„Nur nicht zu den Löwen“

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Foto: Ildiko Bognar

Lizzie Doron, geboren 1953 in Tel Aviv, wurde mit ihren Romanen über die ‚Zweite Generation der unmittelbar nach dem Holocaust Geborenen‘ bekannt. Eine Bühnenadaption ihres Werkes „Nur nicht zu den Löwen“ ist derzeit im Theater im Palais Berlin zu sehen.

Von Nea Weissberg

Die schöne Rivi war einst die Geliebte einflussreicher Männer der Zahal, der unantastbaren israelischen Armee. Mit 79 Jahren steht ihr nun der unfreiwillige und endgültige Auszug aus der Wohnung bevor, in der sie ihr gesamtes Leben – ihre Kindheit, Jugend und ihr Erwachsenenleben – verbracht hat. Das Haus soll abgerissen werden. Als Rivi gezwungen ist, ihr Zuhause zu verlassen, entwickelt sie den Wunsch, den Gefährten zu schreiben, die ihr etwas bedeutet haben.

Die Büchse der Pandora ist geöffnet

Eine einsame Protagonistin reflektiert über ihr Familien-, Privat-, Berufs- und Liebesleben, über Selbstakzeptanz, das Älterwerden und die Sicht auf das eigene Selbst. Rivi Greenfeld wurde 1947 in Neve Tzedek geboren. Inzwischen ist Neve Tzedek ein angesagtes Viertel Tel Avivs. Odelia, eine junge arrivierte Unternehmerin und Nachbarin Rivis, repräsentiert eine zielstrebende, selbstbewusste, moderne israelische Frau. Sie treibt als Software-Entwicklerin das Stadterneuerungsprojekt voran. Sie will den Gebäudekomplex gewinnbringend im Luxus-Stil modernisieren lassen.

Greenfield hingegen versucht zwei Theaterstunden lang standhaft zu rebellieren, bis sie unweigerlich aufgefordert wird, aus ihrer Wohnung auszuziehen, weil sie dort alles an ihr Leben mit ihren Eltern in den 1950er und 1960er Jahren bis in die Gegenwart erinnert. Nach und nach beginnt sie, die bereits in Kartons verpackten Gegenstände wieder auszupacken.

„Wir Alten sind dazu bestimmt, Geschichten zu erzählen“

Rivi entwickelt eine ungewöhnliche Widerstandskraft, schreibt Briefe an Odelia und lässt gleichzeitig Seite für Seite ihr Leben Revue passieren. Ihre Empfänger sind ihre ehemaligen Weggefährten.

Und hier beginnt eine andere Geschichte. Greenfelds Eltern glaubten, ihre Tochter hätte einen sicheren Arbeitsplatz, wenn man ihr eine Stelle bei der Armee anböte. Die Gründung der israelischen Verteidigungsstreitkräfte am 31. Mai 1948 ist mit dem Glauben und Vertrauen in einen starken Staat für Juden, in eine siegreiche, schützende Armee verbunden – etwas, das Lizzie Doron in mancher Hinsicht in ihren Büchern in Frage stellt.

Greenfelds langjährige Beziehungen, insbesondere zu verheirateten Männern und hochrangigen Vorgesetzten, prägten ihr Leben. Rivi war ihren Liebhabern stets eng verbunden, wenn auch manchmal mit der verzweifelten Hoffnung auf ein Happy End.

Als drei ihrer Liebhaber sterben, erlebt sie diesen Verlust mitfühlend aus der Perspektive einer Witwe. Sie hegt wenig Groll gegen ihre Verehrer, obwohl die Umarmungen ihrer Liebhaber in ihr die Hoffnung auf einen Verlobungsring weckten. „Nur“ eine Geliebte zu sein, stundenweise begehrt, ein „Schatz“, eine „Puppe“, eine Frau, die gesellschaftlich zum Schweigen gebracht wird – ist eine beidseitige Lebensentscheidung. Rivi kommt zu dem Schluss, dass sie den Rekord für verpasste Gelegenheiten hält.

