Ziemlich normale Freunde

0
145
Israels Präsident Herzog und Deutschlands Präsident Steinmeier im Kibbutz Beeri am 27.11.2023, Foto: Haim Zach / Government Press Office of Israel / CC BY-SA 3.0

Im Mai 1965 beschlossen Deutschland und Israel den gegenseitigen Austausch von Botschaftern und machten ihre Kontakte so ganz offiziell. Nur 20 Jahre nach der Schoah sollte das keine Selbstverständlichkeit sein – trotzdem kam man sich näher, als viele zu hoffen wagten.

Von Ralf Balke

Das mit der Normalität ist so eine Sache. Auch 60 Jahre nach Aufnahme der offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel wird immer wieder um die Worte gerungen, das beiderseitige Verhältnis treffend zu umschreiben. Irgendwie scheint man sich dabei in einer Art Zeitschleife zu bewegen. Denn nach wie vor wird gerne auf die Formel von Willy Brandt zurückgegriffen, der im Juni 1973 als erster Bundeskanzler nach Israel gereist war und vor Ort von den „normalen Beziehungen“ mit einem „besonderen Charakter“ sprach. Als Gegner des Nazi-Regimes, der die Jahre vor 1945 im Exil und Widerstand verbracht hatte, verkörperte Willy Brandt das „andere Deutschland“, was ihm den Auftritt in Israel erleichterte – auch wenn die Ostpolitik ihm deutlich näher lag als der Nahe Osten und er die Bitten von Ministerpräsidentin Golda Meir ignorierte, als stiller Vermittler zwischen Jerusalem und Kairo zu agieren.

Dabei gab es von Anfang an eine Art Spannungsfeld zwischen dem „Normalen“ und dem „Besonderen“. So betrachtete Israel 1965 die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen nicht als Schritt hin zu einer „Normalisierung“, sondern eher als Verweis auf eine dauerhafte Verantwortung Deutschlands aufgrund der in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen, die über einen moralischen Ansatz herausgeht und ebenfalls die Sicherheit des jüdischen Staates mit einbezieht. Anders dagegen die Bundesrepublik, die für die Gegenwart und Zukunft auf „Normalität“ setzte.

Ferner existierten zwischen Bonn und Jerusalem bereits seit Jahren Kontakte, und zwar auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene und im Forschungsbereich. Denn bereits 1952 hatte man das Luxemburger Abkommen unterzeichnet, in Deutschland gerne auch „Wiedergutmachungsabkommen“ genannt, wodurch sich die Bundesrepublik verpflichtete, Israel durch Zahlungen und die Lieferung von Investitionsgütern beim Aufbau des Landes zu helfen. Auch Waffen lieferte man bald heimlich.

Dieseltriebzug der Maschinenfabrik Esslingen im alten Bahnhof von Jerusalem, kurz nach der Auslieferung im Rahmen des Reparationsabkommens mit Deutschland, Foto:
Moshe Pridan – National Photo Collection of Israel, ID D535-038

Als das sich aber Anfang der 1960er Jahre herumsprach, machten sich die Verantwortlichen in Bonn über die Auswirkungen dieser militärischen Unterstützung auf die Beziehungen mit den arabischen Staaten Gedanken zu machen. Die sollten bald folgen. Im Februar 1965 tauchte überraschend der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht als Gast von Präsident Gamal Abdel Nasser in Ägypten auf. Die Bundesrepublik reagierte auf den Besuch in der Form, indem man Israel diplomatische Beziehungen anbot.

