Wie Lieder „of Grief, Fury, and Love“ die jiddische Sprache missbrauchen

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Daniel Kahn (2023), Foto: Dr. Frank Gaeth / CC BY-SA 4.0

Es gibt Dinge, die scheinbar unvergleichbar sind. Doch wenn man sich wirklich anstrengt, findet man darin innere, eigene Zusammenhänge und Logik. Zum Beispiel: Was verbindet die jiddische Sprache mit Gaza?

Von Bella Liebermann

Jiddisch ist die Sprache der aschkenasischen Juden, eine Art mittelalterlicher Dialekt des Deutschen mit einer Mischung hebräischer und slawischer Wörter, der sich im Laufe der Zeit zu einer eigenen Sprache entwickelt hat. Die jiddische Sprache, die durch die Schoah zusammen mit ihren Sprechern fast vernichtet wurde, bleibt heute als gesprochene Sprache nur im Milieu der ultraorthodoxen Juden bestehen, daneben aber natürlich in Erinnerungen, Liedern und der jiddischen Literatur erhalten.

Gaza ist der Ort der Vorfahren des jüdischen Volkes, Abraham und Isaak. Gaza wurde zum Ort der letzten Heldentaten und des Todes von Samson. Nach der lange Geschichte ist Gaza heute der Ort der Schlacht Israels gegen die Hamas.

In der Antike konnte in Gaza kein Jiddisch bekannt sein, weil es diese Sprache noch gar nicht gab. Nichtsdestotrotz sprachen Araber aus Jaffa und auch Araber aus Gaza im späten 19. und bis Mitte des 20. Jahrhunderts Jiddisch. Warum? Weil es damals für sie die Kommunikationssprache mit ihren jüdischen Nachbarn war. Hebräisch hatte Jiddisch in Israel noch nicht ganz verdrängt und für aschkenasische Juden, die aus Osteuropa nach Palästina flüchteten, war Jiddisch ihre Muttersprache, auch Mameloschn genannt.

Alte Araber aus Gaza versuchten, mit israelischen Soldaten nach dem Sechstagekrieg, Jiddisch zu sprechen. Araber wollten mit jüdischen Israelis, die auch übers Wochenende nach Gaza kamen, Handel treiben. Ausgezeichnete Hotels, erstklassiges Essen, alles, was das Herz begehrt, und Araber, die Jiddisch sprechen! Der israelische Schriftsteller Meir Shalev erwähnt dies wiederholt. Diese goldenen Zeiten sind aufgrund historischer Umstände vorbei. Heute spricht niemand mehr Jiddisch in Gaza. Vielleicht einer der Großväter von den Teilnehmern des Massakers vom 7. Oktober? Das heißt, er spricht es nicht laut, ansonsten riskiert er sein Leben. Aber vielleicht träumt er von den guten alten Zeiten, als Juden nach Gaza kamen und sich frei bewegen konnten.

Was hat Jiddisch also heute mit Gaza gemeinsam? Nur eine besonders ausgeprägte Vorstellungskraft kann Gemeinsamkeiten finden. Doch in unseren unruhigen Zeiten geschehen viele Wunder, und dies ist eines davon.

Eine Reihe von in engen jiddischen Kreisen bekannten Musikern und Künstlern haben ein komplettes Musikalbum aufgenommen, „Lider mit Palestine“, über den „Völkermord“ an den Palästinensern. Der gesamte Erlös des Albums geht an „Gaza Birds Singing“ – ein Projekt, das nach dem 7. Oktober ins Leben gerufen wurde. Das Projekt soll die Kinder in Gaza mit der lebensspendenden Kraft der Musik erziehen und unterstützen. Über den Leiter des Projektes, Ahmed Muin, ist nur wenig bekannt. In Instagram u.a. stellt er Videos mit musizierenden Kindern aus Gaza mit der Kulisse von zerstörten Häusern ein. Auf seiner Webseite beschreibt er seine dramatische Lage. Warum es diesen Krieg gibt und der Angriff auf Israel am 7. Oktober wird mit keinem Wort erwähnt. Der Musiker bittet um Spenden. 

