
Die nächsten Wahlen zur Knesset sollen im Oktober 2026 stattfinden. Für manche Politiker hat der Kampf um die Stimmen der israelischen Wähler aber schon längst begonnen. Und manche äußern Zweifel, dass der Urnengang überhaupt wie geplant stattfinden wird.
Von Ralf Balke
Das Datum steht schon seit Langem ganz offiziell fest: Am 27. Oktober 2026 werden die Israelis die nächste Knesset wählen – vorausgesetzt, die aktuelle Regierung wird bis zum Ende ihrer Legislaturperiode auch durchhalten, was in Israel nicht immer selbstverständlich ist. Während es manche kaum abwarten können, dass der Urnengang stattfindet, blicken andere wohl eher sorgenvoll auf dieses Datum. Einer von ihnen dürfte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sein. Denn seine Partei, der Likud, verzeichnet seit Monaten, genauer gesagt seit dem 7. Oktober 2023, miese Umfragewerte und würde statt der 36 Sitze im Parlament, die man im Herbst 2022 gewinnen konnte, derzeit auf gerade einmal 24 bis 25 der 120 Mandate kommen. Bei manchen Stimmungsbarometern in den vergangenen 24 Monaten waren es sogar noch viel weniger. Auch der spektakuläre Zwölf-Tage-Krieg mit dem Iran im Juni konnte wenig daran ändern. Oder anders formuliert: Die Popularität des amtierenden Premiers ist im Keller, und das auch kontinuierlich. Seine strikte Weigerung, Verantwortung für die Versäumnisse zu übernehmen, die zu der Katastrophe im Herbst vor zwei Jahren führten, seine stetigen Angriffe auf den Obersten Gerichtshof, aber vor allem die Fortführung des Krieges im Gazastreifen sowie seine Haltung in der Frage, wie die letzten Geiseln aus der Gewalt der Hamas befreit werden könnten, haben dafür gesorgt, dass die Zustimmungswerte sich nicht verbesserten.
Koalitionspartner Bezalel Smotrich muss sich ebenfalls Sorgen machen. Dessen Partei, die Religiösen Zionisten, bewegt sich seit Monaten in den Umfragen bei unter 3,25 Prozent der Stimmen, was einen Wiedereinzug in die Knesset derzeit ziemlich unwahrscheinlich erscheinen lässt. Anders dagegen die beiden Vertreter der Ultraorthodoxie in der Regierung. Sowohl die sephardische Shass als auch die aschkenasische Partei Vereintes Torah-Judentum kämen auf ähnliche Ergebnisse wie 2022, was wenig überrascht, da sie eine relativ stabile Wählerbasis haben, sodass starke Schwankungen ohnehin ausbleiben. Der einzige, der sich über eine wachsende Popularität freuen kann, ist ausgerechnet der Rechtsextremist Itamar Ben Gvir. Seine Zustimmungswerte liegen stets über dem Ergebnis von vor drei Jahren. Trotz der chronischen Unzuverlässig von Prognosen in Israel lässt sich daher eines sagen: Die amtierende Koalition kommt in allen Umfragen seit vielen Monaten auf keine Mehrheit mehr.
Manche Beobachter der politischen Szene, aber ebenso potenzielle Herausforderer Benjamin Netanyahus äußern daher bereits Bedenken, dass die Wahlen wie geplant überhaupt stattfinden werden. Einer davon ist Ex-Ministerpräsident Naftali Bennett, der gerade an seinem Comeback arbeitet und eine neue Partei gegründet hat, die dem Likud derzeit in Umfragen gefährlich nahekommt. Am Wochenende schrieb er darüber in den sozialen Medien. „Lassen Sie mich klar sagen: Niemand wird die Wahl verschieben oder stören dürfen“, so Naftali Bennett. Ferner wendete er sich an „alle Vertreter des Sicherheitsapparates, Polizeibeamten, Beamten, Richter und Mitglieder des Wahlausschusses“ und appellierte: „Schützen Sie weiterhin das Gesetz und den Staat“. Er sei sich „des enormen Drucks, der auf Ihnen lastet“, bewusst, lieferte aber keine weiteren Informationen darüber, inwieweit die Wahlen wirklich zur Disposition stehen könnten, weshalb Verteidigungsminister Israel Katz als auch Kommunikationsminister Shlomo Karhi ihn auch der Verleumdung und Stimmungsmache beschuldigten.
