Yael Neeman erzählt die kollektive Geschichte der Kibbuz-Kinder
„Wir sprachen immer im Plural. So wurden wir geboren, so wuchsen wir auf, vom ersten Tag an.“ In ihrer in erster Person Plural erzählten Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Kibbuz Yechiam in Galiläa lässt Yael Neeman ihre Leser in den links-sozialistisch geprägten Alltag eines Kibbuz des haSchomer haZair eintauchen. Die Kindern wuchsen nicht bei den Eltern auf, sondern lebten seit Geburt in Kinderhäusern.
Ab der zweiten Klasse arbeiteten die Kinder mit, unterstützten die Kinderpflegerin und unterhielten einen eigenen „Kinder-Agrarbetrieb“, „eine Art Gleichnis, ein Miniaturmodell der wirtschaftlichen Probleme des Kibbuz.“
Neeman beschreibt dieses Aufwachsen wie auf einer Insel, bei der sie nichts außen herum kannte, nicht die anderen Kibbuzim, nicht die Nachbarstadt Ma’alot, wo überwiegend orientalische Juden wohnten.
Ab der siebten Klasse wurden die Kinder aus Yechiam zusammen mit den Kindern drei weiterer Kibbuzim in eine übergeordnete Bildungsinstitution einquartiert, wo sie lebten und lernten. „Zweimal wöchentlich fuhren wir nach Yechiam, um auf den Feldern und in den Kinderhäusern zu arbeiten. Danach besuchten wir unsere Eltern in ihren Zimmern, tranken dort Nescafé, aßen Kuchen, und fuhren wieder zurück zur Institution.“ Intensiv beschreibt Neeman diesen Alltag, das Heranwachsen, die Suche der Jugendlichen in einem System, in dem alles darauf hinausläuft, sie zu Kibbuzmitglieder zu formen.
Und doch entschloss sich Yael Neeman, wie etwa die Hälfte ihrer Generation, nach abgeschlossener Ausbildung und Armee, zum Gehen. „Von einem Moment auf den anderen wurden wir nicht mehr »Kinder« genannt, sondern »Verlasser«. Von Kibbuzkindern wurden wir zu Kibbuzverlassern.“
Mit Archivmaterialien und Fotos erzählt Neeman auch die größere Geschichte des Kibbuz, von seiner Gründung, den Kämpfen gegen arabische Milizen, dem Überfall auf einen Versorgungskonvoi, bei dem 47 Kämpfer und Begleiter getötet wurden. Vom schwierigen Beginn der Landwirtschaft in dem Kibbuz an einem Berg, wo „die geographischen Bedingungen einen Keil zwischen den Menschen und seine Felder“ schlugen. Die physische Distanz zwischen Yechiam und den Feldern habe zwar Schwierigkeiten mit sich gebracht, „doch konnte sie der Bindung der Kibbuzmitglieder zu den Feldern nichts anhaben.“ Dabei zeichnet sie auch ein anderes Bild von Frauen in der Kibbuzgesellschaft als die gängigen Vorurteile pflegen. Wenn auch formal gleichberechtigt, waren Frauen auch im Kibbuz genaue Rollen zugewiesen und „auf den Kibbuzversammlungen im Speisesaal sprachen die Männer, und die Frauen strickten.“
Yael Neemans Buch erschien im hebräischen Original bereits 2011 und hielt sich wochenlang auf den Bestsellerlisten. Es ist dem neu gegründeten Verlag Altneuland Press zu verdanken, das Buch in Zusammenarbeit mit dem Kanon Verlag auf deutsch zu veröffentlichen. Und es könnte aktueller nicht sein.
Nicht nur weil Kibbuzniks auch heute noch Angriffen der politischen Rechten in Israel ausgesetzt sind. „Sie wurden pauschal als »privilegierte weiße Linke« bezeichnet, trotz ihrer einfachen und fast spartanischen Lebensverhältnisse. Meine Eltern lebten in einer 40 Quadratmeter großen Wohneinheit, in größter Bescheidenheit, nachdem sie ihr ganzes Leben dem Aufbau des Kibbuz gewidmet hatten“, so Yael Neeman.
Am 7. Oktober 2023, an jenem schwarzen Schabbat, der Israels Gesellschaft bis heute fest im Griff hat, wurden die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza überfallen. „Viele sagten und schrieben, die Kibbuzniks seien aus einem besonderen, seltenen Holz geschnitzt, was ihnen ermögliche, sich den Gräueltaten des Oktobers als Gemeinschaft zu stellen“, schreibt Yael Neeman in ihrem Vorwort.
Ihr Buch hilft, dieses „Holz“ zu verstehen, die besonderen Menschen aus dem Kibbuz zu verstehen. Eine sehr persönliche und gleichzeitig allgemeine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kibbuz, wunderbar einfühlsam und sprachlich einnehmend formuliert. Wer Israels Gesellschaft verstehen will, muss auch dieses Buch lesen. (al)
Yael Neeman, Wir waren die Zukunft. Leben im Kibbuz, Kanon Verlag / Altneuland Press 2025, 268 S., Euro 24,00, Bestellen?