Ich bin Sophie Scholl

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Erinnern als höchste Form des Vergessens

Von Pascal Beck

Im November 2020 verkündete eine Rednerin einer „Querdenken-“Demonstration in Hannover, dass sie sich fühle wie Sophie Scholl, da sie seit Monaten aktiv im Widerstand sei. Während sie in Kritik geriet und sich bundesweit im Internet über sie lustig gemacht wurde, wurde dagegen der junge Mann, der als Ordner an der Demonstration teilnahm, für seinen Protest gelobt. „Für so einen Schwachsinn mache ich doch keinen Ordner mehr“ soll er gesagt haben und reichte der Frau sein orangenes Leibchen. Es handele sich um eine „Verharmlosung des Holocaust“, die „mehr als peinlich“ sei. (1) Weitestgehend einig war man sich in Deutschland, dass es sich hierbei um eine Instrumentalisierung der Geschichte und einer Verharmlosung des Holocaust handele, wie besagter Ordner berechtigterweise der Rednerin vorwarf.

Etwa ein halbes Jahr später sorgte Sophie Scholl erneut für mediales Interesse. Mit dem Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl holten der Südwestrundfunk und der Bayrische Rundfunk anlässlich ihres 100. Geburtstags „die Widerstandskämpferin aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt“, um junge Menschen für den Nationalsozialismus zu sensibilisieren und ihnen Anlass zu bieten, sich tiefer mit der Thematik zu beschäftigen. (2) „Wie eine Freundin“ sollen junge Menschen die fiktive Sophie „in ihrer Hosentasche“ (3) tagtäglich bei sich tragen. Zu Beginn noch als faszinierendes Projekt bezeichnet, geriet auch @ichbinsophiescholl später in Kritik. Doch dass zu Hochzeiten 820tsd. Menschen dem Projekt folgten, spricht für sich.

Krieg und Antisemitismus

Warum aber erfährt gerade Sophie Scholl solch eine Renaissance? Diese Frage lässt sich beantworten, schaut man sich genauer an, was bei @ichbinsophiescholl über den Nationalsozialismus vermittelt wird. Im Vordergrund stehen die Kriegshandlungen. In ihrem digitalen Tagebuch zeigt sich Sophie wiederholt in Sorge – sei es um ihren Freund Fritz, der als Offizier an der Ostfront stationiert ist, oder über ihre Brüder, die kurzfristig eingezogen wurden. Die rassenideologische Motivation der deutschen Expansionspolitik wird dabei allerdings nicht erwähnt. An anderer Stelle werden Bilder des zerbombten Kölns gezeigt. Wird beim eigentlichen Posting erstmals der eliminatorische Antisemitismus der Deutschen angedeutet, ohne aber Juden und Jüdinnen als Opfer zu benennen, geht es im Wochenrückblick letztlich doch wieder nur um die eigene Befindlichkeit. Irma kommt bei Sophie unter, weil ihre Kölner Wohnung zerstört wurde. Ihr Mann, den sie kaum kenne, sei in Stalingrad. Sie hätten schnell geheiratet, da sie nicht als unverheiratete Frau sterben wolle. Dass die Bombardierung Kölns Teil einer Offensive war, die darauf abzielte, den Kampfwillen der deutschen Bevölkerung zu schwächen, bleibt ebenfalls unerwähnt. Insofern werden die Kriegshandlungen als handlungsweisend für den Widerstand Sophie Scholls und der Weißen Rose genannt. Dieser spezielle Krieg wird damit lediglich zu einem Krieg unter anderen. Perzeptionen dieser Art tragen dazu bei, dass Ereignisse wie Auschwitz, wie auch alle anderen Massentötungen jenseits der Kriegshandlungen, verstellt und damit das Eigentliche, das diesen Krieg ausmacht, ausgeklammert werden.

Deutlich wird das daran, welche Rolle der Antisemitismus bei @ichbinsophiescholl spielt. Dieser wird in verhältnismäßig wenigen Postings überhaupt thematisiert. Wird er benannt, bietet er lediglich eine Rahmenhandlung für die Lebensrealität Sophies. Das mag der Storyline entsprechend konsequent sein, degradiert den Antisemitismus allerdings zu einem Nebenschauplatz. Konsequent ist es demnach auch, dass Sophie im Wochenrückblick vom 20. Juni geschockt von den Erzählungen ihres Bruders berichtet, wie er verletzte Soldaten gepflegt hat. Im Anschluss daran betrachtet sie einen Aushang in der Universität und liest die Namen der gefallenen Soldaten vor, um dann abzuschließen: „Aber es gibt so viele Namen, die nirgends stehen. Menschen, die einfach verschwinden. An die sich niemand erinnern will. Wer spricht von den Menschen, die enteignet, in Lager gebracht und ermordet werden?“(4)

