Warum verurteilen Menschenrechtsorganisationen weltweit nicht die Gräueltaten der Hamas gegen die Bewohner des Gazastreifens?

0
114
Hamas Exekutierung in Gaza, Screenshot Telegram

Angesichts von Zeugenaussagen, die politische Hinrichtungen und Folterungen von Zivilist:innen in Gaza durch die Hamas belegen, ist das Schweigen großer Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch ebenso rätselhaft wie empörend – und es gefährdet das Leben von Palästinenser:innen.

Von Yariv Mohar

Zuerst veröffentlicht in Haaretz. Übersetzt aus dem Englischen mit freundlicher Genehmigung des Autors von Florian Hessel.

Nach dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas und dem Rückzug des israelischen Militärs aus etwa der Hälfte des Gazastreifens, hat die Hamas die Kontrolle über den größten Teil des Gebiets wiedererlangt.

Seitdem sind zahlreiche bestätigte Zeugenaussagen öffentlich geworden – einige davon durch Filmaufnahmen belegt –, die von Hinrichtungen politischer Gegner:innen, von brutalsten Folterungen von Zivilist:innen auf offener Straße, von Morden oder Prügeln gegen Zivilist:innen, die lediglich Dankbarkeit gegenüber den USA zum Ausdruck gebracht oder die Hamas kritisiert hatten, berichten. Es versteht sich von selbst, dass all dies ohne irgendein ordentliches Gerichtsverfahren geschah.

Angesichts dieser Tatsachen war ich erstaunt, als ich mir die Kanäle von zwei der weltweit größten Menschenrechtsorganisationen, Amnesty International und Human Rights Watch, auf X ansah und feststellte, dass während dieser Artikel geschrieben wurde, dort kein einziger Hinweis auf diese Verbrechen zu finden war – nicht einmal eine erste Erklärung, in der Besorgnis zum Ausdruck gebracht und eine Untersuchung des vorliegenden Materials angekündigt wurde. Ich hoffe, dass entsprechende Untersuchungen im Gange sind und bald Reaktionen folgen werden.

Eile ist hier geboten: Jeden Tag geschehen weitere Verbrechen, und das Schweigen verleiht ihnen einen Anschein von Legitimität.

Dieses Schweigen ist aus offensichtlichen Gründen besonders empörend – wie kann man angesichts solcher Gräueltaten stumm bleiben? Auch wenn Untersuchungen Zeit brauchen, wurden erste Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisationen zu Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in der Vergangenheit weitaus schneller abgegeben, und beschleunigte Untersuchungen sind hier nichts ungewöhnliches. Doch rund zwei Wochen nach dem Waffenstillstand gab es immer noch keinen Kommentar, nicht einmal eine Forderung, dass die Hamas sich an das humanitäre Völkerrecht halten solle.

Das Schweigen ist auch aus strategischen Gründen rätselhaft: Menschenrechtsorganisationen sahen sich in jüngster Vergangenheit einer Flut von Angriffen ausgesetzt – manchmal übertrieben oder ungerechtfertigt –, in denen ihnen vorgeworfen wurde, sich auf Israel zu fixieren, eine unprofessionelle Voreingenommenheit gegenüber Israel zu hegen, die Verbrechen der Hamas herunterzuspielen oder sogar Reputationsmanagement für die Hamas zu betreiben.

Abgesehen von der moralischen und rechtlichen Verpflichtung, die Verbrechen der Hamas gegen Bewohner:innen des Gazastreifens zu verurteilen, ist eine solche Verurteilung für diese Menschenrechtsorganisationen eindeutig auch eine strategische Chance, ihren eigenen Ruf wiederherzustellen, indem sie zeigen, dass ihre Arbeit universell, professionell und unparteiisch ist.

Ein weiterer Grund, warum eine schnelle Reaktion auf die Gräueltaten der Hamas gegen Bewohner:innen Gazas notwendig ist, besteht darin, dass diese Handlungen den Waffenstillstand gefährden und zu einer Wiederaufnahme des schrecklichen Krieges führen könnten, der vielen Menschen in Gaza das Leben gekostet und der noch viele mehr verletzt hat. US-Präsident Donald Trump hat bereits in einer offiziellen Erklärung gewarnt: „Wenn die Hamas weiterhin Menschen in Gaza tötet, was nicht Teil der Vereinbarung war, haben wir keine andere Wahl, als einzumarschieren und sie zu töten.“

Schließlich ist es wichtig, sich laut und deutlich gegen die Verbrechen der Hamas auszusprechen, um eine Botschaft an junge Bewegungen im gesamten Westen zu senden, die im Namen der sozialen Gerechtigkeit, des Gewissens und der Menschenrechte eine einigermaßen vereinfachende Weltsicht vertreten.

Sie verurteilen Israel zu Recht vehement für die Kriegsverbrechen, die es in Gaza begangen hat, doch gleichzeitig spielen sie die Gräueltaten der Hamas herunter, entschuldigen oder feiern sie gar. Diese Darstellung stellt die eine Konfliktpartei als den Bösewicht und die andere als Heiligen oder Opfer dar – ohne die komplexen internen Dynamiken der jeweiligen Gesellschaften zu berücksichtigen.

Diese vereinfachende Weltsicht ist eine moralische Verzerrung, und es besteht die reale Gefahr, dass eine junge Generation potenzieller Befürworter:innen der Menschenrechte unkritisch von einer Erzählung eingenommen wird, die Verbrechen von Akteuren legitimiert, die als Unterstützer der schwächeren Seite angesehen werden (selbst wenn die Hamas ebenfalls Palästinenser:innen massakriert). Dies würde die Universalität der Menschenrechte untergraben.

Für die Hamas hat es einen strategischen Vorteil, dieses jüngere Publikum zu erreichen. Wenn also ihre Verbrechen im Gazastreifen bei der pro-palästinensischen Protestgeneration zu einem Reputationsverlust führen, könnte sie möglicherweise ihre Handlungen überdenken und mäßigen. Mit anderen Worten: Dies könnte Leben retten.

Ich kann Überlegungen zur Notwendigkeit der Wahrung von Legitimität bei Kernzielgruppen nachvollziehen, aber Menschenrechtsarbeit ist kein Beliebtheitswettbewerb und darf niemals zu einem solchen werden. Als Menschenrechtsaktivist:innen sollte unsere Botschaft an junge Menschen, an Palästinenser:innen, an die Hamas und an die Welt klar sein: Wir werden keinerlei Gräueltaten ignorieren; wir werden die Bewohner:innen Gazas nicht im Stich lassen, jetzt, wo die Hamas sie angreift; wir werden nicht zögern, unsere scharfe Verurteilung zum Ausdruck zu bringen.

Ich fordere die Menschenrechtsgemeinschaft auf, die Verbrechen der Hamas gegen die Bewohner:innen des Gazastreifens dringend – laut und unmissverständlich – zu verurteilen, um eine entschiedene Botschaft zu senden.

Dr. Yariv Mohar ist Direktor der Pro-Human Campaign, einer internationalen Koalition gegen Entmenschlichung. Zuvor war er stellvertretender Direktor der israelischen Sektion von Amnesty International.