Die Brüche zwischen dem „Normalen“ und dem „Besonderen“ lassen sich auch an den Biografien der Diplomaten ablesen, die man nach Israel entsendete, so der Historiker und Politikwissenschaftler Daniel Marwecki in seiner Studie über die Beziehungen beider Länder. So war Rolf Pauls, Deutschlands erster Botschafter vor Ort, zwar ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, die Tatsache, dass er danach Bonns Botschafter in Washington und Beijing war, verweise aber auf die enorme Bedeutung, die man dem Posten in Tel Aviv zusprach, weshalb dort nur Top-Diplomaten an der Spitze eingesetzt wurden. Anders dagegen der Stellvertreter von Rolf Pauls an der Botschaft in Tel Aviv, und zwar der aus Ungarn stammende Alexander Török, dem eine Nähe zu den faschistischen Pfeilkreuzlern nachgesagt wurde – seine Ernennung stehe durchaus für die im Auswärtigen Amt vorherrschende Ignoranz gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit mancher Mitarbeiter.

Der deutsche Botschafter Rolf Pauls (l.) vor Reportern nach seiner Ankunft am Flughafen Lod, Foto: Moshe Pridan – National Photo Collection of Israel, ID D804-079

Seither hat sich in dem Verhältnis zwischen beiden Ländern viel verändert – oder auch nicht. Eine Kontinuität ist auf jeden Fall die Bedeutung als wichtiger Partner Israels im Außenhandel. Seit den 1960er Jahren rangiert Deutschland stetig unter den Top Drei, aktuell hinter China und den Vereinigten Staaten. Obwohl der Wert der nach Israel gelieferten Waren und Dienstleistungen ständig zulegte, und zwar von 1,3 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf zuletzt 5,3 Milliarden Euro, waren es in den vergangenen Jahren nie mehr als 0,4 oder 0,5 Prozent aller deutschen Exporte. Umgekehrt gab es ebenfalls ein kontinuierliches Wachstum, aber auf deutlich niedrigerem Niveau. So hatten die Importe aus Israel 1990 einen Wert von 0,8 Milliarden Euro, 2024 sollten es drei Milliarden Euro sein. „Der Handel und die ausländischen Direktinvestitionen zwischen den beiden Ländern mögen gering sein, aber für den Technologietransfer und die Zusammenarbeit in der naturwissenschaftlich-physikalischen Forschung ist Israel extrem wichtig, und das schon seit den 1960er Jahren“, kommentiert Rolf Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) gegenüber der Deutschen Welle diese Zahlen.

Was ebenfalls über Jahre galt: Die deutsch-israelischen Beziehungen hielten für deutsche Politiker so manche Fallstricke bereit. Zugleich liefern sie viel Aufschlussreiches über den Umgang mit der Vergangenheit oder ihrer Instrumentalisierung, und das gelegentlich auf beiden Seiten. So sorgte beispielsweise das Bekanntwerden des Vorhabens der Bundesregierung, Leopard-2-Panzer an Saudi-Arabien zu verkaufen, 1981 für einen absoluten Tiefpunkt im Verhältnis. Israel war nämlich von dem Waffendeal überhaupt nicht begeistert, schließlich befand man sich mit dem Wüstenkönigreich offiziell im Kriegszustand. Was folgte, war ein verbaler Schlagabtausch auf höchster Ebene. Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichnete Israels Ministerpräsident Menachem Begin als „eine Gefahr für den Frieden“. Für ihn käme ein Staatsbesuch in Israel nicht infrage, weil er nicht „als wandelnde Aktion Sühnezeichen“ unterwegs sein wolle. Menachem Begin revanchierte sich in der Form, in dem er sagte, Helmut Schmidt habe „nie seinen Treueeid auf seinen Führer Adolf Hitler gebrochen“.

Einen Klassiker lieferte ebenfalls Helmut Kohl. Im Vorfeld seines für 1983 geplanten Besuchs in Israel sprach er von der „Gnade der späten Geburt“, womit der Bundeskanzler die Generation der nach 1930 Geborenen, also sich selbst, meinte, die keine Schuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten tragen würde. Und die Wiedervereinigung im Zuge des Mauerfalls von 1989 sollte in Israel erst einmal Ängste vor einem erstarkten Deutschland wecken, denen es zu begegnen galt, was nicht ganz einfach war. Denn erst einmal brach 1991 der Golfkrieg aus. Israel wurde dabei mehrfach mit irakischen Scud-Raketen beschossen. Weil zeitgleich bekannt wurde, dass deutsche Firmen Bagdad bei der Produktion chemischer Waffen geholfen hatten, geriet die Bundesregierung außenpolitisch unter Druck. Daraufhin sicherte man Israel Militärhilfe zu, darunter drei U-Boote der Dolphin-Klasse. Die ersten beiden bezahlt Deutschland, das dritte wird gemeinsam finanziert. Während der Amtszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder wird der Bau dreier weiter U-Boote für Israel genehmigt.

