Am 13. Juni 2025 wurde im Kölner E-Werk der Deutsche Jazzpreis verliehen. Der dortige Fokus auf Identitätspolitik und selbstproklamierte Vielfalt hatte, wie aktuell bei vielen Kulturveranstaltungen, eine deutliche antisemitische Schlagseite. In ihrem Bemühen, vermeintlich allen gerecht zu werden, stellten sich die Veranstalter auf die Seite der aktivistischen Künstler. Deren Statements hatten nichts mit dem politischen Kern des Jazz zu tun. Für kritische, jüdische oder israelsolidarische Stimmen blieb kein Raum.
Von Shari Vessel
“Auf dieser Bühne sind heute viele, viele auch starke Statements gemacht worden und wir wollen nochmal ganz kurz festhalten: Diese Bühne steht für künstlerische Freiheit, für Meinungsvielfalt, beides ist essentiell für den Jazz und für unsere Gesellschaft. Wir stehen solidarisch auf der Seite aller zivilen Opfer dieses Konflikts, auch der israelischen Geiseln. Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza und darüber hinaus ist schrecklich und bewegt uns sehr. Heute feiern wir den Jazz, wir feiern seine Akteurinnen, ihre Kreativität, ihre Haltung, ihre Musik. Lasst uns gemeinsam diesen Raum schützen, in dem Vielfalt, Respekt und künstlerische Freiheit ihren Platz haben.”
Wer solch ausschweifende Worte zum Abschluss einer internationalen und medial groß inszenierten kulturpolitischen Veranstaltung wählt, muss es sich gefallen lassen, am eigenen Maßstab gemessen zu werden.
Worte voller Selbstlob, Friedensbewegtheit und Willen zum Dialog, die sich gegen Kritik abschirmen.
Jazz ist politisch, immer schon, und heute, in Zeiten von Identitätspolitik und selbsternanntem Antirassismus in Teilen der Gesellschaft, zu denen sich auch das Kunst- und Kulturmilieu zählt, sowieso. Man kann die Veranstalter des diesjährigen Deutschen Jazzpreises und die musikalischen Akteure, denen sie eine Bühne boten, also beim Wort nehmen.
In Unterhemd, Jogginghose und Badelatschen, mit weißen Augenbinden und zugeklebten Mündern präsentierten sich die zentralen Akteure des Abends, das Berliner Kollektiv Sonic Interventions. Eine Band, die die volle Aufmerksamkeit und Anerkennung für ihre aktivistisch motivierte Musik bekam: den ersten Live-Auftritt (samt durchs Publikum wirbelndem Tänzer), den Jazzpreis in der Kategorie Newcomer, zwei weitere Nominierungen, den tosenden Applaus des Publikums und das überschwängliche Lob des Laudators als “offen, visionär und kraftvoll”.
Abgesehen davon, dass sonst niemand auch nur zweimal nominiert worden war, fiel vor allem eins auf: die absolute Selbstverständlichkeit dieser Inszenierung. Niemand kommentierte den Auftritt, bei dem sich eine Sängerin in Presseweste mit Deklamationen über Manipulation, Deportation und Revolution in Szene setzte; niemand kommentierte die Preisrede, in der ein angebliches Mundtotmachen angeprangert wurde, das bewusst unkonkret blieb, in der Jazz als Befreiung aus allen gesellschaftlichen Ketten gepriesen und verklärend auf die aktuelle politische Lage projiziert wurde; niemand kommentierte die geäußerte Relativierung und Instrumentalisierung des Holocaust: “In this time, in this country, there is a type of silence that only grows where the truth is inconvenient, and we all know where this silence leads to, on this soil.”
Natürlich wusste jeder, wovon hier die Rede war, auch ohne, dass der arabisch-israelische Konflikt, der aktuelle Krieg und ihre Folgen auch auf westlichen Straßen beim Namen genannt wurden.
Mehrere Nominierte hatten vorab angekündigt, man werde während der Verleihung Aktionen durchführen, um gegen die Veranstalter und deren Unterstützung eines vermeintlichen Genozids und Sprechverbots zu protestieren.
Wo bleibt da die Konsequenz? Warum lehnten Sonic Interventions in ihrer selbsternannten Rolle als Underdogs dann nicht ihren Preis ab?
Die Sängerin Sera Kalo subsumierte in ihrer Preisrede sämtliche Krisen und Kriege unter dem Banner eines künstlerischen Befreiungskampfes: “Music […] is a basic human right many are still fighting for today: in Gaza, Sudan, Afghanistan, Congo, Yemen, Haiti, Ukraine, Syria, and beyond, even L.A.” Israel, das seit bald zwei Jahren beinahe ununterbrochen unter Beschuss steht und seine Existenz an mehreren Fronten verteidigen muss, oder die iranische Bevölkerung fanden bei ihr keine Erwähnung, dafür schloss sie ihren Auftritt mit einem unaufgeregten “free Palestine, thank you and good night”.
Die Schlagzeuger Philo Tsoungui und Ludwig Wandinger hatten ihr Drumset auf der Bühne locker mit einer Kufiya drapiert, während Wandingers Trikot vorne den Schriftzug ‘Palestine’ und hinten eine Karte Israels zeigte. War ihm bewusst, dass erst einige Wochen zuvor aufgrund einer ähnlichen öffentlichen Darstellung Strafanzeige gegen die Linken-Politikerin Ulrike Eifler wegen Volksverhetzung und Belohnung und Billigung von Straftaten erstattet worden war? Und die Kufiya nebenbei – unter anderem – Terrorismus und Antisemitismus verherrlicht und historisch in direkter Verbindung zum Nationalsozialismus steht?