Das Album Lider mit Palestine“ enthält 17 Lieder auf Jiddisch, deren Inhalt überwiegend Mitgefühl für die Kinder Palästinas ist. An der Entstehung des Albums waren in engen jiddischen Kreisen bekannte Musiker beteiligt: Ruby Poltorak, Esther Gottesman, Jordan Wax, Noam Lerman, Josh Waletzky, Rosza Daniel Lang/Levitsky, Michael Alpert, Linda Gritz, Maia Brown, Noam Lerman, Isabel Frey, Esther Wratschko, Benjy Fox-Rosen, Daniel Kahn, Joe Dobkin, Adah Hetko, Éléonore Weill und Ariel Shapiro. Ein Musiker aus dieser Liste wohnt in Berlin, Daniel Kahn. Drei Musiker kommen aus Wien: Isabel Frey, Ester Wratschko und Benjy Fox Rosen, die anderen Musiker leben in Kanada und den USA.

Das erste Lied im Album ist von Ruby Poltorak, Kanada und heißt „Kloglied“ (Klagelied). Auf der Facebook Seite von „Lider mit Palestine“ wurde am 5. August folgender Text veröffentlicht (Original Englisch):    

Dieser Sonntag war Tischa beAv, ein Gedenken an zahlreiche Katastrophen in der jüdischen Geschichte. „Kloglid (Klagelied)“, eines von mehreren Liedern in LIDER MIT PALESTINE, die vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben wurden, betrauert die anhaltende Katastrophe, die das palästinensische Leben zerstört, und den Preis, den unser Schweigen für uns alle bedeutet.“

Ruby Poltorak verweist auf jüdische Feiertage und Traditionen und erklärt: „Ich habe dieses Lied 2022 über die systematischen Bombenangriffe auf Gaza und die Angriffe im Westjordanland geschrieben. An Tischa beAv wird das Buch der Klagelieder gesungen, um den Fall des Tempels zu beklagen. Die begleitenden Klagelieder führen dies auf die eigene Sünde des Volkes zurück: khet sines khinem (Sünde des grundlosen Hasses). Am Versöhnungstag lehrt uns die Liturgie, dass wir nur durch Tshuve (Rückkehr zu sich selbst / Abkehr von falschen Taten), Tfile (Gebet, wörtlich: „sich selbst richten“) und Tsdoke (Gerechtigkeit) das Urteil aufheben können, das wir durch unsere Taten über uns gebracht haben. Die ‚Lieben‘ in diesem Lied ist unsere eigene, vom rechten Weg abgekommene Gemeinschaft. In einem Klagelied heißt es: ‚Ma haya lanu?‘, was sowohl ‚Was ist mit uns passiert?‘ als auch ‚Was ist aus uns geworden?‘ bedeutet.“ 

 Aus dem Text des Liedes :

“Un oyb me git iber undzer traume, fareybikn mir zi nokh tifer in neshome.
Oyb mir veln zikh nit fun ir bafrayen, vos fun undzer neshome vet nokh blaybn?“

“Und wenn mir gut mit unserem Trauma ist, werden wir es für immer behalten, noch tiefer in unserer Seele. Wenn wir uns nicht davon befreien, was wird dann von unserer Seele übrig bleiben?“ (Übersetzung von Bella Liebermann)

Aus dem ganzen Text geht hervor: Wir müssen an uns arbeiten, Gebete lesen und uns auf die Befreiung der Seele zubewegen. Juden sollten den Holocaust nicht als Ausdruck ihrer Zerstörungswut missbrauchen und die Bewohner Gazas, insbesondere Kinder, nicht schädigen. Wenn es gut ist, mit einem Trauma zu leben, dann bleibt das Trauma. Wenn wir uns nicht von der Last der Vergangenheit befreien, wird die Seele zugrunde gehen. Wir müssen uns von der Vergangenheit befreien, sonst wird das Kind weinen (im Refrain).

