Die Beduinen gehören zu den am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppen in Israel. Viele von ihnen leisten freiwillig Militärdienst. Dennoch befinden sie sich in einer prekären Situation mit wenig Aussicht auf Besserung.
Von Ralf Balke
Beduinen – das klingt erst einmal nach nomadischen Leben in der Wüste, wobei oftmals die Klischees von Freiheit und Verbundenheit mit der Natur das Bild überlagern. Die Realitäten sehen dagegen oft anders aus, auch in Israel, wo Beduinen nicht nur eine der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppen repräsentieren, sondern zugleich die sozial schwächste. Wer mit dem Wagen südlich von Beer Sheva unterwegs ist, kann sich einen Eindruck davon machen. Links und rechts der Straße sieht man Ansammlungen von provisorisch wirkenden Blechhütten, in denen viele von ihnen leben müssen. Der Müll und die Generatoren sind weitere Indizien dafür, dass es keine öffentliche Versorgung gibt, diese Orte quasi abgehängt von Wasser und Strom sind, ebenso vom Bildungssystem. Offiziell existieren sie auch gar nicht, weshalb ihre Bewohner immer wieder vertrieben werden. Aber auch manche Siedlungen der Beduinen, die bereits seit Jahrzehnten existieren, einige davon sogar aus der Zeit vor 1948, werden nicht als solche von den Behörden anerkannt.
Dabei ist ihre Zahl alles andere als unbedeutend: Über 210.000 Beduinen leben im Land, die absolute Mehrheit, und zwar mehr als 150.000 im Negev. Weitere 50.000 finden sich in Galiläa und der Jesreelebene und ungefähr 10.000 verteilt im Zentrum. Die NGO Adalah – The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel spricht sogar von 300.000. Sie sind die Nachfahren der 15.000 bis 20.000 Beduinen, die sich nach 1948 auf dem Gebiet Israels wiederfanden und 1954 auch die israelische Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Die neu gezogenen Grenzlinien bedeuteten für sie zugleich ein Ende ihrer traditionellen nomadischen Lebensweise, weil man aus den verschiedensten Gründen, vor allem aber wegen der Sicherheitslage, nicht einfach von A nach B mehr weiterziehen konnte.
Gleichzeitig gab es seitens der verschiedenen israelischen Regierungen Bestrebungen, sie sesshaft zu machen. Etwa zwölf Kilometer nördlich von Beer Sheva wurde 1972 eigens für sie die Stadt Rahat gegründet, die heute aktuell rund 80.000 Einwohner zählt. Dazu kommen weitere sechs Kommunen, die exklusiv von Beduinen bewohnt werden. Trotz ihrer Größe und mancher Erfolge steht Rahat exemplarisch für die Probleme der beduinischen Gesellschaft. Einerseits ist sie die ärmste Stadt Israels, ein Resultat jahrzehntelanger Vernachlässigung durch den Staat, der wenig dagegen unternimmt, dass laut israelischer Statistikbehörde etwa 80 Prozent aller beduinischen Kinder insgesamt in Armut aufwachsen. Andererseits ist Rahat aufgeteilt in 33 verschiedene Viertel, die allesamt – mit Ausnahme eines einzigen – von den Angehörigen eines Clans bewohnt werden, dessen Anführer dann auch über das Leben dort das Sagen hat. Die gesellschaftlichen Strukturen sind weitestgehend konservativ, die Ra’am Partei, der politische Arm der Islamisten im Süden des Landes mit Mansour Abbas an der Spitze, hat hier ihre Anhängerschaft.

Die Viel-Ehe ist üblich und die Geburtenrate unter Beduinen galt lange Zeit als die höchste in ganz Israel. 1998 lag sie laut der israelischen Statistikbehörde bei durchschnittlich 10,6 Kinder pro Frau, 2,5-mal so viel wie bei arabischen Israelis und fast viermal so viel wie bei jüdischen Israelis. Mittlerweile hat sie sich aber fast halbiert, ein Indiz dafür, dass Frauen anders als früher eine Ausbildung erhalten und zunehmend erwerbstätig sind. „Es entwickelt sich so etwas wie eine weibliche Beduinen-Mittelschicht“, betont Sarab Abu-Rabia-Queder, Professorin und Bildungsforscherin an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. „Das sieht man an Anwältinnen, Psychologinnen und anderen. Die Auswirkungen betreffen nicht nur die Frauen selbst, sondern sind weitreichender: Mehr Gleichberechtigung ist auch ein ermutigendes Vorbild für die Kinder.“ Rund 70 Prozent aller beduinischen Studierenden an der Ben-Gurion-Universität sind mittlerweile weiblich.
Die Stadt Rahat steht aber für noch etwas: Sie war auch der mit am weitesten vom Gazastreifen gelegene Ort, zu dem Angehörige der sogenannten Qassam-Brigaden am 7. Oktober 2023 gelangen konnten. Denn die Terroristen der Hamas nahmen ebenfalls die Beduinen ins Visier, die trotz der Tatsache, dass es sich bei ihnen um sunnitische Muslime handelt, ermordet wurden. Unter den Opfern des Massakers an diesem Tag befanden sich 21 Beduinen, darunter auch das jüngste: die gerade erst 14 Stunden alte Naama Abu Rashed. Weitere sechs wurden in den Gazastreifen verschleppt, allein vier aus einer einzigen Familie.