Es scheint keine Rolle zu spielen. Die Unantastbarkeit, in der sich Akteure wie Sonic Interventions, Kalo, Tsoungui und Wandinger wähnen, steht beispielhaft für ein Kunst- und Kulturmilieu, in dessen Welt- und Selbstbild es keine ernstzunehmenden Konsequenzen für das eigene politische Handeln zu geben scheint, weder aus den eigenen Reihen noch von Seiten der Justiz. Ersteres scheint sich im Falle des Deutschen Jazzpreises bislang zu bestätigen.
Man darf annehmen, dass die Veranstalter dieses Welt- und Selbstbild wenn nicht teilen, so doch entschieden verteidigen: künstlerische Selbstbezogenheit und die Überzeugung einer herausgehobenen moralischen Position in der Gesellschaft, postkolonial grundierte Kategorisierungen von Opfer- und Täterschaft, Simplifizierung und Romantisierung von Indigenität. Juden und Israelis sind darin im besten Fall eine Nebenerscheinung, für die das vermeintliche Soll an Solidarität und Schutz bereits erfüllt ist. Warum sonst entschieden sich die Veranstalter dazu, im Schlusswort “ganz kurz fest[zu]halten”, man denke auch an die israelischen Geiseln, nachdem man eine Sammlung an strafrechtlich relevanten Äußerungen und Darstellungen auf der Bühne hatte durchgehen lassen?
Dabei gab es genug Anlässe, der Spaltung durch die erhitzten Gemüter etwas entgegenzusetzen. Die Geschichte kennt zahlreiche Verbindungen und Sympathien zwischen schwarzen Musikern – deren zentrale Rolle für den Jazz bei der diesjährigen Preisverleihung unentwegt betont wurde – und jüdischen Musikern, gewissermaßen als natürliche Verbündete im Angesicht von Leid und Trauer und im Kampf um Selbstbestimmung. Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und George Gershwin kannte im Saal wohl jeder.
“I live in America, we see freedoms being taken away from us and it is so important that we all fight together to keep these freedoms: freedom of expression, freedom of speech, freedom of our bodies and freedom to play the way we want to play as artists.” Es wäre ein Leichtes gewesen, die Kritik, die die in den USA lebende Saxophonistin Ingrid Laubrock an Donald Trumps Innenpolitik übte, auch darauf zu lenken, was in amerikanischen Metropolen mittlerweile zum Alltag geworden ist und unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit oft aggressiv verteidigt wird: Verherrlichung und Verharmlosung von Terrorismus und offener Judenhass bei Massendemonstrationen, in Universitäten und unter Prominenten im kulturellen Milieu. Vorausgesetzt, man betrachtet das als ein reales Problem, als Angriff auf gemeinsame Werte und Lebensvorstellungen, auch abseits des Musikerdaseins.
Und nicht zuletzt hätte man aus vergangenen Erfahrungen, etwa der diesjährigen Berlinale, Schlüsse ziehen und Vorbereitungen treffen können.
“Und jetzt hab ich das dringende Bedürfnis, einmal schalom schalom zu sagen”, bemerkte der Moderator Götz Bühler nach Wandingers und Tsounguis Auftritt auf einmal in den Publikumsjubel hinein. Kommentatoren unter dem YouTube-Livestream finden das “peinlich”, einer schreibt, Bühler spreche nicht für Deutschland.
An der Lebensrealität der Menschen im Nahen Osten ändert diese Selbstbeschäftigung und Selbstbestätigung selbstverständlich nichts, es dürfte sie auch herzlich wenig interessieren. Aber es ist die Wendung nach innen, die eigenen Reihen, die europäischen und westlichen Gesellschaften, die diese Einstellung immer gefährlicher macht. Auch die Empörung darüber hat einen Grad an Normalität erreicht, der droht, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, vor allem, weil sie weniger laut und oft weniger entschieden ist.
Wessen Raum wollen die Veranstalter also schützen? Und welche Meinungsvielfalt meinen sie? Für wen werden solche Worte gesagt?
Wenn die Ignoranz gegenüber der Lebensrealität von Juden und Israelis in der eigenen Gesellschaft und Antisemitismus im eigenen Milieu nicht benannt und mit dem immer gleichen Verweis auf den Ausschluss von Perspektiven anderer Minderheiten rechtfertigt wird; wenn Antisemitismuskritik durch allgemeine gesellschaftliche Wunschvorstellungen verwässert wird und Meinungsvielfalt nur im Rahmen einer vermeintlich pro-palästinensischen Haltung gilt, dann muss dieser Raum nicht geschützt, sondern endlich geöffnet werden – und in erster Linie diejenigen geschützt, die jüdisch oder israelisch sind und sich mit ihnen solidarisch zeigen. Nicht sie sind es, die auch in demokratischen Gesellschaften Andersdenkende ausgrenzen, bedrohen, verprügeln und mittlerweile auch ermorden.
Die Verantwortlichen, ob als Organisatoren oder als Aktivisten, verstärken einen gesellschaftlichen Sog, der meist nach Neutralität verlangt und vom Wunsch nach Frieden und Dialog spricht. Selten geschieht das auf Basis historischer Fakten, oft wird denen gegenüber Verständnis aufgebracht, die mehr spalten als zusammenführen. Wenn Vielfalt und Meinungsfreiheit subjektiv sind, sind sie nichts wert, und ohnehin erst dann, wenn sie (auch justiziable) Grenzüberschreitungen benennen und so gut wie möglich verhindern. Wenigstens aus Gründen der eigenen Glaubwürdigkeit.
Zum Thema:
Der deutsch-palästinensische Jazzpreis 2025
Wie schön wäre ein Jahr ohne einen Antisemitismusskandal in Kunst & Kultur. Und doch hat es nun bedauerlicherweise den Deutschen Jazzpreis erwischt. Ein Eklat ohne Aufschrei.