Im allgemeinen Kontext des Texts möchte ich auf die eine breitere Bedeutung des Liedes hinweisen: Juden instrumentalisieren nicht nur den Holocaust, sondern auch ihre Traumata. Werden diese Traumata verarbeitet (durch Aggression, wie die Autorin schreibt), hat die Seele nichts mehr zu nähren, sie ist leer. Deshalb treten Juden auf der Stelle und sind nicht in der Lage, sich vom Holocaust zu befreien.

Ich habe versucht, die Logik des Textes und der Gedanken von Ruby Poltorak zu ergründen. Das ist ziemlich schwierig, da ich keine Psychotherapeutin bin. Der Text lässt jedoch eine ziemlich verwirrende Gedankenlogik und eine Neuordnung der Begriffe Henker und Opfer oder Selbsthass feststellen.

Das Lied wurde also 2022 geschrieben, das Album voller solcher „Perlen“ erschien im Sommer 2025. Dem Text nach zu folgen, arbeitete die Autorin hart daran, ihre Seele zu befreien, so dass kein Raum für Trauer und Bedauern über den Tod von 1200 Israelis, darunter Kinder, bei dem schrecklichen Massaker vom 07.10.23 blieb. Auch vorherige Bombardierungen aus Gaza auf Israel werden nicht erwähnt – wenn das der Autorin unbekannt ist, soll sie mit den Bewohner von Sderot und sprechen. Oder die Autorin glaubt, dass Drohnen und Raketen nur in eine Richtung fliegen?

Ruby Poltorak ist wirklich in ihrer Seele befreit und veröffentlicht am 25. Juli ein Lied, als wüsste sie nichts über das Massaker vom 7. Oktober.

Das Lied ist im Stil eines Sololied-Rezitativs eines Trauernden bei einer Beerdigung gehalten, wie es aus osteuropäischer Folklore und Filmen über den Holocaust bekannt ist. Die Musik dieser Richtung soll Momente der Erleichterung und des Trostes für die Sänger und ihre Zuhörer schaffen. Doch der verwirrenden Text, sein Kontext und mangelhafter künstlerischer Ausdruck lässt die Botschaft des Liedes unklar und belanglos.

Daniel Kahn aus Berlin schreibt auf Facebook, er sei stolz auf seine Leute, „die ein Jahr damit verbracht haben, dieses großartige Projekt zum Leben zu erwecken! Neue jiddische Lieder für Palästina. Komponiert und gesungen von jiddischen Kulturschaffenden aus aller Welt.“

Ich war mal bei einem seiner Konzerte in Wien. Eindruck: talentiert, durchsetzungsfähig, wild, sehr laut, provokant, radikal, gelerntes Jiddisch mit starkem amerikanischen Akzent, Anspruch auf Originalität. Daniel Kahn, aufgewachsen in Detroit, lebt seit 2005 in Berlin und gründete hier die Band Daniel Kahn & The Painted Birds. Das Repertoire besteht aus einer wilden Mischung von Klezmer, politischem Kabarett und Punk Folk. Er singt auf Englisch und Jiddisch. T-Online findet hier in einer PR-Info endlich mal passende Worte für die zugrunde liegende Musik, „ wie ein sturzbetrunkenes Matrosenorchester, das uneingeladen eine jüdische Hochzeit kapert“.

Daniel Kahn spricht in seinen Interviews über Widerstand und den Kampf für eine gute Sache, Vergangenheit interessiert ihn nicht, wie er in einem Interview sagte. Über die Gründe nach Berlin zu kommen, sagte er: „Natürlich wollte ich auch von der Kunst leben können – und das war hier damals viel einfacher als anderswo, weil Berlin so billig war. Und ein Grund war natürlich: Wenn man Klezmermusik machen will, dann ist man in Deutschland näher dran“.