Auf der einen Seite brachten diese Ereignisse Beduinen und jüdische Israelis zusammen, weil viele im Negev sich untereinander spontan halfen und gegenseitig unterstützten, in der Trauer um verloren Angehörige zusammenkamen. Auf der anderen Seite zeigten sich aber die Vernachlässigung und Ignoranz seitens staatlicher Institutionen. So gibt es weiterhin kaum Schutzräume für die beduinischen Bewohner, egal ob in Rahat oder einer offiziell nicht anerkannten Ortschaft, falls Raketenbeschuss droht. Oft scheitert es auch daran, dass der Staat einfach keine Baugenehmigungen dafür erteilt. So zählt ganz Rahat mit seinem etwa 80.000 Einwohnern gerade einmal acht Schutzräume. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass es sieben Tote unter den Beduinen gab, als die Hamas nach dem 7. Oktober 2023 Raketen ins israelische Kernland abfeuerte und dass das einzige Opfer des ersten Angriffs des Iran im April 2024 ein damals sieben Jahre altes Beduinenmädchen namens Amina Alhasoni war, das durch Schrapnells schwer am Kopf verletzt wurde. Niemand aus der Politik zeigte sich bei der Familie, um sein oder ihr Mitgefühl auszudrücken. Es sollte ein Jahr dauern, bis das Kind, das weiterhin motorisch eingeschränkt bleibt, aus dem Krankenhaus und der Rehabilitation entlassen werden konnte.
„Nach dem 7. Oktober gab es keine Angebote für uns Beduinen“, berichtete ebenfalls Wahid al-Huzail, ein ehemaliger Oberstleutnant der israelischen Armee, der wie so viele andere Beduinen in einer Aufklärungseinheit gedient hatte, im Rahmen eines Programms mit dem Arbeitstitel „Stories That Bind Us: Memory and Dialogue of October 7 at Heritage Sites“, vor wenigen Monaten ausgerichtet am Joe Alon Center nahe des Kibbuz Lahav. „Niemand ging ans Telefon. Es gab null Unterstützung, gar nichts. Wir mussten uns selbst um alles kümmern.“ Also richtete man eine Art Notfall-Krisenzentrum ein, um Vermisste aufzuspüren, erste Hilfe zu organisieren und Verwundeten zu helfen. Erst dann gab es Unterstützung von einigen Behörden, aber vor allem von NGOs, um beduinischen Terroropfern psychologische Beratung, finanzielle Hilfe und Rechtsbeistand bietet. Aber noch wirkungsvoller als die Hilfe, die man erhielt, war die Hilfe, die Beduinen leisteten. Während manche in Israel, allen voran die rechtsextremen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich von drohenden Unruhen in arabischen Städten sprachen, geschah genau das Gegenteil. Beduinische Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter behandelten die Verwundeten. Und viele beduinische Reservisten meldeten sich ohne zu zögern zum Dienst.
Dabei unterliegen Beduinen nicht wie jüdische Israelis, Drusen oder Tscherkessen der Wehrpflicht. Sie dienen freiwillig. Schätzungsweise 1.650 von ihnen sind derzeit in der israelischen Armee aktiv, die allermeisten in Spezialeinheiten wie der „Einheit 585“, die Aufklärungsarbeit im Negev leistet, früher in der mittlerweile aufgelösten „Einheit 300“, die überwiegend aus Drusen, Tscherkessen und Beduinen bestand und ebenfalls in Wüstenregionen aktiv war. Mehr als 110 Beduinen sind bisher im Rahmen von militärischen Einsätzen gefallen. Manche Clan-Vorsteher unterstützen die Karrieren von Beduinen bei der Armee, bieten sie doch eine Chance zur Ausbildung und finanziellen Absicherung, die ihnen ansonsten fehlt. Denn die Arbeitslosigkeit in Städten wie Rahat kann schnell die 30-Prozent-Marke überschreiten.

Ihre Beiträge zur Landesverteidigung schützen Beduinen trotzdem nicht vor der Willkür mancher Behörden, die noch einmal gesteigert wurde, seitdem die aktuelle Regierung im Amt ist. Einige politischen Vertreter der Beduinen betonen, dass sich die Lage nach Beginn des Krieges im Gazastreifen für sie sogar noch weiter verschlechtert habe. Laut der NGO Negev Coexistence Forum for Civil Equality (NCF) konnte man 2024 fast wöchentlich Maßnahmen gegen nicht offiziell anerkannte beduinische Ortschaften statt. Allein in den ersten sechs Monaten zählte man den Abriss von 2.007 Häuser ohne Entschädigung oder Ähnlichem – im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 1.767 Abrisse. Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, nahm sogar selbst einmal an der Zerstörung eines nicht anerkannten Dorfes in der Nähe von Tel Arad im Negev teil und bezeichnete diese als „heilige Arbeit“. Die Bewohner sollten „verstehen, dass wir hier regieren, dass es in diesem Land Herren gibt“.
Das einzige, was sie immer wieder hoffen lässt, ist die Tatsache, dass es in der israelischen Zivilbevölkerung zunehmend Aufmerksamkeit für die prekäre Situation vieler Beduinen gibt. Selbst IsraAID, eine Hilfsorganisation, die eigentlich eher im Ausland bei Katastrophen Hilfestellung leistet, ist aktiv geworden und versucht die Bewohner auch von nicht offiziell anerkannten Ortschaften zumindest mit einer Basisinfrastruktur zum Schutz im Falle von Raketenangriffen zu versorgen, andere wie das Negev Institute for Strategies of Peace and Development (AJEEC-NISPED) liefern ebenfalls wichtige Beiträge für ein solidarischeres Miteinander von jüdischen und beduinischen Israelis. Anderenfalls bleiben die Beduinen, obwohl offiziell israelische Staatsbürger vor allem eines: abgehängt.