Eigentlich ist die rechtliche Lage in dieser Frage eindeutig: Für eine Verschiebung des Wahltermins ist eine Mehrheit von mindestens 80 Abgeordneten in der Knesset notwendig, so jedenfalls schreibt es eines der „Basisgesetze“ vor, die quasi Grundgesetzcharakter haben, und genau diese Zahl dürfte Benjamin Netanyahu im Moment als auch in Zukunft nicht so schnell zusammenbekommen. Doch vielleicht könnte der Verweis auf „besondere Umstände“, sprich der anhaltende Krieg mit der Hamas, einige dazu bewegen, sich einer entsprechenden Initiative des Ministerpräsidenten anzuschließen. So verweist unter anderem Raoul Wootliff, Kommentator in der „Times of Israel“, auf historische Präzedenzfälle, beispielsweise 1973, als die Knessetwahlen aufgrund des Yom-Kippur-Krieges um zwei Monate verschoben wurden sowie die ursprünglich für den Oktober 2023 angesetzten Kommunalwahlen in Israel wegen des Terrorangriffs der Hamas. „Er könnte auch mit Zuckerbrot und Peitsche vorgehen: politische Posten oder finanzielle Zuwendungen versprechen oder mit Drohungen arbeiten , um die Parteien auf seine Linie zu zwingen“, so Raoul Wootliff weiter. „Dies wäre zwar höchst umstritten und könnte eine Verfassungskrise auslösen, aber Netanyahu hat bereits in der Vergangenheit seine Bereitschaft gezeigt, Israel in solche Krisen zu stürzen, nur um seine Herrschaft zu sichern.“ Der Ministerpräsident habe wiederholt darauf gepocht, dass der Krieg bis „zu einem vollständigen Sieg“ weitergeführt werden müsse, wobei es keine Angaben über eine Dauer oder Ähnliches gibt.
Der Verweis auf einen andauernden nationalen Notfall oder den weiteren Kriegszustand im Gazastreifen wären mögliche Szenarien sein, die Benjamin Netanyahu dienen könnten, den Wahltermin zu verschieben. Allein die Tatsache, dass Kommentatoren in den Medien oder führende Oppositionspolitiker wie Naftali Bennett, der gewiss nicht im Ruf steht, ein Linker zu sein, darüber spekulieren oder Befürchtungen äußern, zeigt, was nicht nur sie dem Ministerpräsidenten alles zutrauen, damit dieser an der Macht bleibt. Denn auch die Personalpolitik von Benjamin Netanyahu verweist in eine solche Richtung: Keine Person darf einen Posten im Kabinett erhalten, die ihm in irgendeiner Weise politische gefährlich werden könnte, genauer gesagt zu einem potenziellen Herausforderer oder Nachfolger des „ewigen“ Premier, sprich, ihm selbst, heranwachsen. Noch nie in seiner Geschichte wurde Israel deshalb von einer Riege Ministerinnen und Minister regiert, deren einzige Qualifikation es zu sein scheint, als Sprachrohr oder Marionette von Benjamin Netanyahu zu funktionieren. Beispielhaft dafür ist Verteidigungsminister Israel Katz, der allein durch markige Sprüche auffällt, aber ansonsten – was nicht unwesentlich ist in diesem Ressort – über keinerlei militärische Expertise verfügt. Oder sie missbrauchen ganz offen ihren Posten, um sich materielle Vorteile verschaffen – so wie May Golan, Ministerin für soziale Gleichheit, deren Mitarbeiter auch noch ganz nebenbei einen florierenden Drogenhandel aufgebaut hatten. Ihr Verhalten spiegelt das des Ministerpräsidenten im Kleinen wider: Selbst zu Zeugenaussagen erscheinen manche von ihnen wie die Likud-Abgeordnete Tally Gotlib schon nicht mehr, weil sie sich als über dem Gesetz stehend betrachten.