Konsequent ist es dahingehend, dass auch sie nicht ausspricht, welche Menschen „enteignet, in Lager gebracht und ermordet werden“, da es nicht ihrer eigenen Lebensrealität entspricht. Konkret zu benennen, dass es sich um Juden und Jüdinnen handelt, würde den Antisemitismus aus seiner Nebenrolle hervorholen und die eigenen Sorgen um den Bruder oder den Kommiliton:innen, ergo den nicht-jüdischen Deutschen, die hier und an anderen Stellen als Opfer Hitlers dargestellt werden, in den Hintergrund rücken. Ähnlich zeigt es sich bei einem Posting, in dem sie mit der Bahn fährt. Sie erwähnt, dass die Reichsbahn genutzt wird, „um Juden und Jüdinnen nach Osten zu schaffen“, sie gleichzeitig aber „die Bahn für den Widerstand nutzen“ könne. (5) Der Antisemitismus nutzt demnach der Inszenierung des eigenen Widerstands.

Die Zuschauer:innen lernen über den Nationalsozialismus einzig von den erschwerten Lebensbedingungen. Durch die Überbetonung der Kriegsfolgen und dem gleichzeitigen Auslassen der Hintergründe – und explizit des Antisemitismus – kann ein eigenes Opfernarrativ installiert werden. An einer solchen Identifikation als Opfer hat Moishe Postone einst kritisiert, dass es die realen historischen Erfahrungen der wirklichen Opfer durch eben jene Projektion in Frage stellt und ihnen ihr historischer Status nicht zugestanden wird. (6) Vom Antisemitismus weiß das Publikum im Nachhinein genauso wenig wie zuvor.

Identifikation statt Quellenkritik

In der Tat war der Protest der Weißen Rose unspezifisch, lassen sich keine dezidiert antisemitismus-kritischen Positionen in ihren Flugblättern finden. Das Projekt stellt den Krieg als solchen als handlungsleitenden Motivator für den Widerstand der Weißen Rose dar, was den Inhalten der Flugblätter der Gruppe nicht widerspricht. Insofern ist es auch nicht weiter verwunderlich, sogar konsequent, dass der Widerstand, wie er im Projekt dargestellt wird, ebenfalls unspezifisch bleiben muss. Die Schwäche resultiert aus den Quellen. Fraglich bleibt aber, warum diese Lücken nicht ergänzt, nicht problematisiert oder in einen Kontext gesetzt wurden. Eine Quellenkritik, die notwendig wäre, liefert das Projekt mitnichten.

Sophie Scholl aber bot sich an, denn „sie funktioniert als Identifikationsfigur sehr gut.“ Darin sind sich die Macher:innen des Instagram-Accounts und die Rednerin aus Hannover also einig. Weiter erklären die Macher:innen von @ichbinsophiescholl: „Unser Ziel ist es, dass unsere Zielgruppe angeregt wird, sich weiter zu informieren, und sich zu fragen: ´Was bin ich bereit für meine Ideale oder meine Überzeugung zu geben?´ Wenn wir es schaffen, mit dem Projekt einen Anstoß zu geben, dass die Community sich mehr mit Widerstandskämpferinnen oder -kämpfern auseinandersetzt, dann hätten wir schon viel erreicht.“ (7) Hier wurde also zugunsten der Identifikation auf Quellenkritik verzichtet.

Opa war kein Nazi, Opa war im Widerstand

In der Memo-Studie 2020 geben 35,8 Prozent der Befragten an, unter ihren Vorfahren Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus zu haben. (8) In der Studie Opa war kein Nazi wird beschrieben, dass das menschliche Gedächtnis mit unterschiedlichen Systemen für kognitive und emotionale Erinnerungen operiert. Werden bestimmte Narrative als Familienalben über Generationen hinweg tradiert und mit einer Selbstverständlichkeit beschönigt wiedergegeben, können die Vorfahren vom Vorwurf der Schuld freigesprochen werden. (9) Angenommene Opfernarrative sind ein weiteres Ergebnis dieser Mechanismen. Bildlich wird dies darin, dass gerade mal 23,2 % der Befragten angeben, in ihrer Familie Täter gehabt zu haben, während 32,2 % meinen, dass ihre Vorfahren Opfern geholfen hätten. (10)

