Nachdem die internationale Kritik am Vorgehen Israels immer schärfer wird, hat Premier Netanyahu gestern Abend in Abstimmung mit Verteidigungsminister Israel Katz und Außenminister Gideon Sa’ar angewiesen, dass die IDF wieder Hilfslieferungen per Flugzeug abwerfen soll und zudem humanitäre Kampfpausen eingerichtet werden. Die Armee beharrt gleichzeitig darauf, dass es keine Hungersnot in Gaza gäbe und dies eine Kampagne der Hamas sei.
„In Übereinstimmung mit den Anweisungen der politischen Ebene und nach einer heute Abend durchgeführten Lagebeurteilung hat die israelische Armee eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um die humanitäre Hilfe im Gazastreifen zu verbessern und die falsche Behauptung einer vorsätzlichen Hungersnot im Gazastreifen zu widerlegen“, so der IDF-Sprecher. Bereits am späten Abend wurden Hilfslieferungen, v.a. Mehl, Zucker und Konserven, mit Fallschirmen abgeworfen, in den sozialen Netzwerken waren chaotische Szenen in Gaza zu sehen. Die Kritik ist erneut vorprogrammiert.
Um 10 Uhr Ortszeit begann heute die erste Kampfpause, die bis 20 Uhr anhalten soll. Hilfslieferungen werden auch aus Ägypten und Jordanien eingeführt. Zudem werden Korridore eingerichtet, die UN-Konvois und Hilfsorganisationen eine sichere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten ermöglichen. Außerdem wurde eine Stromleitung angeschlossen, die die erneute Inbetriebnahme einer Entsalzungsanlage ermöglicht. Damit wird die Wasserversorgung deutlich verbessert.
Der rechtsextreme Koalitionspartner Netanyahus, Itamar Ben Gvir, schäumte am Morgen. Die Entscheidung wurde ohne ihn, und ohne Bezalel Smootrich getroffen, man wollte ihre Schabbat Ruhe nicht stören. Netanyahu sollte wohl mehr Entscheidungen an einem Schabbat treffen….
In Tel Aviv demonstrierten gestern Zehntausende Menschen für ein Abkommen und ein Ende der Kämpfe, was die verbliebenen 50 Geiseln nach Hause bringt. Auf der Kundgebung am Platz der Entführten sprach erstmals Or Levy, der nach 491 Tagen im Februar frei kam.

„Eine Zahl, die unvorstellbar klingt, und doch war es meine Realität: 491 Tage Hunger, Hilflosigkeit, Angst. 491 Tage, in denen ich jeden Tag darum kämpfte, die Hoffnung nicht zu verlieren“, so Or. „Ich kann euch sagen, was es bedeutet, einen Hunger zu spüren, der nie endet. Was es bedeutet, 24 Stunden am Tag Ketten um die Knöchel zu haben. Was es bedeutet, 50 Meter unter der Erde zu leben, ohne Tageslicht, in ständiger Todesangst. Ich kann versuchen zu erklären – und ihr werdet versuchen zu verstehen – aber die Wahrheit ist, man kann nie wirklich verstehen, was wir dort durchgemacht haben.“
Or Levy betonte, dass die Geiseln den Preis für jede Verhandlungspause, jeden Abbruch der Gespräche bezahlen. „Wir haben es immer wieder gespürt, während wir dort waren, und jedes Mal wurde es härter. Und jetzt, nach 658 Tagen, muss das ein Ende haben.“
Im Anschluss setzte sich ein Demonstrationszug zur US-Botschaft in Bewegung, an dem, angeführt von Familienangehörigen der Geiseln, über 40.000 Menschen teilnahmen.


Vor der US-Botschaft forderten die Familien und Demonstranten erneut ein umfassendes Abkommen, das alle Geiseln nach Hause bringt.
Yotam Cohen, der Bruder von Nimrod Cohen, appellierte: „Herr Präsident Donald Trump, Herr Witkoff, wir stehen wieder hier vor der US-Botschaft in Tel Aviv. Nach einer weiteren langen Woche unaufhörlichen Leidens warten wir erneut sehnsüchtig auf die Unterzeichnung eines Abkommens. Genug ist genug, die Doktrin der ‚Teilabkommen‘ hat sich als wirkungslos erwiesen. Es gibt nur eine Lösung – ein Abkommen; ein umfassendes Abkommen zur Freilassung aller 50 Geiseln und zur Beendigung dieses Krieges. Lasst uns daran arbeiten, dass es klappt!“
„Ich war 498 Tage in Hamas-Gefangenschaft. Seit meiner Rückkehr sind fünf Monate vergangen. Ich wurde im Rahmen eines Abkommens freigelassen – und nur ein Abkommen kann die 50 Geiseln zurückbringen, die nach 659 Tagen immer noch in der Hölle leben“, sagte Iair Horn, der seinen Bruder Eitan in einem Tunnel in Gaza zurücklassen musste. „Unten in den Tunneln, wo man Explosionen hört und um sein Leben rennt, wo das Wasser salzig und das Essen knapp ist.“

Seit seiner Rückkehr lebe er mit Schuldgefühlen, „gefangen im selben Albtraum, Tag für Tag. Ich bin immer noch eine Geisel in Gaza, solange mein Bruder Eitan und die 49 anderen Geiseln nicht nach Hause gekommen sind.“
An Premierminister Netanjahu und US-Präsident Trump gerichtet sagte Iair: „Ich wurde im Rahmen eines gescheiterten Teilabkommens zurückgebracht. Wir haben keine Zeit für weitere Teilabkommen. Mein Bruder hat keine Zeit für weitere Teilabkommen. Es ist Zeit, über ein umfassendes Abkommen zu sprechen – eines, das alle nach Hause bringt und die Kämpfe beendet.“
Israel und die USA hatten vergangene Woche ihre Verhandlungsteams aus Doha zurückberufen, nachdem Hamas dem Vorschlag von US-Sondergesandten Witkoff mit weitreichenderen Zugeständnissen Israels nicht zugestimmt hatte. (al)