Es macht ihm Angst, dass die AfD Teil einer internationalen Bewegung ist. Es ist kein deutsches Problem, das ist ein welthistorisches Problem. Er sieht keinen großen Unterschied zwischen dem, was hier, in Amerika, in Frankreich oder anderswo in der Welt passiert und Gründe dafür sind: Fantasieverlust. „Wir fürchten uns vor Flüchtlingen, vor Islamisierung, Kulturwandel und Blabla. Wir – und das ist ein ganz anderes wir – sagen zu diesen Ängsten Blabla, dafür haben wir Angst vor Rassismus, Faschismus, Nationalismus. Aber wir alle wagen es nicht mehr, von einer besseren Welt zu träumen.“

Auf Musik von Helene Fischer angesprochen, sagte Daniel Kahn im Interview: „Gerade dass diese Lieder unpolitisch sein wollen, macht sie politisch. Politik heißt doch nichts anderes als: Wie betrachtet man die Welt? Und zu fragen: Welche Wahrheiten werden verbreitet? Welche Machtverhältnisse werden propagiert?“

Zu „Lider mit Palestine“ hat Daniel Kahn „got-bruder“ ( Godbrother) beigesteuert.

Ein Auszug (Übersetzung von Bella Liebermann):

… Du schwörst Zion einen Eid, mit einer Waffe in der Hand.

Oh, Gottbruder, wo ist dein Boden?
Du stiehlst Judäa, mit Schaufel und Schwert.

Die Herzen sind hart, die Hände blutig,
sie werden nie gereinigt werden.
Wer hat mit seiner Seele bezahlt,
für solchen Lehm, für solch ein Zuhause.

Stellen wir uns vor: der Songwriter Daniel Kahn lebt bequem in Berlin, nimmt an Festivals teil, macht auf seiner Art Klezmer, politisches Kabarett und Punk Folk. Er beschuldigt Israelis, der Aggressor zu sein, herzlos zu sein, das Land Judäa zu stehlen, mit Blut an den Händen. Er ruft israelische Soldaten zur Haltung auf.

Ich spare hier Zeit, um die Geschichte von Judäa widerzugeben, wer wem was gestohlen hat und die historischen Umstände dazu. Ich spare hier Zeit, um zu erzählen, wie viele Menschen am 07.10.23 den Märtyrertod starben und wie viele in Gefangenschaft gerieten, wie viele israelische Soldaten bei der „Drecksarbeit“ in Gaza im Kampf gegen die Hamas umgekommen sind und wie viele nach den Schrecken, die sie erlitten hatten, Selbstmord begangen haben. In Gaza ist Krieg. Dieser Krieg wurde Israel von der Hamas aufgezwungen. Die Schrecken des Krieges treffen alle Beteiligte. 

Wenn ich eine nette Ballade im amerikanischen Stil mit diesem primitivem Text im Stil der didaktischer Fabel höre, die die jiddische Sprache als Alibi für dieses „bla-bla“ verwendet, wird mir übel. Es ist eine Frage der Betroffenheit, von Geschmack und von Gewissen. Da kann ich dem Künstler seine Frage in o.g. Interview zurückstellen: Welche Wahrheiten werden verbreitet? Welche Machtverhältnisse werden propagiert? Was für Gründe dazu:  Phantasieverlust oder Realitätsverlust? Die Belehrung von Daniel Kahn ist fehl am Platz, wie sein Appell zur allgemeine Brüderlichkeit aus Berlin. Mit wem möchte er Brüderlichkeit schließen: mit Hamas? Die Musik des Liedes ist richtig nett für denjenigen, der den Text nicht versteht. 

Noch ein Lied aus Österreich: Isabel Frey, Esther Wratschko & Benjy Fox-Rosens „goles-himen“ (Diaspora Hymn) .

Frey stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie und wurde in Wien geboren. Als junge Frau war sie in Israel in einem Kibbuz, das Land war fremd für sie, sie kehrte zurück nach Österreich und studierte in Amsterdam. Sie ist nicht nur Musikerin, sondern auch Ethnomusikologin und Kulturwissenschaftlerin und recherchiert revolutionäre jiddische Musik und jüdische sozialkritische Bewegungen, was sich auch in ihren Konzerten wiederspiegelt.