Was ursprünglich die Aktionen einer Minderheit gewesen war, schafft @ichbinsophiescholl durch das Identifikationsangebot auf die Mehrheit der Bevölkerung auszudehnen – wie bereits in den 90ern Schindlers Liste. Statt einer antisemitismuskritischen Haltung, wird den wiedergutgewordenen Deutschen ein gutes Gewissen serviert, das sie aufatmen lässt. Jean Améry hat bereits in den Siebzigern erkannt, dass „das glückliche Volk“ nichts von „nationalen Demagogen und Agitatoren“ wissen wolle. (11) Auch Dan Diner hielt fest, dass das „als ´deutsch´ apostrophierte Gedächtnis“ eher dazu neigt, „sich des durch den Holocaust verursachten Schuldzusammenhanges zu entledigen.“ (12)
Insofern sind sich die Rednerin aus Hannover und @ichbinsophiescholl gar nicht so unähnlich. Sophie Scholl dient ihnen als Vorwand sich selbst als Opfer und Widerstandskämpfer:innen gleichsam zu inszenieren, um als Deutsche wieder zu sich kommen zu dürfen. Erinnerung meint hier die Erlösung von der Geschichte. Geschichte wird instrumentalisiert und dient nicht nur der Wiederherstellung des reinen Gewissens und damit verbunden der Abwehr tatsächlicher Verantwortung, sondern auch dem nationalen Ansehen. Die Deutschen können endlich wieder aufrecht gehen, weil sie aufrecht gedenken. Das wusste bereits Eberhard Jäckel. Jean Améry hätte eine solche Möglichkeit nicht geboten.

Einen Unterschied macht es dann allerdings doch, wer sich mit Sophie Scholl identifiziert. Während der hannoveranische Ordner Applaus erhielt, weil er das Andenken an Sophie Scholl gerettet und gegen die Bagatellisierung der Shoa verteidigt hat, die Sophie Scholl aus Hannover dagegen in Ungnade gefallen ist, folgten der Sophie Scholl auf Instagram bis zuletzt 719 tausend Menschen, die es wiederum zu schätzen wussten, dass auch #teamsoffer die reale Sophie Scholl gegen Vereinnahmungen und Vergleiche mit der derzeitigen Pandemie-Situation zu verteidigen gewusst und damit ein Zeichen gegen Geschichtsrevisionismus gesetzt hatte.

Bild oben: Screenshot Instagram

(1) Der Spiegel (22.11.2020): Selbst ernannte „Sophie Scholl“ provoziert heftige Reaktionen im Netz. Online unter: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-demo-selbst-ernannte-sophie-scholl-provoziert-heftige-reaktionen-im-netz-a-365c7c4f-c0d2-4f19-9c2a-ec24d13c354b?msclkid=5837b516cd2811ec98917984a2b6a97b. Zuletzt aufgerufen: 06.05.2022.
(2) SWR und BR (Stand: 26.04.2021): FAQs. Online unter: https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-projekt-100.html. Zuletzt aufgerufen: 15.02.2022.
(3) Serafini, Sarah (30.05.2021): Interview. Sophie Scholl auf Instagram: “Man lebt mit ihr wie mit einer Freundin”. Online unter: https://www.watson.ch/international/schweiz/883318045-die-macherin-des-sophie-scholl-instagram-accounts-im-interview?msclkid=bef4b1e0cd2811ec8a8c0cf544aeb08c. Zuletzt aufgerufen: 06.05.2022.
(4) Ichbinsophiescholl (22.06.2021): Online unter: https://www.instagram.com/p/CPQbAoEK7zZ/. Zuletzt aufgerufen: 17.02.2022.
(5) Ichbinsophiescholl (14.10.2021). Online unter: https://www.instagram.com/p/CVAGGedspMi/. Zuletzt aufgerufen: 31.01.2022.
(6) Postone, Moishe: Nach dem Holocaust. Geschichte und Identität in Westdeutschland. In: Postone, Moishe: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg 2005. S. 59-85. Vgl. hier S. 85.
(7) Bundeszentrale für politische Bildung (28.06.2021): Widerstandsgeschichte auf Instagram: Was leistet das Projekt @ichbinsophiescholl? Online unter: https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/335601/widerstandsgeschichte-auf-instagram-was-leistet-das-projekt-ichbinsophiescholl/. Zuletzt aufgerufen: 15.02.2022.
(8) Papendick, Michael; Rees, Jonas; Scholz, Maren; Zick, Andreas: Memo. Multidimensionaler Erinnerungs Monitor. Studie III 2020. Bielefeld 2020. Online unter: https://www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf. Zuletzt aufgerufen: 20.03.2022. Hier S. 16.
(9) Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline; Welzer, Harald: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2015. Vgl. hier S. 11-56.
(10) Papendick, Michael; Rees, Jonas; Scholz, Maren; Zick, Andreas: Memo. Multidimensionaler Erinnerungs Monitor. Studie III 2020. Bielefeld 2020. Online unter: https://www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_dt_Endfassung.pdf. Zuletzt aufgerufen: 20.03.2022. Hier S. 16.
(11) Améry, Jean: Ressentiments. In: Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977. S. 102-129. Hier S. 103.
(12) Diner, Dan: Ereignis und Erinnerung. Über Variationen historischen Gedächtnisses. In: Berg, Nicolas; Jochimsen, Jess; Stiegler, Bernd (Hrsg.): Shoa. Formen der Erinnerung. Geschichte – Philosophie – Literatur – Kunst. München 1996. S. 13 – 30. Hier S. 29.