2008 gab es ebenfalls eine Äußerung, die Geschichte machen sollte. So sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset von Sicherheit Israels, die „niemals verhandelbar“ sei, als „Staatsräson meines Landes“. Auch wenn es viele Fragen zu diesem Teil ihrer Rede in Jerusalem gibt, beispielsweise was das im militärischen Ernstfall für Deutschland konkret bedeuten könnte, hinterließ dieser Satz einen bleibenden Eindruck und verweist darauf, wie nahe sich beide Länder mittlerweile gekommen waren.

Unterstrichen wird dies ebenfalls durch die Tatsache, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Amtszeit achtmal nach Israel gereist ist – häufiger als alle ihre Vorgänger zusammen. Und auch Bundeskanzler Olaf Scholz war mehrfach bereits vor Ort, allein nach dem 7. Oktober zweimal. In seiner Regierungszeit fällt ebenso etwas Spektakuläres, und zwar die Unterzeichnung eines Waffendeals im Wert von 3,6 Milliarden Euro im September 2023. Nun ist es Israel, das für die Sicherheit Deutschland sorgt. Denn das dort entwickelte Raketenabwehrsystem Arrow-3 ist das modernste seiner Art und soll Schutz vor einer möglichen Bedrohung aus Russland ermöglichen.

Die Entwicklungen nach der Jahrtausendwende haben deshalb eine deutliche Veränderung in den israelischen Einstellungen gegenüber Deutschland mit sich gebracht. Das jedenfalls belegt das HU-EF-Barometer, ein Projekt des DAAD Center for German Studies des European Forum an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Demnach bejahten 1992 57 Prozent der befragten jüdischen Israelis folgende Aussage: „Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland können als normale Beziehungen zwischen zwei Ländern definiert werden.“ Dieser Wert stieg bis 2011 peu à peu auf 89 Prozent. Zwar liegen aus den 2010er Jahren keine Angaben vor, sondern erst wieder für 2022 und 2024. „Der Wert ist auf 70 Prozent gesunken und hat sich auf diesem Level eingependelt“, so Professor Gisela Dachs, der Leiterin des Projekts. Erklärungen scheint es einige zu geben „Der Aufstieg der AfD oder die Probleme, die seit 2015 durch die Migration entstanden sind, werden in Israel durchaus zur Kenntnis genommen und als problematisch rezipiert.“ Zugleich decken sich die Angaben mit denen zu der Aussage, ob es mittlerweile ein „anderes Deutschland“ gäbe. 1992 zeigten sich 52 Prozent der jüdischen Israelis davon überzeugt – ein Wert, der bis 2011 auf 83 Prozent ansteigt, um sich dann 2022 auf 78 Prozent und 2024 auf 75 Prozent wieder leicht abzuschwächen. Auch zeigt sich eine Diskrepanz in den gegenseitigen Wahrnehmungen. Denn gerade einmal 33 Prozent der im Rahmen der Studie in Deutschland befragten Personen betrachten die deutsch-israelischen Beziehungen als etwas „normales“. Das Fazit laut Gisela Dachs daher: „Deutschland wird in Israel um einiges positiver gesehen als umgekehrt.“ Ob das so bleibt, weil das Israel gegenüber recht unfreundliche Abstimmungsverhalten Berlins bei den Vereinten Nationen oder die vielen Proteste in Deutschlands gegen den Krieg im Gazastreifen Spuren in Israel hinterlassen haben, werden wohl erst kommende Analysen zeigen.