Die Synagogenerbauerin Judith Segall – eine vergessene deutsch-jüdische Architektin

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Es geschah vor 85 Jahren: Völlig überraschend gewinnt eine Frau den Architektur-Wettbewerb zum Bau der zentralen Synagoge in Hadera. In einer anonymen Ausschreibung setzt sich Judith Segall souverän gegen ihre ausnahmslos männlichen Konkurrenten durch. Darüber waren nicht nur die frommen Auftraggeber irritiert. Zum ersten Mal im Heiligen Land soll eine Architektin ein jüdisches Gotteshaus planen und bauen – eine Sensation…

Von Jim G. Tobias

Die junge Judith Segall, Repro: Edina Meyer-Maril (Nachlass Judith Segall)

Judith Segall wurde am 20. Mai 1904 im russischen Zarenreich geboren, verbrachte ihre Kindheit jedoch in Berlin, wo sich ihre Eltern schon kurz nach ihrer Geburt niederließen. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schoben die deutschen Behörden die Familie in die damals noch russische Provinz Litauen ab. Nach dem Studium der Architektur an der Technischen Hochschule in Danzig (1924–29) zog es Judith Segall erneut in die deutsche Hauptstadt. Sie arbeitete in verschiedenen Architekturbüros, bevor sie eine Stelle beim Bauamt der Jüdischen Gemeinde Berlin antrat. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es Juden nicht erlaubt gewesen, im Baugewerbe tätig zu sein. Erst danach öffnet sich der Beruf, sodass es in der 1930er Jahren in Deutschland bereits über 450 jüdische Architekten gab. Darunter auch einige Frauen: Neben Judith Segall etwa Lotte Cohn, Genia Averbuch oder Elsa Gidoni-Mandelstam.

Nach ihrer Ausbildung waren sie alle „in führenden Architekturbüros tätig oder unternahmen in Europa ihre ersten Schritte auf dem Weg in die Selbständigkeit“, schreibt die israelische Architekturhistorikerin Sigal Davidi. Doch mit der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten wurden die vielversprechenden Karrieren der Frauen jäh beendet – der Bund Deutscher Architekten schloss alle seine jüdischen Mitglieder aus. Ein Weiterarbeiten war nur noch in der Emigration möglich.

Viele Architekten und Architektinnen wanderten nach Palästina aus. Einige, wie Lotte Cohn und Genia Averbuch, hatten diesen Schritt schon vor der „Machtübernahme“ vollzogen. Nach einer vorübergehenden Inhaftierung folgte Judith Segall ihren Berufskolleginnen 1933. Sie arbeitete zunächst im Büro von Lotte Cohn und konnte sich schnell profilieren, indem sie erste Wettbewerbe gewann. Bald lernte sie die beiden jüdischen Architekten Eugen Stolzer und Oskar Kaufmann kennen. Letzterer hatte die Baupläne für das berühmte Habima-Theater in Tel Aviv geliefert, dem heutigen israelischen Nationaltheater.

Als erste Frau wurde Judith Segall 1935 im Wettbewerb für die zentrale Synagoge in Hadera ausgezeichnet – noch nie vorher war eine Architektin mit der Planung eines solchen Gebäudetyps im damals noch von Großbritannien verwalteten Palästina beauftragt worden. Schon um 1890 herum hatten sich die ersten jüdischen Siedler in „Al Hudara“ niedergelassen. Der aus dem Arabischen entlehnte Name bedeutet „grüner Ort“. Diese Bezeichnung steht allerdings nicht für einen fruchtbaren Landstrich, sondern charakterisierte die sumpfige Gegend um Hadera. Erst in den 1930er Jahren hatte sich der Ort zu einem regionalen Wirtschaftszentrum entwickeln können. Zu dieser Zeit lebten etwa 2.000 Bewohner in der Kleinstadt; viele von ihnen unweit eines als „Karawanserei“ bekannten Gebäudekomplexes aus der ottomanischen Zeit. In Anlehnung an den Stil des historischen Gebäudes wurde 1936 mit dem Bau der zentralen Synagoge begonnen. Seit 1940 versammeln sich die Gläubigen am Schabbat und den Feiertagen in dem ersten, von einer deutsch-jüdischen Frau konzipierten Gotteshaus.

Seitliche Fensterfront des Gebäudes, Foto: Jim Tobias

Nach ihrem Erfolg beim „Synagogenwettbewerb“ erhielt 1937 Judith Segalls Entwurf für den Bau eines neuen Wohngebietes in Tel Aviv den Zuschlag. Die in einer Gartenlandschaft eingebetteten 170 Wohneinheiten im Kiryat-Meir-Viertel zeichnen sich durch eine innovative und an den Bedürfnissen der Bewohner orientierte Konzeption aus – alle Häuser verfügen über Balkone, moderne Einbauküchen sowie nutzbare Flachdächer. Tagsüber lud der Park mit seinem vielen schattenspendenden Bäumen und Sträuchern zum Verweilen ein.

1941 heiratete Judith Segall ihren Kollegen Eugen Stolzer, mit dem sie später das Gewerkschaftshaus in Jerusalem plante und baute. „Ein Mehrzweckkomplex mit harmonischen Proportionen, der die bescheidene Sprache des sogenannten funktionalistischen Stils repräsentiert“, wie die Kunsthistorikerin Edina Meyer-Maril von der Universität Tel Aviv das Gebäude klassifiziert. Mit dem Honorar aus diesem Auftrag konnte das Ehepaar 1957 eine lange ersehnte Europa-Reise finanzieren; Eugen Stolzer verstarb während dieser Reise. Judith blieb in Deutschland und siedelte sich in München an. „Sie kehrte nie mehr zur Architektur zurück“, schreibt Edina Meyer-Maril, „sondern widmete sich sozialen und intellektuellen Beschäftigungen“. Vor 30 Jahren verstarb Judith Segall-Stolzer 1990 im jüdischen Altersheim in München, als völlig vergessene israelische Architektin.

Bild oben: Die nach Plänen von Judith Segall erbaute Synagoge in Hadera, Foto: Jim Tobias

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