Zur Veröffentlichung der „Lider mit Palestine“ schreibt sie auf Facebook: „Dieses Album ist ein kollektiver Aufschrei der Verweigerung – ein Schofarstoß, der andere auffordert, Stellung zu beziehen. Es entstand aus Gesprächen, der Dringlichkeit und der Solidarität unter jiddisch singenden Künstlern, die angesichts der unerbittlichen Bombenangriffe, der langjährigen Belagerung, die zu Hungersnöten führte, und der Massaker an Menschen, die einfach nur versuchten, die wenigen ihnen zustehenden Rationen zu ergattern, nicht schweigen konnten. (…) Wir wissen, dass eine Zusammenstellung von Liedern die Zerstörung nicht aufhalten wird. Aber es ist eine Möglichkeit zu zeigen, dass es eine Gemeinschaft jüdischer Musiker gibt, die es ablehnen, dass dies in unserem Namen getan wird, und die sich der Instrumentalisierung jüdischer Traumata und Erinnerungen zur Rechtfertigung widersetzen.“

Isabel Frey verwendet die Melodie der israelischen Nationalhymne „Hatikvah“ mit eigenem Text auf Jiddisch. Hier ist Übersetzung von mir:

„Dort, wo wir leben, ist unsere Heimat.
Unsere Aufgabe ist Widerstand.
Wir brauchen keine Armeen, wir wollen keinen Staat.
Unsere Stärke kommt nicht von Artillerie.
Hier in der Diaspora ist unsere Heimat.
Freiheit ist der Ziegelstein, und Liebe ist der Lehm.
Raus aus den Gefängnissen aller Nationalstaaten.
Ringsum ist Jerusalem.“

Dieses Lied kann man als Parodie auf die israelische Hymne betrachten. HaTikwa, die Hoffnung, ist seit 1897 Hymne der zionistischen Bewegung. Am 14. Mai 1948 wurde sie zur Nationalhymne Israels erklärt. Die haTikwa wird nicht nur in Israel, sondern auch in der Synagogen der Diaspora gesungen, auch am Gedenktag für die Gefallenen und am Unabhängigkeitstag Israels, auch auf verschiedenen Demos. Die Hymne hat eine starke kulturelle und historische Bedeutung für das jüdische Volk und den Staat Israel.

Eine Parodie auf diese Hymne, die auf Memri dokumentiert ist, hat mich stark bedrückt. Diese Parodie wurde mit dem Titel „Das Ende der Hoffnung“ausgestrahlt. Hier wird die Musik der Hymne von einem Video der Al Quassam Brigaden, einem militärischen Flügel der Hamas, begleitet. Im Film sind Juden zu sehen, die nach Russland und Deutschland deportiert werden. Am Anfang des Filmes schmeißt ein palästinensisches Kind mit Kufiya, voll im Intifada-Rausch, Steine in Richtung Israel. Statt Gesichter der Soldaten sieht man nur Asche. Am Ende des Filmes wird eine israelische Fahne demonstrativ verbrannt.

Frey provoziert auf ihre eigene Art und Weise, verurteilt jüdischen Nationalismus („Wir brauchen keine Armeen / Wir wollen keinen Staat“) und kritisiert damit die bloße Existenz des Staates Israel.

Aber vielleicht versuchen doch die Künstler in diesem Album nur, sich von allen Ängsten des Krieges und von allen anderen Problemen der Gegenwart zu befreien? Wagen es, von einer besseren Welt, von Widerstand und Rebellion zu träumen? Für andere Menschen und auch Musiker, die mehrere Male im 20. Jh. verschiedene Arten der Rebellion und in Folge des Totalitarismus erlebt haben, weckt diese Sichtweise ganz anderes als Solidarität, sondern verlangt nach Wachsamkeit, Abstand und Haltung.

Diese Lieder sind ein Weckruf, genauer hinzusehen. Dabei aktiv zu sein bedeutet nicht, sich von der Realität blenden zu lassen. Verantwortliche für alle Tragödien der Welt suchen und nicht selber dabei beteiligt zu sein, ist reine Spekulation.

Letztendlich sind linke Klischees in diesem Album voll präsentiert: Völkermord, Hunger in Gaza, Schrei nach kollektivem Protest gegen Israel, Träume von abstrakter Freiheit und Frieden. 