Auch eine weitere Personalie wird im Kontext Wahltermin als problematisch betrachtet, und zwar der von Benjamin Netanyahu protegierte David Zini als Wunschkandidat für den Posten des Chefs des Inlandgeheimdienstes Shin Bet. Dessen Ernennung stieß auf die explizite Kritik von gleich vier seiner Vorgänger sowie zahlreicher hochrangiger Reserveoffiziere. Der Ministerpräsident will aber den als „messianisch“ geltenden David Zini auf jeden Fall an der Spitze des Shin Bet sehen, weil er den 51-Jährigen anders als den geschassten Vorgänger Ronen Bar als „einen der Unseren“ begreift. Damit wären innerhalb von wenigen Monaten so gut wie alle Top-Positionen bei den Geheimdiensten und der Armee mit Personen besetzt, die vor allem Benjamin Netnayahu treu ergeben sind und sich nie trauen würden, wie Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant beispielsweise, ihn zu kritisieren. Und noch etwas wird befürchtet: Der Premier könnte auf die Dienste eines ihm willfährigen Shin-Bet-Chefs zurückgreifen, um seine Herausforderer auszuspionieren. „Ronen Bar berichtete mehrfach, dass Netanyahu versucht habe, die Leiter des Shin Bet davon zu überzeugen, undemokratische Maßnahmen gegen seine politischen Gegner und gegen Protestaktivisten zu ergreifen, deren Demonstrationen und Trolling ihn und seine Familie seit einem Jahrzehnt in den Wahnsinn treiben“, schreibt Amos Harel in „Haaretz“
Dazu passen auch einige Gesetzesinitiativen, die der Ministerpräsident, der Verteidigungsminister und der Minister für nationale Sicherheit angestoßen haben. Demnach können Offizieren, die in der Armee, einem der Geheimdienste oder der Polizei tätig waren, der Rang abgesprochen oder die Pension gestrichen werden, wenn sie in irgendeiner Form „rebellieren oder zur Insubordination aufrufen würden“. Die Wortwahl lässt bereits reichlich Spielraum für Interpretationen. Aber weil oftmals Personen aus der Armee oder den Geheimdiensten nach einer gewissen Karenzzeit in die Politik wechseln, will man auf Basis einer solchen Regelung ihnen bereits jetzt Schwierigkeiten bereiten. Die Gesetzesinitiative, die von Israel Katz eingereicht wurde, wird mit einem Namen in Verbindung gebracht, gegen den sich diese eindeutig zuerst richten würde, und zwar Yair Golan, Vorsitzender der Partei Die Demokraten, dem als Generalmajor der Reserve vom Verteidigungsminister persönlich nach kritischen Äußerungen der Zugang zu jeglicher militärischer Einrichtung verboten wurde.
Last but not least lässt auch die Missachtung und Ignoranz gegenüber dem Obersten Gerichtshof und dessen Urteile nichts Gutes erwarten, falls die Wahlen wie geplant Ende Oktober 2026 stattfinden werden, Benjamin Netanyahu aber als Verlierer aus diesem Urnengang hervorgehen würde. Dann gibt es ein weiteres Szenario, wonach er das Ergebnis der Wahlen einfach nicht anerkennen wird und das alles zu einem Betrug erklärt, ganz nach dem Vorbild von Donald Trump, der seine Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen von 2020 nicht akzeptieren wollte.