Der einsame Blick aus dem Fenster

Rivi Greenfeld ist die Tochter von Holocaust-Überlebenden. Der gewaltsame Tod der erstgeborenen Tochter Reisele ihres Vaters im Vernichtungslager macht sie zu einer Ersatztochter, einer „lebenden Gedenkkerze“. Die verzweifelte, unterbewusste, nonverbale Botschaft ihrer seelisch gebrochenen Eltern lautet, sie zu beschützen und wie Rejsele zu sein. Beim Schreiben wird Rivi bewusst, wie trostlos und überwältigend es für sie war, die Last der Rolle des Zweitgeborenen zu tragen, völlig überfordert von der Aufgabe, ihre erstgeborene Halbschwester Rejsele zu ersetzen, die in Auschwitz ermordet wurde.

Und ihre Mutter, die selbst noch immer auf ihren vermutlich in der Shoah ermordeten Geliebten wartet, kann ihrer Tochter wenig emotionalen Beistand bieten. Sie kann ihre eigene Trauer nicht mit ihrem Mann teilen, denn die Trauer von Rivis Vater ist noch intensiver und nimmt den gesamten Raum in der Familie ein.

„Was ist genau ist ein gutes Leben“

„Ima (hebräisch Mama), was ist ein gutes Leben? Hat man ein gutes Leben, wenn man nicht erschossen wird wie Reisele?“

Einem ermordeten Kind als Nachgeborenes neues Leben einzuhauchen, ist prägend und belastend und kann mit einer unstillbaren Sehnsucht nach lebenslanger Anerkennung einhergehen. Rivis Eltern können mit ihrer Tochter nicht über die grausamen, unmenschlichen Gewalterfahrungen sprechen. Die schmerzhaften Erinnerungen belasten ihre Seele tief.

Ein-Personen-Stück

Daphna Rosenthal spielt eindrucksvoll den Monolog in der Rolle der Rivi Greenfield im Ein-Personen-Stück. Großartig in ihrer Sprache, in ihrem Stimmumfang, vom ängstlichen Flüstern bis zu energischen, lauten, aufbäumenden Tönen, in der Bewegung ihres Körpers mit kleinen, tänzerischen Schritten, in bedeutungsvollen, größeren oder minimalistischen Gesten, in der Variation ihrer Mimik von zarter Sanftheit bis zu Hilflosigkeit, Leid und Groll. Es ist ergreifend, wie Rosenthal die Tiefe der Tragik der ‚Zweiten Generation‘ auf die Bühne bringt: einerseits die unterdrückte Trauer, die Tränen, die oft nur in intimster Einsamkeit vergossen werden, um niemandem zur Last zu fallen, immer anderen äußerlich gefallen zu wollen; auf der anderen Seite das verzögerte und zunächst zaghafte Abgleiten in einen empörten und zunehmend verbitterten Abgrund, in Leere und Verlust, ins Ungesehen Sein, in Rivis lebenslange unerfüllte Sehnsüchte als Ersatztochter und als „ewige“ Geliebte sowie die Fähigkeit, als Tochter Verständnis für die Überlebende der Shoah aufzubringen. Gleichzeitig offenbart der dramaturgisch aufgebaute Monolog auf großartige Weise den stets präsenten, schmeichelnden Charme von Rivis attraktivem Auftreten im Umgang mit anderen und ihrer Lebensbeschreibung, als Frau Männern keine Grenzen gesetzt zu haben und trotz allem das noch immer ersehnte Gefühl zu haben, ein vitales, freudvolles Leben führen zu wollen. 

Der Abend ist getragen von einem hohen Maß an Widerstandskraft, die Rosenthal in ihrem Rollenspiel glaubwürdig darstellt. Sie glänzt in ihrem Monolog, verkörpert die Rolle der Rivi authentisch, schafft es, das Premierenpublikum emotional mitzureißen und erhält am Ende zu Recht stehende Ovationen.

Nächste Vorstellung am Samstag, 8. November 2025

Besetzung
DAPHNA ROSENTHAL
Romanvorlage
LIZZIE DORON
Bühnenfassung und Regie
ILDIKO BOGNAR
Bühnenbild
SOPHIA DAFFNER
Kostümbild
TATJANA HAJDUKOVA
Regieassistenz
DOMINIK LESCHKE

Weitere Informationen und Tickets:
https://www.theater-im-palais.de/