Aber der Begriff der Solidarität wird abgewertet, wenn er in Wirklichkeit nur durch die Fantasie einer gewünschten gemalten Welt und Illusionen gestützt wird. Nur Protest und Rebellion, parfümiert mit dem gelernten Jiddisch und netter Musik, ist zu wenig, um zu überzeugen. Auch die anderen Lieder in diesem Album, wo Erinnerungslücken bezüglich der Realität nur den Antisemitismus bedienen, haben mit Freiheit der Kunst nichts zu tun und sind politisch in ihrer Aussage.

Der tunesisch-jüdische Schriftsteller Albert Memmi, ein großer Denker des 20. Jahrhunderts, entlarvte schon früh die Probleme der Linken. In seinem Essays unter dem Titel „Juden und Araber“ äußert er, dass „Israel zu zerstören, um die Palästinenser zufrieden zu stellen, wäre so, als wolle man mit den Mitteln eines Verbrechens einen Ausgleich schaffen.

Und er warnte: „Schuld wird giftig, wenn sie zur Blindheit führt“. 1958 veröffentlichte Memmi sein Buch „Das koloniale Problem und die Linke“ und schrieb über die jüdischen Linken: „Niemand kann ihn (Anm.: den Linken) irgendwie verdächtigen, er würde an sich und sein Volk denken. Er kämpft bedingungslos für die ganze Menschheit… Juden auf der Seite der Linken haben oft dankbar diese Bedingung akzeptiert, trotz ihrer offensichtlichen Torheit…Gibt es eine dümmere oder künstlichere Politik als Jemanden aufzufordern, nur gegen solche Ungerechtigkeit zu kämpfen, deren Opfer er nicht ist?“ Diese Gedanken von Albert Memmi scheinen mir auch heute aktuell.

Was treibt den Musiker an? Der Wunsch nach Originalität? Provokation? Oder auch Realitätsverlust? Blindheit nach Freud: Traumata oder falsche Überzeugungen, die zur Entstehung von Fehlinterpretation führen können?

Jiddisch als Sprache wurde oft als ideologische Stütze von der jüdischen linken Bewegung betrachtet. Mit dieser Sprache wollten sie sich dem Zionismus widersetzten, als sich in Palästina mehr und mehr das moderne Hebräisch durchsetzte.

Dem folgen die Musiker von diesem Album, wo die jiddische Sprache und Musik zu politischen Zwecken instrumentalisiert und missbraucht wurde.

Aber zurück zum Jiddisch!

„Jede Sprache ist etwas Besonderes, eine Tür zu einer neuen, eigenen und zunächst fremdartigen Welt. Ein herausragendes Glanzlicht unter allen Sprachen ist das Jiddische, die Sprache der osteuropäischen bzw. aus Osteuropa stammenden Juden. Die jiddische Sprache besitzt ein ganz eigenartiges Flair, ist voller Überraschungen, voll Herz und voll Humor – und leicht zu erlernen! 

Zum dib sogt me GANEV, wajl er ganevet, woß im nit gehert,
un er dergejt sich arg, wenn di taš NEBECH is šoin gelert.
Un DALESS, ß’is di armut, sej kann trefn ajedn gor sejer,
nu, asoi lernt er dan jiddiš, ß’is jo nit gor asoi šwer!“

(Aus Ralf Lang und Chaim Frank)3

Zum Dieb sagt man „Gauner,“ weil er ergaunert, was ihm nicht gehört;
und er wird sich ärgern, wenn die Tasche leider schon geleert ist.
Und „Daless“, es ist „die Armut,“ kann jeden stark treffen,
nun, so lernt er dann Jiddisch, das ist ja gar nicht so schwer.

(Übersetzung von Bella Liebermann).

Bella Liebermann, Autorin, Musikerin, Organisatorin und Interpretin im Klezmer-Ensemble KolColé (Klang aus Colonia, Köln), Komponistin und Sozialpädagogin. Zu ihren Veröffentlichungen zählt u.a. „Das Trauma der Holocaust-Überlebenden: Ihre Anamnese am Beispiel des narrativen Interviews“ (Edition Neuer Diskurs 2011), der Roman „Das Kupfermeer“ und „Eine Rose auf dem Weg“ (aus einer Forschung mit dort gesammelten jüdischen Liedern).