für Gaza.

Hoffnung hatten wir immer. Doch warten wir ab, wir deutschen Jüdinnen und Juden, wir europäischen Jüdinnen und Juden. Der Geist ist aus der Flasche.